Gesammelte Werke (Über 150 Titel in einem Band). Rosa Luxemburg
sich darüber klar geworden zu sein, daß ohne eine vollständige Revolution seines Gesundheitszustandes er nie dahin kommen werde, eine ihm selbst genügende Bearbeitung des zweiten und dritten Buchs zu vollenden. In der Tat tragen die Manuskripte V bis VIII die Spuren gewaltsamen Ankämpfens gegen niederdrückende Krankheitszustände nur zu oft an sich. Das schwierigste Stück des ersten Abschnitts war in Manuskript V neu bearbeitet; der Rest des ersten und der ganze zweite Abschnitt (mit Ausnahme des siebzehnten Kapitels) boten keine bedeutenden theoretischen Schwierigkeiten; der dritte Abschnitt dagegen, die Reproduktion und Zirkulation des gesellschaftlichen Kapitals, schien ihm einer Umarbeitung dringend bedürftig. In Manuskript II war nämlich die Reproduktion behandelt zuerst ohne Berücksichtigung der sie vermittelnden Geldzirkulation und sodann nochmals mit Rücksicht auf diese. Dies sollte beseitigt und der ganze Abschnitt überhaupt so umgearbeitet werden, daß er dem erweiterten Gesichtskreis des Verfassers entsprach. So entstand Manuskript VIII, ein Heft von nur 70 Quartseiten; was Marx aber auf diesen Raum zusammenzudrängen verstand, beweist die Vergleichung von Abschnitt III im Druck, nach Abzug der aus Manuskript II eingeschobenen Stücke.
Auch dies Manuskript ist nur eine vorläufige Behandlung des Gegenstands, bei der es vor allem darauf ankam, die gewonnenen neuen Gesichtspunkte gegenüber Manuskript II festzustellen und zu entwickeln, unter Vernachlässigung der Punkte, über die nichts Neues zu sagen war. Auch ein wesentliches Stück von Kapitel XVII des zweiten Abschnitts, das ohnehin einigermaßen in den dritten Abschnitt übergreift, wird wieder hineingezogen und erweitert. Die logische Folge wird öfters unterbrochen, die Behandlung ist stellenweise lückenhaft und namentlich am Schluß ganz fragmentarisch. Aber was Marx sagen wollte, ist in dieser oder jener Weise darin gesagt.
Das ist das Material zu Buch II, woraus, nach einer Äußerung von Marx zu seiner Tochter Eleanor kurz vor seinem Tode, ich 'etwas machen' sollte."
Man muß dies "etwas" bewundern. das Engels aus einem so beschaffenen Material zu machen verstanden hat. Aus seinem genauen Bericht geht aber für die uns interessierende Frage mit aller Deutlichkeit hervor, daß von den drei Abschnitten, die den Band II bilden, für die ersten zwei: über den Kreislauf des Geld- und Warenkapitals sowie die Zirkulationskosten und über den Umschlag des Kapitals, das von Marx hinterlassene Manuskript am ehesten druckreif war. Hingegen stellte der dritte Abschnitt, der die Reproduktion des Gesamtkapitals behandelt, nur eine Sammlung von Fragmenten dar, die Marx selbst einer Umarbeitung "dringend bedürftig" schienen. Von diesem Abschnitt ist aber das letzte einundzwanzigste Kapitel, auf das es gerade ankommt: die Akkumulation und erweiterte Reproduktion, am unfertigsten vom ganzen Buch geblieben. Es umfaßt alles in allem bloß 35 Druckseiten und bricht mitten in der Analyse ab.
Außer diesem äußeren Umstand war u.E. noch ein anderes Moment von großem Einfluß. Die Untersuchung des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses nimmt bei Marx. wie wir gesehen, ihren Ausgangspunkt von der Ad. Smithschen Analyse, die u.a. an dem falschen Satz von der Preiszusammensetzung aller Waren aus v + m gescheitert ist. Die Auseinandersetzung mit diesem Dogma beherrscht nun die ganze Analyse des Reproduktionsprozesses bei Marx. Der Beweisführung, daß das gesellschaftliche Gesamtprodukt nicht bloß der Konsumtion im Betrage der verschiedenen Einkommensquellen, sondern auch der Erneuerung des konstanten Kapitals dienen muß, widmet Marx seine ganze Aufmerksamkeit. Da aber für diese Beweisführung die theoretisch reinste Form nicht bei der erweiterten, sondern bei der einfachen Reproduktion gegeben ist, so betrachtet Marx vorwiegend die Reproduktion unter einem der Akkumulation gerade entgegengesetzten Gesichtswinkel: unter der Annahme, daß der ganze Mehrwert von den Kapitalisten verzehrt wird. Wie sehr die Polemik gegen Smith die Marxsche Analyse beherrschte, dafür zeugt, daß er zu dieser Polemik im Verlaufe seiner ganzen Arbeit unzählige Male von verschiedensten Seiten zurückkehrt. So sind ihr gewidmet gleich im ersten Band 7. Abschnitt, 22. Kapitel, S. 551-554, im zweiten Band S. 335-370, S. 383, S. 409-412, S.451-453. Im Band III/2 nimmt Marx das Problem der Gesamtreproduktion wieder auf, stürzt sich aber dabei wieder sofort in das von Smith aufgegebene Rätsel und widmet ihm das ganze 49. Kapitel (S. 367-388) und eigentlich auch noch das ganze 50. Kapitel (S. 388 bis 413). Endlich in den "Theorien über den Mehrwert" finden wir wieder ausführliche Polemiken gegen das Smithsche Dogma in Band I, S.164-253, Band II/2, S. 92, 95 126, 233-262. Wiederholt betont und unterstreicht Marx selbst, daß er gerade in dem Problem des Ersatzes des konstanten Kapitals aus dem gesellschaftlichen Gesamtprodukt die schwierigste und wichtigste Frage der Reproduktion erblickte.71 So wurde das andere Problem, das der Akkumulation, nämlich die Realisierung des Mehrwerts zu Zwecken der Kapitalisierung, in den Hintergrund gedrängt und ist schließlich von Marx kaum angeschnitten worden.
