Weihnachts-Klassiker für alle Generationen: 280 Romane, Sagen, Märchen & Gedichte. Martin Luther
»Harro, Prinzeß ist wieder lieb und wird jetzt ihre Milch trinken, und dann geht sie zu Bett. Gehen Sie einstweilen hinüber, Harro, ich komme nach.«
Harro geht hinüber und wandelt zwischen den Säulen hin und her, die ihre lächerlichen Höschen verloren haben. Er betrachtet die Stuckdecke und pfeift leise; drüben ist er sich recht überflüssig vorgekommen. Die halbierte Decke ist aber sehr interessant. Lauter weinende Engel, Sanduhren, dicke Blumengirlanden. Besonders ein fettsüchtiges Engelein mit langen Locken weint herzbrechend und benützt sogar ein Taschentuch dabei.
Was für ein tränenreiches Volk da oben, denkt er ... da ist zu viel geweint worden in den alten Mauern und da ist wohl etwas an den Wänden hängen geblieben. Am Ende ist es gut, wenn nicht alle alten Mauern gar so lange stehen bleiben.
Endlich kommt Frau von Hardenstein. »Ich habe Sie lange warten lassen. Studieren Sie die betrübte Gesellschaft da oben? Ich wunderte mich auch schon darüber. Es ist ein wunderliches Haus, und die Höschen um die Säulen nehme ich meinen Vorgängerinnen nicht mehr übel. Also Harro, der ganze Schmerz galt Ihnen.«
»So.«
»Ach Harro, die Sache ist traurig, und das Engelein da droben mit seinem Tränentüchlein hat viel Schicklichkeitsgefühl. Haben Sie sich nicht über die Geschichten verwundert, über die Frau, die die Treppe herunter ging, bis mitten in die Erde?«
»Und das Kräutlein Nimmerfroh und Vöglein Niemalswieder,« sagte Harro. »Es ist ein Dichtkind.«
»O Harro, wie sie das erzählte, mit dem hohen feinen Stimmchen, das einen Klang nach Saiten hat, – Gott, poetisch bin ich nicht – so, wie das klang – Niemals wieder. Ich mußte hinaus zu meinem eigenen Niemalswieder.«
Sie nahm ein Bild von ihrem Tisch und legte es vor sich hin.
»Harro, dies Zimmer muß einmal eine Totenkapelle gewesen sein, doch das gehört nicht hierher. Aber wie soll ich's nur beschreiben, etwas, wofür es keine Worte gibt. Ich fühlte – deutlicher kann ich's nicht sagen – eine sanfte Nähe. Es wurde mir ganz feierlich und leicht. Warum soll ich nicht in einer Totenkapelle wohnen, wenn mein Herz eine ist! – Ja, und dann kam ich wieder heraus. Inzwischen muß die Kleine hereingesehen haben. Verlangen Sie nicht, daß ich Ihnen wiederhole, was sie mir gesagt hat. Ich war doch nicht allein.«
Einen Augenblick herrscht tiefes Schweigen in der Stube, aus der die Schatten nie weichen, in der immer, glänzt die Sonne auch noch so schön, zwei dunkle Schattenbalken liegen – dann sagt Frau Mutter energisch:
»Genug von mir. Nur noch dies. Ich bleibe hier, bis sie mich hinauswerfen oder meine Aufgabe zu Ende ist. Sehen Sie, lieber Harro, wie alles zusammenpaßt, die Stube, das Kind und ich. Sie wissen ja, daß ich keinem eine Stunde unnötig verderbe, aber der Schatten ist da. Entweder ist das Kind, das die Seelen der Abgeschiedenen herummandeln sieht, ein Todgeweihtes, oder ein armes Unglückliches, dem etwas anhaftet, was es für die meisten Menschen unheimlich macht. Sahen Sie nicht, wie sie blaß wurde, wie ihre Augen sich veränderten? Und Sie sollen nicht sagen: »Weiter, Seelchen.« Ich entsetzte mich darüber. Man darf das Kind nicht dabei auch noch ermutigen.«
Harro rief: »Das feine Dichtwerk – alles zuschütten – ist das nicht ein Unrecht?«
»Wenn Sie sie gehört hätten, Harro! Sie will nicht mehr mit uns leben, und sie will zu den andern, denen mit leichten Füßen – –. Ach, lassen Sie mein armes Verwunschenes. Glauben Sie mir, wenn Sie helfen wollen, das Kind tüchtig zum Leben zu machen, so dürfen wir das Geranke nicht wuchern lassen.«
»Ich ordne mich unter Ihre Weisheit, Frau Mutter. Ich bin auch bereit, dem Seelchen zu sagen, daß ich ihr Unrecht getan, und daß ich mit dem Denken vorsichtig sein will, gesagt habe ich nichts.«
»Eher wird sie nicht zufrieden sein, Harro!«
Fünftes Kapitel.
