Gesammelte Werke (Über 150 Titel in einem Band). Rosa Luxemburg
Sismondi zum Ausdruck.146 Im Schlußresultat ist die Realisirung des kapitalistischen Gesamtprodukts im Innern der Gesellschaft unmöglich, sie kann nur dank den auswärtigen Märkten gelingen. Hier mündet Nikolai-on, trotz ganz verschiedener theoretischer Ausgangspunkte, mit Woronzow in den gleichen Schluß, dessen Moral, auf Rußland angewendet, die ökonomische Begründung der Skepsis im Verhältnis zum Kapitalismus bildet. In Rußland hat die kapitalistische Entwicklung, der auswärtige Märkte von vornherein abgeschnitten sind, nur Schattenseiten, nur Verelendung der Volksmassen ergeben, und deshalb war die Förderung des Kapitalismus in Rußland ein verhängnisvoller "Fehler".
Hier angelangt, donnert Nikolai-on wie ein alttestamentarischer Prophet: "Anstatt uns an die jahrhundertealten Überlieferungen zu halten, anstatt das von uns ererbte Prinzip der festen Verbindung des unmittelbaren Produzenten mit den Produktionsmitteln zu entwickeln, anstatt die Errungenschaften der westeuropäischen Wissenschaft zu benutzen, um sie auf Produktionsformen anzuwenden, die auf dem Besitz der Produktionsmittel durch die Bauern beruhen, anstatt die Produktivität ihrer Arbeit durch die Konzentrierung der Produktionsmittel in ihren Händen zu erhöhen, anstatt uns nicht die westeuropäische Form der Produktion, wohl aber ihre Organisation zunutze kommen zu lassen, ihre starke Kooperation, ihre Arbeitsteilung, ihre Maschinen usw. usw., anstatt das Prinzip zu entwickeln, das dem bäuerlichen Grundbesitz zugrunde liegt, und es auf die bäuerliche Bodenbearbeitung anzuwenden, anstatt dem Bauerntum zu diesem Zwecke den Zutritt zur Wissenschaft und deren Anwendung weit zu öffnen: anstatt alles dessen haben wir den direkt entgegengesetzten Weg eingeschlagen. Wir haben nicht bloß die Entwicklung kapitalistischer Produktionsformen nicht verhindert, trotzdem sie auf der Expropriation des Bauerntums basieren, sondern wir haben umgekehrt mit allen Kräften die Umkrempelung unseres ganzen wirtschaftlichen Lebens gefördert, die zu der Hungersnot des Jahres 1891 geführt hat." Das Übel sei bereits weit gediehen, doch sei es noch nicht zu spät zur Umkehr. Im Gegenteil, eine völlige Reform der ökonomischen Politik sei für Rußland eine ebenso dringende Notwendigkeit angesichts der drohenden Proletarisierung und des drohenden Untergangs wie seinerzeit die alexandrinischen Reformen nach dem Krimkriege. Die soziale Reform, die Nikolai-on empfiehlt, ist nun völlig utopisch und kehrt um soviel krasser als bei Sismondi die kleinbürgerliche und reaktionäre Seite der Auffassung heraus, als der russische "Volkstümler" um 70 Jahre später schreibt. Nach seiner Meinung ist nämlich die einzige Rettungsplanke Rußlands aus der kapitalistischen Überschwemmung die alte "Obschtschina", die auf Gemeinbesitz an Grund und Boden beruhende Landgemeinde. Auf diese sollen - durch Maßnahmen freilich, die das Geheimnis Nikolai-ons geblieben sind - die Resultate der modernen Großindustrie und der modernen wissenschaftlichen Technik aufgepfropft werden, damit sie als Grundlage einer "vergesellschafteten" höheren Produktionsform dienen könne. Rußland habe keine Wahl mehr als diese Alternative: entweder Umkehr von der kapitalistischen Entwicklung oder Untergang und Tod.147
Nikolai-on langt also nach einer vernichtenden Kritik des Kapitalismus bei demselben alten Allheilmittel der "Volkstümelei" an, das schon in den fünfziger Jahren, damals freilich mit viel mehr Recht, als ein "spezifisch russisches" Pfand der höheren sozialen Entwicklung glorifiziert worden ist, das aber schon 1875 von Engels im "Volksstaat" im Aufsatz "Flüchtlingsliteratur" als ein lebensunfähiges Überbleibsel uralter Einrichtungen in ihrem reaktionären Charakter aufgezeigt wurde. "Die Fortentwicklung Rußlands in bürgerlicher Richtung", schrieb Engels damals, "würde das Gemeinde-Eigentum auch hier nach und nach vernichten, ohne daß die russische Regierung mit 'Bajonetten und Knute' einzuschreiten braucht (wie sich die revolutionären Volkstümler einbildeten - R. L.) ... unter dem Druck von Steuern und Wucher ist das Gemeinde-Eigentum an Grund und Boden keine Wohltat mehr, es wird eine Fessel. Die Bauern entlaufen ihm häufig, mit oder ohne Familie, um sich als wandernde Arbeiter zu ernähren, und lassen ihr Land daheim.