Bei der großen Bedeutung dieses Problems für die kapitalistische Wirtschaft ist es kein Wunder, daß es die bürgerliche Ökonomie immer und immer wieder beschäftigte. Die Versuche, mit der Lebensfrage der kapitalistischen Wirtschaft, nämlich mit der Frage, ob die Kapitalakkumulation praktisch möglich sei, fertig zu werden, tauchen im Verlaufe der Geschichte der Ökonomie immer wieder auf. Zu diesen geschichtlichen Versuchen vor wie nach Marx, die Frage zu lösen, wollen wir uns jetzt wenden.
Zweiter Abschnitt.
Geschichtliche Darstellung des Problems
Erster Waffengang.
Kontoverse zwischen Sismondi - Malthus und Say - Ricardo - MacCulloch
Zehntes Kapitel.
Die Sismondische Theorie der Reproduktion
Die ersten starken Zweifel an der Gottähnlichkeit der kapitalistischen Ordnung stiegen in der bürgerlichen Nationalökonomie unter dem unmittelbaren Eindruck der ersten Krisen in England im Jahre 1815 und 1818/19 auf. Noch waren die Umstände, die zu diesen Krisen geführt hatten, eigentlich äußerer, scheinbar zufälliger Natur. Zum Teil war dies die Napoleonische Kontinentalsperre, die England künstlich von seinen europäischen Absatzmärkten für eine Zeitlang abgeschnitten und inzwischen in kurzer Zeit eine bedeutende Entwicklung der eigenen Industrie auf einigen Gebieten in den kontinentalen Staaten begünstigt hatte; zum Teil war es die materielle Erschöpfung des Kontinents durch die lange Kriegsperiode, was nach der Aufhebung der Kontinentalsperre den erwarteten Absatz für englische Produkte verringerte. Diese ersten Krisen genügten jedoch, um den Zeitgenossen die Kehrseite der Medaille der besten aller Gesellschaftsformen in ihrer ganzen Grauenhaftigkeit vor die Augen zu führen. Überfüllte Märkte, Magazine voll Waren, die keine Abnehmer fanden, zahlreiche Bankrotte, andererseits ein schreiendes Elend der Arbeitermassen - alles das stieg zum erstenmal vor den Augen der Theoretiker auf, die in allen Tonarten die harmonischen Schönheiten des bürgerlichen laissez faire gepriesen und verkündet hatten. Alle zeitgenössischen Handelsnachrichten, Zeitschriften, Erzählungen der Reisenden berichteten über Verluste der englischen Warenhändler. In Italien, Deutschland, Rußland, in Brasilien schlugen die Engländer ihre Warenvorräte einem Verlust von 1/4 bis 3/4 los. 1818 beklagte man sich am Kap der Guten Hoffnung, daß alle Läden mit europäischen Waren angefüllt waren, die man zu niedrigeren Preisen als in Europa anbot, ohne sie loswerden zu können. Aus Kalkutta ertönten ähnliche Klagen. Ganze Warenladungen kamen aus Neuholland <Australien> nach England zurück. In den Vereinigten Staaten gab es nach dem Reisebericht eines Zeitgenossen "von einem Ende dieses ungeheuren und so wohlhabenden Festlandes bis zum anderen keine Stadt, keinen Marktflecken, in dem die Menge der zum Verkaufe ausliegenden Waren die Mittel der Käufer nicht bedeutend überstiege, obgleich die Verkäufer sich bemühten, durch sehr lange Kredite und zahlreiche Arten von Zahlungserleichterungen, durch Abzahlungen und Annahme von Waren an Zahlungs Statt die Kunden anzulocken".
Gleichzeitig ertönte in England