Winzerschuld. Andreas Wagner

Winzerschuld - Andreas Wagner


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sie ihm nichts mehr vormachen.

      Er hatte gar nicht viel gesagt, nur ein paar Worte, doch die Reaktion verschaffte ihm Gewissheit. Ohne Vorankündigung waren die Hände des Alten nach vorne geschnellt und mit voller Wucht gegen seinen Brustkorb geprallt. Für einige Sekunden war ihm die Luft weggeblieben, er hielt sich nur mit Mühe auf den Beinen. Vor seinen Augen wurde es einen Moment lang schwarz. Kleine Sternchen blitzten auf, auch dann noch, als er sein Gegenüber schon wieder erkennen konnte. Das Blut rauschte in seinen Ohren. Der erste Atemzug nach diesem Hieb hatte wie ein tiefes Seufzen geklungen. Daran konnte er sich noch genau erinnern.

      Die große schwielige Hand des Alten war drohend in die Höhe gefahren. Dass sie nach der Brust nicht auch noch sein Gesicht getroffen hatte, wunderte ihn bis heute. Erst danach hatte der Alte begonnen, ihn anzuschreien. Seinen rechten Arm hielt er dabei weiter starr gen Himmel gereckt, die Hand zitterte. Sein fast kahler Schädel war rot angelaufen. Die wenigen dünnen und von der Sonne ausgeblichenen Haarsträhnen, die ihm geblieben waren, hoben sich deutlich davon ab und ließen ihn noch älter aussehen. Eine dicke Ader an seinem Hals pulsierte hektisch. Feine Spucketröpfchen begleiteten seine bösen Worte. Er hörte sie nicht, spürte aber, dass die Feuchtigkeit auf seine glühenden Wangen traf. In seiner Erinnerung glich die Szene einem Stummfilm. Die heiseren Vorwürfe verhallten ungehört.

      Er fuhr sich mit dem Handrücken über das Gesicht. Es war nur natürlich, dass ihn diese Gedanken jetzt und hier begleiteten. Ein Geräusch ließ ihn im schmalen Graben neben der Landstraße Deckung suchen. Aufmerksam blickte er sich in alle Richtungen um und lauschte konzentriert. War das das Glucksen der Selz? Der schmale Bach floss gar nicht weit entfernt in seinem tiefergelegten Bett. Er war sich nicht sicher. Nun hörte er auch nichts mehr außer seinem eigenen Körper. Den Atem, das Schlagen seines Herzens, das Blut in den dünnen Äderchen seiner Ohren.

      Irgendwo in weiter Ferne schrie ein Tier. Was ihn eben noch in die Hocke gedrückt hatte, löste sich langsam. Entschlossenheit gewann die Oberhand. Er reckte sich energisch in die Höhe und ließ im Laufen seinen Rucksack von der Schulter gleiten. Er bewegte sich sicheren Schrittes, den Weg kannte er auch in der Finsternis. Das Tier brüllte wieder. Es klang wie ein röchelndes Aufbäumen mit letzter Kraft.

      Noch einmal sah er sich vorsichtig um. Es bestand keine Notwendigkeit dazu. Heute war der Freitag vor Fassenacht: Sämtliche noch ansatzweise mobilen Dorfbewohner saßen dicht gedrängt, berauscht und schwitzend in der prächtig dekorierten Sporthalle unter den mit Luftballons prall gefüllten Netzen. Die Familie des Alten war wie jedes Jahr vollzählig dabei. Alle mussten sie ihm zusehen, wie er den Till gab und seinen Mitbürgern in spitzen Versen den Spiegel ihrer Verfehlungen vorhielt. Seinem Auftritt fieberte das ganze Dorf entgegen. Schon Wochen zuvor wurde ausgiebig darüber spekuliert, wen er sich in diesem Jahr alles vornehmen würde. Die bange Furcht, zum Gespött zu werden, gefolgt von der Enttäuschung hinterher bei all denen, die sich gewünscht hatten, so wichtig zu sein, dass seine spitze Zunge sich mit ihnen auseinandersetzte.

      Nur einmal war er selbst dort gewesen. Er konnte das alles nicht ausstehen. Die gute Stimmung auf Befehl, die Enge der dicht gedrängten Leiber, die dröhnende Lautstärke. Und das selbstzufriedene Grinsen des Alten, wenn er nach seinem Auftritt den Jubel des Publikums entgegennahm und sich auch nach der zweiten und dritten Zugabe, zu denen er sich mit stehenden Ovationen drängen ließ, obwohl er doch fest damit gerechnet und entsprechende Verse verfasst hatte, in ihrer Anerkennung suhlte. Allein der Gedanke daran ließ Übelkeit in ihm aufsteigen. Hätte er noch einen einzigen zarten Zweifel an seinem Plan gehegt, so wäre dieser spätestens jetzt zu Staub zerfallen.

      Er spuckte aus und riss den Rucksack auf. Das Rauschen der Spraydose durchschnitt die Stille der Nacht. Gleich war es vollbracht. Keine große Sache, die kam erst noch, falls er nicht endlich einsah, dass sie reden mussten. Ob sich das hiermit schon erreichen ließ, wusste er nicht zu sagen. Es ärgerte ihn, dass er das Gesicht des Alten, wenn der im Morgengrauen nach Hause kam und sein Werk entdeckte, nicht würde sehen können. Ob er sofort verstand, was gemeint war? Falls nicht, war es auch egal. Er würde ihm noch den einen oder anderen zusätzlichen Hinweis geben.

