Gesammelte Werke von Guy de Maupassant. Guy de Maupassant
wollte ihn nicht wiedersehen. In der Tiefe dort vor ihr hörte sie jetzt ein leises Geräusch, das dumpfe Branden des Meeres an die Felsen.
Sie richtete sich auf, entschlossen, sich hinunter zu stürzen, indem sie vom Leben Abschied nahm wie die Verzweifelten, und seufzend rief sie das letzte Wort der Sterbenden, das letzte Wort der jungen Krieger, die in der Schlacht fallen:
– Mutter!
Plötzlich dachte sie an Mutting, sie sah, wie sie schluchzte, sie sah ihren Vater vor ihrer zerschmetterten Leiche knieen, und in einer Sekunde durchlitt sie alle Verzweiflungsqualen ihrer Eltern.
Da fiel sie weich in den Schnee zurück, und als Julius und der alte Simon, von Marius gefolgt, der eine Laterne hielt, sie bei den Armen packten und sie zurückrissen, weil sie so nahe am Abgrunde lag, da wehrte sie sich nicht mehr.
Sie machten mit ihr was sie wollten, denn sie konnte sich nicht mehr bewegen; sie fühlte, daß man sie trug, dann, daß man sie zu Bett brachte und sie mit heißen Tüchern abrieb. Darauf versank alle Erinnerung, sie verlor die Besinnung. Dann quälte sie ein Traum. War es ein Traum? Sie lag in ihrem Zimmer, es war heller, lichter Tag, aber sie konnte sich nicht erheben. Warum? Sie wußte es nicht. Da hörte sie auf dem Boden etwas wie ein Kratzen, ein Rascheln, und plötzlich huschte eine kleine, graue Maus schnell über ihre Bettdecke, eine andere folgte sofort, dann eine dritte, die mit ihren eiligen, trippelnden Schrittchen ihr bis zur Brust hinauf lief.
Johanna hatte keine Angst, aber sie wollte das Tier packen und streckte die Hand aus. Es gelang ihr nicht.
Da tauchten plötzlich von allen Seiten Mäuse auf, zehn, zwanzig, hundert, Tausende, Millionen. Sie kletterten in ganzen Kolonnen empor, liefen über die Wände, bedeckten völlig das Bett, mit schwärzlichem Gewimmel, und endlich drangen sie unter die Decke. Johanna fühlte, wie sie über ihre Haut glitten, wie sie ihr an den Beinen krabbelten und längs ihres Körpers auf-und abliefen. Sie sah, wie sie vom Fußende des Bettes herauf kamen, um sich auf ihre Brust zu stürzen, und sie wehrte sich, griff mit den Händen vor sich hin, sie zu packen, doch, wenn sie die Finger schloß, waren sie immer leer.
Sie war verzweifelt, wollte fliehen, schreien und es schien ihr, als hielte man sie fest, als umfingen und bändigten sie kräftige Arme, aber sie sah niemand.
Sie hatte keinen Begriff von der Zeit, es mußte lange, sehr lange dauern. Dann erwachte sie müde, aber es war doch schön. Sie fühlte sich schwach, entsetzlich schwach. Sie öffnete die Augen und wunderte sich nicht, daß Mutting im Zimmer saß mit einem dicken Herrn, den sie nicht kannte.
Wie alt war sie? Sie wußte es nicht. Sie dachte, sie sei immer noch ein ganz kleines Mädchen, alle und jede Erinnerung war ihr entschwunden.
Der dicke Mann sagte:
– Da, sie kommt wieder zur Besinnung! Und Mutting fing an zu weinen, dann sagte der dicke Mann:
– Beruhigen Sie sich doch, Frau Baronin, ich kann Ihnen sagen, jetzt stehe ich dafür, aber Sie dürfen ihr von nichts sprechen, von nichts, sie soll schlafen.
Und es schien Johanna, als lebte sie noch lange so im Schlaf, befangen von einem tiefen Schlummer, ohne daß sie versuchte nachzudenken. Sie versuchte auch nicht, sich an irgend etwas zu erinnern, als ob sie eine unbestimmte Angst hätte, daß die Wirklichkeit ihr zum Bewußtsein käme.
Da bemerkte sie einmal, als sie aufwachte, wie Julius ganz allein bei ihr saß. Plötzlich kam ihr die ganze Erinnerung, als hätte ein Vorhang sich geöffnet, der ihr verflossenes Leben verhüllt.
Sie empfand einen entsetzlichen Stich im Herzen und wollte wieder fliehen. Sie warf die Decke von sich, sprang aus dem Bett und fiel, denn ihre Füße konnten sie nicht tragen.
