Winzerschuld. Andreas Wagner

Winzerschuld - Andreas Wagner


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an der Seite gekostet hatte, über die Nase und versperrte ihm die Sicht. Gleichzeitig wähnte er sich hinter den Plastikbeeren etwas besser getarnt.

      Am hinteren Ende des Raumes konnte er Eugen für einen kurzen Moment erneut im Gewühl ausmachen. Er schien seine Frau nicht gefunden zu haben, obwohl doch jeder Zweite im Saal wusste, wo sie höchstwahrscheinlich anzutreffen war. Nach jeder Sitzung warf sich Carola dem Till an den Hals. Sie war nicht die Einzige, aber meistens die Erste, die sich an ihn hängte, wenn er nach dem Finale von der Bühne stolzierte. Es wurde viel darüber gemunkelt, und der arme Eugen lief nach Aschermittwoch tagelang wie Falschgeld umher. Dann kehrte Ruhe ein, bis es im nächsten Jahr zur Fassenacht wieder genauso ablief. Es gab Traditionen, die musste man nicht verstehen, zumal das alljährliche Techtelmechtel in der anschließenden Diskussion von den Dorfbewohnern reichlich aufgebauscht wurde. Wahrscheinlich stimmte nicht einmal die Hälfte davon.

      Vor zwei Jahren hatte die Chaussee-Helga mit weiteren pikanten Details aufwarten können. Sie wollte im Vorbeigehen an Winternheimers Garderobe gesehen haben, wie nicht Carola Werum, sondern Lydia Menges darin verschwunden war. Den Schlüssel im Schloss der Tür habe sie noch hören, das Gesehene aber kaum glauben können. Weitererzählt hatte sie es natürlich trotzdem und sich dadurch bestätigt gefühlt, dass Lydia Menges etliche Wochen lang nicht im Dorf zu sehen gewesen war. Manche behaupteten, ihr Mann habe sie grün und blau geschlagen, und sie traue sich nicht vor die Tür. Andere sprachen davon, dass er sie rausgeschmissen habe. Egal, welche Variante stimmte, nach Ostern war sie gesund und munter wiederaufgetaucht, als ob nichts geschehen wäre. Zur Sitzung hatte sie im darauffolgenden Jahr aber nicht mehr mitgedurft. Auch heute hatte Kurt-Otto sie nicht gesehen. Menges war mit seiner zur Loreley des Selztals herausgeputzten Tochter Johanna da gewesen.

      Nicht wenige der Jungs um die zwanzig aus dem Dorf hatten Menges’ Tochter vorhin auf der Tanzfläche umringt. Johanna, die seit Oktober die Geisenheimer Weinbauhochschule besuchte, vereinte auf nahezu perfekte Weise Schönheit und reichen Weinbergsbesitz. Ihr Vater würde heute Nacht alle Hände voll zu tun haben, um sie sicher wieder nach Hause zu bekommen.

      Nanu, war das da vorne nicht der Till? Kurt-Otto rieb sich ungläubig die juckende Stirn unter der Wintermütze mit Traubenbesatz und schob sich gleichzeitig ein Stück aus seiner sicheren Deckung hervor, um besser sehen zu können. Am Rand der gut gefüllten Tanzfläche waren sie eben aufeinandergetroffen. Der Bass der Boxen hämmerte dazu. Zischend schoss ein Strahl Kunstnebel vom Saum der Bühne in die Menge und breitete sich wabernd aus. Im schwachen Dunst, der sich darüber ausdehnte, konnte er gerade noch erkennen, wie Winternheimers Faust mit voller Wucht in Eugen Werums Gesicht traf. Alles ging so schnell und scheinbar ohne Vorankündigung vonstatten, dass der Betroffene es nicht einmal schaffte, die Hände schützend in die Höhe zu bringen. Werums Beine knickten ein. Sein Oberkörper sank in den dichten Nebel hinab. Gleich darauf war auch der Rest von ihm verschwunden.

      Kurt-Otto stürzte nach vorne, auf die Nebelwand zu. Nicht dass der Till ihm im Rausch noch mehr Schläge verpasste oder die Menge über ihn hinwegtrampelte. Entschlossen schob er die Tänzer, die er im dichten Dunst mehr ertasten als sehen konnte, zur Seite. Einige widersetzten sich seinen Bemühungen und stießen ihn weg. Er ließ sich davon nicht beirren. Luftballons platzten.

      Eugen lag am Boden. Um ihn herum stampften die Füße. Niemand schien ihn zu bemerken. Kurt-Otto stieß die letzten Hindernisse aus dem Weg und ließ sich neben seinen Kollegen sinken. Aus einem klaffenden Riss über dessen rechtem Auge quoll Blut. Ein dünner, feiner Strom, der sich den Weg über seine Wange bis hinunter zum Ohr gebahnt hatte. Eugens linkes Augenlid zuckte hektisch.

      »Eugen! Aufwachen.« Kurt-Otto schlug ihm mehrmals kräftig mit der flachen Hand auf die Wange und brüllte ihn weiter an, im Versuch, die Musik zu übertönen. Der Nebel lichtete sich. Die um sie herum wild Tanzenden hielten nach und nach in ihren Bewegungen inne und rückten erschrocken ab von dem, was sich da zu ihren Füßen abspielte.