      Schon hatte er die Dose zurück in den Rucksack gesteckt. Mit der freien Hand öffnete er seine Gürtelschnalle, schob Hose und Unterhose hinab und ging in die Hocke. Sein Blick wanderte hinauf in den Himmel, während er sich erleichterte. Die Sterne leuchteten hier viel kräftiger als oben im Dorf.

      Hinter ihm brach ein Zweig, doch er wollte sich nicht umdrehen. Er war so gebannt vom Anblick des Firmaments, dass er die Lichter auf der Landstraße gar nicht bemerkte.

      2

      Marion war schuld! Georg Winternheimer hieb wütend mit seiner Rechten auf das Lenkrad und trat das Gaspedal durch. Der Motor heulte auf. Er wusste, dass sie seine Sachen durchwühlte. Das tat sie schon lange. Zwar packte sie immer alles fein säuberlich zurück, damit er es nicht mitbekam. Jedoch nie in der richtigen Reihenfolge. Es war also nicht wirklich schwer zu durchschauen. Wahrscheinlich hatte sie in den Taschen seiner neuen Anzugjacke nach den Kondomen gesucht. Vor zwei Jahren hatte sie ihm die schon einmal triumphierend unter die Nase gehalten. Vor Wut schnaubend und verheult zugleich faselte sie etwas von Treue und Enttäuschung, bis er ihr mit der flachen Hand eine verpasst hatte. Sie verstand nicht, was an Fassenacht im Saal und in den Stunden danach abging. Das hatte am nächsten Tag alles keine Bedeutung mehr. Aus und vorbei. Es war einfach nur ein großer Spaß, doch sie machte daraus immer eine Riesensache.

      Seinen Zorn würde sie heute Nacht noch zu spüren bekommen. Die Abreibung hatte sie sich verdient. Er schaltete einen Gang hoch und gab wieder Vollgas. Weit war es gottlob nicht.

      Wenn er eben nicht noch mal nachgesehen hätte, würde er jetzt dastehen wie der größte Depp aller Zeiten. Seine Verkleidung war eines der bestgehüteten Geheimnisse der gesamten Kampagne. Niemand kannte sie bis zu seinem Auftritt. Er hatte deshalb als einziger Aktiver der großen Sitzung eine Umkleide nur für sich allein. Es war zwar nur die kleine Lehrerumkleide im Eingangsbereich der Sporthalle, aber dafür hatte er dort in den beiden Stunden bis zum Auftritt seine Ruhe. In der Umkleide stand seine Flasche Riesling-Sekt bereit, die er bis zum letzten Tropfen leerte, um sich in Stimmung zu bringen, während er noch einmal vor dem Spiegel seine verschiedenen Posen durchging. Sie waren mindestens genauso wichtig wie die Worte. Den Text brauchte er dazu nicht, er hatte die Szenen alle im Kopf. Erst beim Auspacken seiner Verkleidung hatte er beiläufig nach der Brusttasche des Sakkos getastet und festgestellt, dass sein Text dort nicht mehr zu finden war.

      In den Taschen des Anzugs, den er sich im Internet bestellt hatte und zu dem noch eine Hose, eine Weste und ein Schlips im gleichen Dekor gehörten, fand er nur die Kondome, aber nicht den letzten Ausdruck seiner Büttenrede. Die allermeisten Verse hatte er auch so drauf, dennoch brauchte er den Text für die vielen kleinen Veränderungen, die er in den letzten Tagen vor seinem großen Auftritt üblicherweise noch vornahm. Ein anderes Wort hier, eine weitere Zeile dort, um eine kleine zusätzliche Spitze zu setzen, das gelang auf der Bühne nur dann, wenn er den Text zur Sicherheit vor sich liegen hatte.

      Dafür, dass er jetzt nach Hause hetzen musste, würde Marion büßen. Er sah zur Uhr. Eigentlich wäre er jetzt schon dran. Er schnaufte genervt, während er den Fuß vom Gas nahm. Das Publikum fieberte seinem Marsch auf die Bühne entgegen. Die absolute Dunkelheit, die dem Auftritt vorausging, unterstrich die gebannte Stille, und aller Augen folgten dem Suchscheinwerfer, dessen kreisrunder Lichtkegel umherirrte, um ihn letztlich zu finden. Danach war das Publikum nicht mehr zu halten.

      Seit vielen Jahren schon war sein Auftritt als Till der Höhepunkt des Abends. Die Elsheimer Schnorressänger, die eigentlich nach ihm dran sein sollten, hatten sich zum Glück schon warmgesungen und waren spontan für ihn eingesprungen. Sie waren sogar froh gewesen, weil sie nach ihrem Auftritt hier bei ihnen noch weiter zu einer anderen Sitzung im Nachbardorf mussten, um dort das große Finale mitzubestreiten.

      Kurzfristige Programmverschiebungen gehörten zum alltäglichen Geschäft einer jeden Fassenachtssitzung. Da viele gute und bekannte Redner und Gruppierungen an manchen Abenden mehrere Auftritte in verschiedenen Ortschaften hatten, war das nichts Besonderes. Einige der Großmäuler überboten sich gegenseitig in der Anzahl der Sitzungen, die sie an einem Abend mit ihrem Beitrag bereicherten. Nichts als


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