Gesammelte Werke: Science-Fiction-Romane + Abenteuerromane + Erzählungen. Dominik Hans
Der Brand der Cheopspyramide
Von der großen Uhr her drei helle Schläge. Ein Viertel vor elf… die Londoner Börse eröffnet. Die Makler für Kohlenwerte und Kraftwerkshares traten auf ihren gewohnten Plätzen zusammen, fingen an, ihre Orders zu vergleichen und die ersten Kurse festzusetzen.
Nichts Besonderes. Der Markt versprach nicht anders zu werden wie an den vorangegangenen Tagen.
Plötzlich an einer Stelle ein Makler, große Verkaufsaufträge in Kohlen- und Kraftwerten… unmittelbar danach an einer anderen Stelle ein zweiter… dem folgend ein dritter. Und dann mit einem Schlage bei allen Maklern ein riesenhaftes Angebot in diesen Papieren. Eine ungeheure Aufregung im Raum. Tausend Stimmen durcheinander… Ein Börsenmanöver? Baisse!… Ein Coup von nie dagewesenen Ausmaßen?! Baisse? Auf den ersten Blick schien es so… Hausse? Vielleicht die im Hintergrunde? Von wem ging das Manöver aus?…
Rätsel. Alle möglichen Vermutungen wurden laut, keiner, der etwas Bestimmtes zu wissen schien.
Die Kurse der Kraft- und Kohlenwerte fingen an zu sinken… Sanken immer mehr, je stärker die weiteren Verkaufsorders drückten. Die Makler standen in dem Gedränge der Börsenbesucher wie in einem Strudel. Anderthalb Millionen Shares waren schon umgesetzt, die Kurse teils bis zu 40 Prozent gewichen.
Da plötzlich begann bei einem Makler… dann bei einem zweiten… bei einem dritten der Kursstand sich zu halten, zu heben. Im Nu war es in den weiten Börsensälen bekannt.
»Eine Hausse! Nichts anderes steckt dahinter!« Einer hatte es geschrien.
Die Kurse stiegen, stiegen immer weiter. Telegramme jetzt von den anderen Börsenplätzen, von Berlin, Paris, Petersburg. Überall die gleichen Erscheinungen.
Jetzt wurden den Maklern die Verkaufsorders fast aus den Händen gerissen. Sensation! Der alte Kursstand wieder erreicht. Ein Taumel hatte die Börsenbesucher ergriffen. Höher, immer höher gingen die Kurse.
1 Uhr 43 Minuten: »Elias Montgomery gestorben!…« Ein Schrei aus dem Telegrafenzimmer.
Sekundenlange Stille… Die Stille vor dem Sturm. Dann brach das Unwetter los. Wie auf ein gegebenes Zeichen stürmte alles auf die Makler zu. Verkaufen!… Verkaufen!
Eingekeilt in die sich wütend drängenden Massen die Makler… unfähig, sich zu rühren, die Orders entgegenzunehmen. Der weite Raum ein Anblick, als ob diese Tausende plötzlich in Tobsucht verfallen seien. Man schrie auf die Makler ein, zerrte, stieß sie. Jeder wollte der erste sein, der seine Orders an den Mann brachte. Heiser, mit verzweifeltem Angstgeheul brüllte alles durcheinander. Die Hintenstehenden, die nicht zu den Maklern durchdringen konnten, schwangen in wahnsinniger Wut ihre Verkaufszettel in der Luft… eine Katastrophe, wie sie die Londoner Börse seit ihrem Bestehen noch nicht erlebt…
Wieder drei Schläge der großen Uhr. Börsenschluß. Das Schreien und Toben war schwächer geworden. Nur hier und da noch ein Angebot. Fluchtartig hatten die meisten die Börse verlassen. Kaum einer, der nicht Tausende oder alles verloren hatte.
Elias Montgomery gestorben! In den Straßen aller Hauptstädte der Welt schrien die Verkäufer die Extrablätter aus, brüllten die Lautsprecher von den Dächern der Zeitungspaläste und Hotels die Worte wieder und immer wieder in die Ohren der Passantenmassen. Überall bildeten sich Gruppen, die in lebhaftester Unterhaltung das Ereignis besprachen.
Elias Montgomery gestorben! Von Mund zu Mund gingen die drei Worte. Der Name… kaum ein Bewohner der zivilisierten Welt, der ihn nicht kannte. Schon bei seinen Lebzeiten ein Sagenkreis um ihn. Elias Montgomery, der große Erfinder, dem es gelungen, das Problem der Atomenergie zu lösen.