Julius wollte ihr zu Hilfe kommen. Sie brüllte laut, daß er sie nicht berühren sollte, sie wand sich, rollte sich; die Thür ging auf. Tante Lieschen kam gestürzt mit der Witwe Dentu, darauf der Baron und endlich erschien, erschrocken, außer Atem, Mutting.
Man legte sie wieder hin, und sofort schloß sie absichtlich die Augen, um nachdenken zu können und nicht sprechen zu müssen. Die Mutter und die Tante pflegten sie, bemühten sich um sie und fragten:
– Hörst Du uns? Johanna, meine kleine, arme Johanna! Sie stellte sich taub und antwortete nicht; aber sie bemerkte sehr gut, daß der Tag sich neigte. Die Nacht brach herein. Die Wärterin setzte sich zu ihr und gab ihr ab und zu zu trinken.
Sie trank, ohne ein Wort zu sagen, aber sie schlief nicht mehr. Das Denken ward ihr sauer, sie suchte mühsam sich an die Dinge zu erinnern, die ihr entfallen waren, als wäre ein Loch in ihrem Gedächtnis, leere, weiße Stellen, wo die Ereignisse nicht aufgeschrieben standen.
Allmählich, nach langer Anstrengung, entsann sie sich wieder alles dessen, was geschehen war, und dachte ohne Unterlaß darüber nach.
Mutting, Tante Lieschen und der Baron waren gekommen, sie war also sehr krank gewesen. Aber Julius! Was mochte er gesagt haben? Wußten ihre Eltern etwas? Und wo war Rosalie? Und was sollte sie thun, was sollte sie thun?
Ein Gedanke kam ihr, sie wollte mit Papa und Mama noch Rouen zurückkehren, wie früher. Sie würde eben Witwe sein. Das war alles.
Da wartete sie und hörte zu, was man um sie herum sprach. Sie verstand alles, aber ließ es sich nicht merken, und nutzte die Rückkehr des Verständnisses geduldig und geschickt aus.
Endlich abends war sie allein mit der Baronin und rief ganz leise:
– Mutting!
Die eigne Stimme erschreckte sie, klang ihr ganz fremd. Die Baronin nahm sie bei den Händm:
– Mein Kind, meine liebe Johanna, mein Töchterchen erkennst Du mich jetzt?
– Ja, Mutting, Du mußt nicht weinen. Wir müssen lange mit einander sprechen. Hat Dir Julius gesagt, warum ich in den Schnee hinaus gelaufen bin?
– Ja, mein Kind, Du hast ein starkes, sehr gefährliches Fieber gehabt.
– Mama, das ist es nicht, das Fieber habe ich später gekriegt, aber hat er Dir gesagt, warum ich das Fieber bekommen habe und warum ich fortgelaufen bin?
– Nein, mein Kind!
– Weil ich Rosalie bei ihm gefunden habe.
Die Baronin dachte, sie spräche noch im Delirium und sagte schmeichelnd:
– Schlaf doch, Kindchen, beruhige Dich, versuche zu schlafen.
Aber Johanna begann beharrlich von neuem:
– Ich bin ganz bei Verstände, Mama. Ich rede keinen Unsinn, wie ich wahrscheinlich die letzten Tage gethan habe. Ich fühlte mich eines Nachts so krank, da wollte ich Julius holen und habe Rosalie bei ihm im Bett gefunden. Da habe ich in der Verzweiflung den Kopf verloren und bin in den Schnee hinaus gelaufen, um mich von den Felsen hinunter zu stürzen.
Aber die Baronin wiederholte:
– Ja mein Kindchen, Du bist sehr krank gewesen, sehr krank.
– Nein Mama, das ist es nicht! Ich habe Rosalie bei ihm im Bett gefunden und will nicht mehr bei ihm bleiben. Du mußt mich nach Rouen wieder mitnehmen wie früher.
Die Baronin, der der Arzt anempfohlen hatte, Johanna nicht zu widersprechen, wiederholte:
– Ja, mein Kindchen!
Aber die Kranke wurde ungeduldig: –Ich merke schon, Du glaubst mir nicht. Hole doch mal Papa, der wird mir schon glauben.
Und Mutting stand mühsam auf, nahm ihre beiden Stöcke und ging hinaus, ihren Fuß nachschleppend. Nach ein paar Minuten kam sie mit dem Baron zurück, der sie führte.
Sie setzten sich ans Bett, und Johanna begann sofort. Sie erzählte langsam mit matter Stimme, aber ganz klar, von Julius, von seiner Härte, von seinem Geiz und endlich von seiner Untreue.
Als sie fertig war, merkte der Baron wohl, daß sie nicht im Delirium gesprochen, aber er wußte nicht, was er denken, sollte, nicht was er thun und ihr antworten sollte.
Er