      Eugen hustete und spuckte blutig aus. Die Musik erstarb. Durch die plötzliche Stille fuhr ein spitzer Schrei.

      »Kurt-Otto, bist du verrückt geworden? Lass ihn doch los!«

      5

      Eine solche Sitzung hatte er lange nicht mehr erlebt. Boris Baumann fuhr sich durch die glatten Haare, die er im Nacken kurz rasiert trug, und grinste. Ein gewaltiger Auftakt. So konnte es getrost weitergehen, die wilden Fassenachtstage in der Stadt standen ja erst noch bevor. Er seufzte befriedigt und schob sie von sich. Sein Rücken schmerzte in dieser Position. Sie schlief tief und fest mit offenem Mund. Ein getrockneter Spuckefaden zierte ihre Wange. Er stand auf, zog sich die Hose hoch und steckte sein Hemd notdürftig in den Bund. Ihre schwarze Perücke lag neben der abgegriffenen blauen Turnmatte. Er kickte sie mit einer schnellen Bewegung seines Fußes unter den Mattenwagen, unter dem sich die Wollmäuse tummelten.

      War er kurz eingenickt? Das konnte er sich kaum vorstellen. Durch die schmalen Ritzen in den Lamellen des Rolltores fiel Licht. Zu hören war nichts mehr. Die letzten Feierwütigen hatten den großen Saal verlassen oder redeten so gedämpft, dass kein Laut zu ihnen hereindrang. Er hörte nur ihren gurgelnden Atem neben sich.

      Ein wirrer Gedanke blitzte in ihm auf. Sie war vollkommen besoffen. Würde sie es merken, wenn er ihr jetzt die Hand auf den Mund und die Nase drückte? Er spürte, dass ihn dieser Gedanke von Neuem erregte. Seine Hand bewegte sich wie von allein in Richtung ihres Gesichtes. Sie reichte aus, um Mund und Nase vollständig zu bedecken. Ihre Augen blieben frei, weil er sehen wollte, wie sie ihn erschrocken anstarrte, sollte sie aufwachen. Hätte sie dann noch genug Kraft, um zu strampeln und wild um sich zu schlagen, ihn abzuwehren? Zur Not konnte er sie mit der linken Hand niederdrücken oder, falls das nicht half, sein Körpergewicht einsetzen. Sie hätte keine Chance, sich zu befreien, wenn er auf ihr kniete und mit seinen Unterschenkeln ihre Arme fixierte. Er fuhr sich zwischen die Beine und stellte mit Genugtuung fest, dass er schon wieder bei guter Laune war.

      Er griff nach seiner Trachtenjacke und schüttelte sie kurz aus. Nach dem Auslüften kam sie wieder in den Kleiderschrank. Für die richtigen Fassenachtstage hatte er bessere Verkleidungen als die Ausstattung vom Oktoberfest.

      Der Anfang war gemacht. Er sah sich noch einmal um, ob er auch nichts vergessen hatte. Mireille Mathieu schnarchte leise. Bei ihrer Freundin hatte er nicht landen können. Die war einfach zu nüchtern gewesen. Aus einem Impuls heraus beugte er sich über sie und berührte ihre fast weiße Haut. Er hatte noch nie mit einer Rothaarigen geschlafen.

      Er drehte sie vorsichtig auf die Seite. Wenn sie kotzen musste, würde sie so wenigstens nicht an ihrem eigenen Erbrochenen ersticken.

      6

      18. März 1944

      Das Schreien holte ihn aus dem Schlaf. Als zartes Wimmern hatte es begonnen, kaum wahrnehmbar zuerst. Unterbewusst hatte er es in seinen Traum eingeflochten und der alten Wilhelmine Eifinger auf die Lippen gelegt. Wieder lag er dicht neben ihr im Graben im Hähnerklauer, tief in die kleine Senke zwischen den Weinbergen gepresst. Reglos hatten sie ausgeharrt, bis der dröhnende Jäger im Tiefflug über sie hinweggesaust war. Die Motoren ließen den Boden unter ihnen vibrieren.

      Der Traum hatte ihn alles noch einmal erleben lassen, das Wimmern der Eifinger, ihren strengen Geruch nach Kohl, Zwiebeln und Rauch, den er auch jetzt noch in der Nase hatte, obwohl das Erlebnis schon Wochen zurücklag. Es war ihnen nichts passiert. Er hatte die unbeholfene Alte später aus dem Graben gezogen und sie noch einen Moment gestützt, weil ihr schwindlig gewesen war. Dabei verharrte sein Blick auf ihrer eingefallenen und zitternden Oberlippe und dem dünnen Flaum, der sie zierte.

      Das Knattern des Bordmaschinengewehrs war noch deutlich zu hören. Es schien woanders seiner todbringenden Beschäftigung nachzugehen. In Ober-Olm oder Klein-Winternheim vielleicht. Er hatte tief durchgeatmet und sie dann gefragt, ob sie allein nach Hause käme.

      »Du hast es schwer genug.« Er hatte das Mitleid in ihrem Blick deutlich erkennen können. Schnell war sie gleich darauf davongeeilt.

      Er war geblieben und hatte sich umgehend darangemacht, seinen letzten Silvaner zu schneiden, damit die Frauen morgen das Rebholz einsammeln und es in fest verschnürten Bündeln


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