Wie man Feste feiert
Ein ganz blauer Himmel, die Tauben sonnen sich auf der Mauer, zwischen Steinquadern gucken die ersten gelben Hungerblümchen. Märt hat den Hof gekehrt, als ob Inspektion wäre. Ein Strauß Schneeglöckchen, kleine verschüchterte Kammermägdlein des Frühlings, stehen auf dem Fensterbrett im Salon. Blitzblank ist der Teekessel, alle Tapetenrollen verschwunden – die Ruine bekommt Damenbesuch. Der Wagen rollt heran, und Harro hebt seine kleine Dame heraus. Ihre Augen strahlen, sieht sie doch zum erstenmal die Ruine, wo ihre Gedanken nun täglich wohnen. »O Harro, dein Brunnen! Einen wundervollen grünen Samtmantel hat er an. O Harro, sag ihm, er soll singen!«
Harro zieht eine Mundharmonika heraus, auf der er in äußerst kunstloser Weise bläst: »Wer hat dich, du schöner Wald.« Und der Brunnen macht ein feines Tongemälde daraus, einige Töne läßt er aus, an anderen klingelt er herum wie Elfenfinger an einem silbernen Saitenspiel!
»Oh, der wunderbare Brunnen! Und dort wohnt der Kaliban.«
Frau von Hardenstein sitzt auf einem Stuhl, den ihr Harro herausgetragen hat. Sie sieht mit andern Augen als das Seelchen die Ruine an. Die hohen Mauern, der finstere Bergfried, Harros aus einem Schuttberg hervorglänzende Fenster.
Endlich sind die Genüsse im Hofe erschöpft, und es geht ins Zimmer. Das Seelchen wird aus ihrem Mantel geschält und taucht ihr Näschen in das Schneeglockensträußchen.
»Es riecht so herrlich bei dir, Harro.«
»So, ich denke nach Terpentin und Lappen.«
»Nein, nach diesem.«
In hohen Krügen stehen frische Tannenzweige, manche mit den schweren Zapfen daran.
»Ah, die Dekoration! Die hole ich mir jede Woche. Etwas muß man doch von seinem Wald haben. Frau von Hardenstein. Ihnen gehört der Amerikaner, für dich, Seelchen, hat der Märt ein Stühlchen gemacht, ausgemessen für deine Größe, und rot angestrichen ist es auch!«
Seelchen muß es ausprobieren und wieder herunterhüpfen und ihre Entdeckungsreise machen. Ist es möglich, daß einige Wochen das Kind so verändert haben. Und wie wird es erst werden, wenn der Frühling kommt! Harro ist heute in strahlender Laune. Das Seelchen steckt ihm ein Schneeglöckchen an seine ganz neu aussehende Joppe, und dann machen sie Pläne, der feine Duft der Schneeglöckchen muß sie hergerufen haben. Wie das Seelchen auf dem Lindenstamm wohnen wird, wenn die Linde grün ist. Und an der Bastei, da wird sie eine Überraschung erleben. Es ist zwischen den Steinplatten eine Schnur mit einer Öse. Die Öse hält ein Pflock zwischen dem Efeu. Nun, das Seelchen kann es morgen probieren, es hilft ja nicht immer, man zieht zuweilen vergeblich daran, es gibt aber auch wunderbare Fischzüge. Vom ersten April an muß das Seelchen täglich nachsehen, und wenn es am wenigsten daran denkt, wird an der Schnur ein blühender Schlehenzweig hängen, dann wird das Frühlingsfest gefeiert. Auch wenn's schneit. Und wie das gefeiert wird?
Man steckt den Zweig ins Wasser und macht die Augen zu, dann kommt der Duft über einen, zuerst ganz fein und leise, und dann ist man auf einmal auf einer blühenden Halde, wo alles weiß ist über grauem Stein. Das zweite Frühlingsfest wird aber draußen gefeiert. Das Zeichen ist ein frisch grüner Buchenzweig mit einem Schlüsselblumensträußchen. Da geht man den Reitweg zur Römerwiese. Da öffnet sich ein Waldweg, grün vergrast ist er. Tannen strecken ihre langen Arme darüber, und dazwischen stehen in ihren Festkleidern lichtgrüne Buchen. Der Sonnenschein liegt auf dem Weg in großen goldenen Flecken, und ein Schmetterling, ein Schwalbenschwanz fliegt langsam den Weg herunter, wie eine selige Seele auf dem Himmelsweg. Und ein Maiblumenfest gibt's, wo man in die lichten Eichen geht und dicke Sträuße nach Haus bringt. Und ein Sommerfest. Da ist das Feld golden, und man muß einen Weg gehen, wo die Ähren einem über dem Kopf zusammenschlagen. Ehe man den Weg nicht gefunden hat, der jedes Jahr wo anders ist, kann das Sommerfest nicht sein. Roter Mohn und blaue Kornblumen und steife purpurne Raden, die sich nicht mit den andern Blumen vertragen und immer einen Strauß für sich wollen, blühen darin. Das Seelchen trägt einen Kornblumenkranz. Man geht zu dem heimlichen Ort, wo man nichts sieht als Ährengold