Man sieht, das Gemeinde-Eigentum in Rußland hat seine Blütezeit längst passiert und geht allem Anscheine nach seiner Auflösung entgegen." Damit hatte Engels bereits 18 Jahre vor Nikolai-ons Hauptschrift in der Frage der Obschtschina den Nagel auf den Kopf getroffen. Wenn Nikolai-on darauf nochmals frischen Mutes dasselbe Gespenst der Obschtschina heraufbeschwor, so war das insofern ein arger historischer Anachronismus, als ungefähr ein Jahrzehnt später bereits das offizielle Begräbnis der Obschtschina von Staats wegen erfolgte. Die absolutistische Regierung, die ein halbes Jahrhundert lang mit aller Gewalt den Apparat der bäuerlichen Landgemeinde zu fiskalischen Zwecken künstlich zusammenzuhalten gesucht hatte, sah sich gezwungen, diese Sisyphusarbeit selbst aufzugeben. Bald zeigte es sich an der Agrarfrage als denn mächtigsten Faktor der russischen Revolution ganz offenkundig, wie sehr der alte Wahn der "Volkstümler" bei dem tatsächlichen ökonomischen Gang der Dinge ins Hintertreffen geraten war und wie kräftig umgekehrt die kapitalistische Entwicklung in Rußland, die sie als eine totgeborene betrauerten und verwünschten, ihre Lebensfähigkeit und ihre fruchtbare Arbeit unter Blitz und Donner zu offenbaren verstand. Diese Wendung der Dinge sollte wieder und zum letztenmal in ganz verändertem historischem Milieu feststellen, daß eine soziale Kritik des Kapitalismus, die theoretisch von dem Zweifel an seiner Entwicklungsmöglichkeit ausgeht, mit fataler Logik auf eine reaktionäre Utopie hinausläuft - so gut 1819 in Frankreich wie 1842 in Deutschland und 1893 in Rußland.148
Einundzwanzigstes Kapitel.
Die "dritten Personen" und die drei Weltreiche Struves
Wir wenden uns nun zu der Kritik der obigen Ansichten, wie sie von den russischen Marxisten gegeben worden ist.
Peter v. Struve, der 1894 im "Sozialpolitischen Centralblatt" (3. Jahrgang, Nr. 1) unter dem Titel "Zur Beurtheilung der kapitalistischen Entwickelung Rußlands" eine eingehende Würdigung des Buches von Nikolai-on gegeben hatte, veröffentlichte 1894 in russischer Sprache ein Buch. "Kritische Bemerkungen zur Frage der ökonomischen Entwicklung Rußlands", worin er die "volkstümlerischen" Theorien einer vielseitigen Kritik unterzieht. In der uns hier beschäftigenden Frage jedoch beschränkt sich Struve sowohl in bezug auf Woronzow wie Nikolai-on hauptsächlich auf den Nachweis, daß der Kapitalismus seinen inneren Markt nicht verringere, sondern umgekehrt erweitere. Der Schnitzer Nikolai-ons, den er von Sismondi übernommen hat, liegt in der Tat auf der Hand. Beide schilderten nur die eine Seite des Prozesses der kapitalistischen Zerstörung althergebrachter Produktionsformen des Kleinbetriebes. Sie sahen nur die sich daraus ergebende Herabdrückung des Wohlstands, die Verelendung breiter Schichten der Bevölkerung. Sie bemerkten nicht, was die andere ökonomische Seite dieses Prozesses bedeutet: Beseitigung der Naturalwirtschaft und Einzug an ihre Stelle der Warenwirtschaft auf dem Lande. Das besagt aber, daß der Kapitalismus durch Einbeziehung immer neuer Kreise früher selbständiger und abgeschlossener Produzenten in sein Bereich mit jedem Schritt neue Schichten in Käufer seiner Waren verwandelt, die es früher nicht waren. Der Gang der kapitalistischen Entwicklung ist also ein gerade umgekehrter, als ihn die "Volkstümler" nach Sismondis Vorbild schildern: Der Kapitalismus vernichtet nicht seinen inneren Markt, sondern er schafft sich ihn gerade zunächst durch das Umsichgreifen der Geldwirtschaft
Was speziell die Theorie Woronzows über die Unrealisierbarkeit des Mehrwerts auf dem inneren Markte betrifft, so wird sie von Struve folgendermaßen widerlegt. Die Grundlage der Woronzowschen Theorie bestehe darin, daß eine entwickelte kapitalistische Gesellschaft sich lediglich aus Unternehmern und Arbeitern zusammensetze. Nikolai-on operiert gleichfalls die ganze Zeit mit dieser Vorstellung. Von diesem Standpunkt lasse sich die Realisierung des kapitalistischen Gesamtprodukts allerdings nicht begreifen. Die Theorie Woronzows sei auch insofern richtig, "als sie die Tatsache konstatiert, daß der Mehrwert weder durch die Konsumtion der Kapitalisten noch durch diejenige der Arbeiter realisiert werden könne, sondern die Konsumtion dritter Personen voraussetze"149 . Demgegenüber sei aber festzustellen, daß es solche "dritten Personen" in jeder kapitalistischen Gesellschaft wohl gebe. Die Vorstellung Woronzows und Nikolai-ons sei nichts als eine Fiktion,