Die Atomenergie, jene riesenhafte, über alle Vorstellungen gewaltige Energiequelle… schon seit Jahrzehnten das höchste Ziel der Erfinder in allen Kulturstaaten der Welt. Elias Montgomery hatte das Problem gelöst, mußte es gelöst haben. Schon seit Jahren waren die Beweise dafür unbestreitbar. Freilich, er selbst hatte niemals das Geringste über seine Erfindung veröffentlicht oder auch nur im Gespräch mit anderen offenbart. Erst als Vorkommnisse geheimnisvollster Art sich häuften, deren Erklärung jeder menschlichen Erkenntnis spotteten, als sich Erscheinungen wiederholten, die nur mit der Atomenergie zu erklären waren, gewann der Verdacht feste Gestalt, daß die Lösung dieser Rätsel in Montgomery-Hall, jenem alten, noch aus der Stuartzeit stammenden Schloß im schottischen Hochmoor, zu suchen sei.
Doch Elias Montgomery blieb mit seiner Erfindung im Dunklen.
Er wünschte weder Störungen noch Besuche. Er umgab sein Haus mit einem System raffiniertester und wirkungsvollster Sicherungen. Elektrische Wechselspannungen zwischen scheinbar harmlosen Pfosten und Bäumen, die auf jeden, der die Lücke passierte, einen tödlichen Blitz warfen. Später noch, als überzudringliche Besucher sich nicht scheuten, von oben her einzudringen… sich aus stillstehenden Hubschraubern in die Höfe des Schlosses niederzulassen versuchten, auch in der Höhe ein hochgeladenes Netz, das tötende Funken auf jedes Fahrzeug warf.
Ein vollkommenes Sicherungssystem, durch welches das Geheimnis unbedingt gewahrt wurde. Und nun war es doch einem gelungen, gegen den Willen des Erfinders einzudringen. Der Knochenmann war gekommen und hatte ihm die Hand auf die Schulter gelegt. Hatte ihn mitten aus der Arbeit an dem kleinen Apparat hinweggerissen, der das Geheimnis barg.
Als sicher galt es, daß er das Geheimnis bis zu seinem letzten Atemzuge für sich bewahrt hatte. Mitten in seiner Arbeit war er verschieden, ganz plötzlich, vom Herzschlag dahingerafft. Am Arbeitstisch, die Hände noch an dem Wunderapparat, hatte man den Toten gefunden. Sonst, man traute es ihm wohl zu, hätte er vielleicht beim Herannahen des Todes noch im letzten Augenblick den Apparat, mit dem er die Wunder vollbrachte, zerstört… die Erfindung mit ins Grab genommen.
Jetzt!… Der Meister tot… Sein Werk unversehrt da… Der Augenblick gekommen, es in den Dienst der Welt zu stellen… die Periode des Kohlenzeitalters vorüber! Alle Energiequellen, die die Menschheit bisher kannte, jämmerlich klein, verschwindend gegen die neue Energiequelle, die der Zertrümmerung der Atome entsprang. Die Reaktion an allen Börsen der Welt gab den anschaulichsten Beweis dafür. Alle Kohlenwerte… die Aktien aller Kraftwerke so gut wie wertlos.
Wieder war es wie damals, als die ersten Gerüchte von Montgomerys Entdeckung in die Welt drangen, als die Politiker und Volkswirtschaftler die Köpfe zusammensteckten… berieten, wie dem Chaos zu begegnen sei, das bei der Umstellung auf die neue Energie entstehen mußte.
Wirtschaftskrisen schwerster Art, Krisen, wie sie die Menschheit bisher kaum je erlebt, waren zu erwarten. Und… bedeutete die Erfindung nicht auch gleichzeitig eine fürchterliche Waffe, die in gewissenloser Hand schrecklichstes Unheil über die Menschheit bringen konnte?
Damals schon, gleich nach dem ersten Bekanntwerden von Montgomerys Entdeckung, waren in den Parlamenten Stimmen lautgeworden, die den Erfinder unter staatliche Aufsicht stellen wollten. Schien doch das Problem, die Erfindung anzuwenden, noch viel schwieriger als das, die Erfindung zu machen.
Jetzt, beim Tode des Erfinders, tauchten alle diese Fragen und Ideen wieder von neuem auf. Und von Tag zu Tag spannte sich die Erwartung. Von Tag zu Tag hoffte man auf die Nachricht aus Montgomery-Hall:
»Die Kräfte des geheimnisvollen Apparates sind erkannt, es ist gelungen, ihn in Tätigkeit zu setzen.« Doch die Tage verrannen, und keiner brachte die Nachricht.
Wohl hörte man, daß es gelungen sei, das Sicherungssystem auszuschalten, in das Gebäude einzudringen und die Arbeitsstätte des Verstorbenen zu versiegeln. Wohl hörte man, daß eine Kommission der hervorragendsten englischen Physiker mit der Hinterlassenschaft des Erfinders beschäftigt sei. Aber die Nachricht, die man mit steigender Ungeduld erwartete, blieb aus.
Es war ein Paradoxon stärkster Art. Da stand der Apparat, und keiner Hand war es gegeben, ihn zu bedienen. Es schien der letzte Trumpf dieses ironischen Spötters und Menschenverächters zu sein, daß er der Welt sein Werk unversehrt hinterließ, und daß es doch ebenso