Winzerschuld. Andreas Wagner

Winzerschuld - Andreas Wagner


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Fischs noch immer nicht erreicht.

      Ihn brachte es in Rage, dass sein gewohnter Spannungsaufbau jetzt in Trümmern lag. Nach dem letzten Schluck von seinem eigenen Sekt zog er mit geschlossenen Augen ein paarmal an der dicken Zigarre, die er sich extra für die Sitzung kaufte. Sonst rauchte er nicht, nur an diesem einen Tag des Jahres, dann aber immer die gleiche Marke: eine Romeo y Julieta No. 2, wie sie Winston Churchill geraucht hatte. Fünf Minuten dauerte das Zeremoniell für die innere Ruhe. Den Rest der Zigarre genoss er nach seinem Auftritt.

      Erst dann zog er sich um. Nachdem er den neuen Anzug fertig ausgepackt und die Hose angezogen hatte, bemerkte er jedoch das Fehlen der Büttenrede und durfte die Hose gleich wieder ausziehen. Der dünne synthetische Stoff spannte an seinen Oberschenkeln. Damit das Sakko an den Schultern und über dem Bauch passte, hatte er bei der Hose einen Kompromiss eingehen müssen. Es waren ja zum Glück keine Kniebeugen auf der Bühne zu vollführen. Ob das Material einer solchen Belastungsprobe gewachsen wäre, bezweifelte er. Dafür war der Aufdruck perfekt. Strahlende Farben. Das gute Stück sah in echt noch besser aus als auf dem Bildschirm seines Computers im Büro. Es machte richtig was her und erweckte dabei den Eindruck, als sei es aus einer riesigen britischen Flagge geschneidert worden.

      Das Thema Brexit lag in diesem Jahr auf der Hand. Aber keiner der anderen Redner der Kampagne ging es so an wie er. Auch keiner der ganz Großen der Mainzer Fernsehfassenacht. Die Nachrichten waren lange so voll davon gewesen, dass ihn das Thema selbst schon nervte. Es war zum Schreien, was da abging. Die Briten waren raus, aber immer noch wurde ständig darüber berichtet. Er trauerte ihnen keine Träne nach, wie die sich aufführten und im Nachhinein noch immer Forderungen stellten. Zum Glück besaß er nur eine Handvoll Weinkunden auf der Insel, die sich in den letzten Monaten mit regelrechten Hamsterkäufen zudem gut bevorratet hatten. So viel Wein hatte er noch nie über den Ärmelkanal geschickt.

      Der Brexit markierte natürlich nur den Einstieg für seine Büttenrede. Ein treffender Aufhänger für sein diesjähriges Thema, das er in deftigen Reimen zum Besten geben würde. Er hatte bereits das Johlen der vor Begeisterung tobenden Menge in den Ohren, obwohl er noch in seinem Geländewagen saß und wie ein Irrer dem Text nachjagte. Unter dem Kreischen des Publikums würde er den Austritt des Selztals aus der EU und den damit einhergehenden Anschluss an das englische Königreich proklamieren. Der »SEXIT«, wie er diesen Geniestreich nannte, bildete den erzählerischen Hintergrund, vor dem er sie alle aufmarschieren ließ. Jeden aus dem Dorf und der Umgebung, mit seinen kleinen und seinen großen Sünden. Und derer gab es mehr als genug. Er lachte auf.

      Einige hassten ihn dafür und kamen daher nicht mehr zur Sitzung. Die anderen liebten und verehrten ihn. Nicht wenige der Frauen im Publikum zeigten ihm das im Laufe der langen Nacht, die sich an die Sitzung anschloss. Carola würde es ihm nur mit einem Augenzwinkern andeuten. Er beabsichtigte, ihr auch in diesem Jahr wieder ein paar Minuten später in die Lehrerumkleide zu folgen. Marion würde zu diesem Zeitpunkt längst daheim sein. Sie ging immer sofort nach dem Finale, weil der Magen, der Kopf, die Füße oder sonst irgendetwas schmerzte. Er war vorbereitet – auf Carola und auf alles andere, was ihn heute Nacht noch erwartete. Nach der halben Stunde im Scheinwerferlicht und den gefeierten Zugaben war sein Körper so mit Adrenalin geflutet, dass er bis in die Morgenstunden Vollgas geben konnte. In seinem Magen pulsierte bereits die Hitze.

      Entschlossen trat er auf das Bremspedal und betätigte die Kupplung, um in den zweiten Gang zurückzuschalten. Die Bremswirkung des Motors benötigte er, um vor der Selzbrücke rasant nach links in die parallel zum Fluss verlaufende Allee einzubiegen, die nach ein paar hundert Metern zu seinem Hoftor führte. Auf der kurzen Strecke beschleunigte er nicht mehr, weil er bereits damit beschäftigt war, nach der Fernbedienung für die zweiflügelige schmiedeeiserne Toranlage zu tasten. Genervt drückte er mehrmals auf die kleine rote Taste, doch die Warnleuchte, die signalisierte, dass sich das Tor öffnete, wollte nicht aufflackern. Er donnerte die Fernbedienung kräftig auf das Gummi des Lenkrads und versuchte es dann noch einmal. Na endlich!

      Das rote Blinklicht ließ die mächtige Mauer aus grob gehauenen Bruchsteinen, die sich zu beiden Seiten des Tores gut zehn Meter hinzog, für winzige Augenblicke rhythmisch aufleuchten. Die hellen Strahler seines Geländewagens erfassten nach und nach die Auffahrt hinter den sich langsam öffnenden Flügeln.

      Jetzt erst fiel sein Blick auf die seitliche Umgrenzung seines Grundstücks. Riesige verwackelte Buchstaben in brauner Farbe zogen sich über die gesamte Breite der rechten Mauer: »SCHULD UND SÜHNE«.

      Winternheimer riss die Handbremse in die Höhe, schleuderte die Tür auf und sprang aus dem Wagen. Die rote Warnlampe erlosch im selben Moment. Er spürte, wie der weiche Boden unter seinem rechten Fuß nachgab. Der üble Geruch, der gleichzeitig in seine Nase stieg, bestätigte seine Befürchtung. Ungläubig hetzte sein Blick zwischen dem großen Haufen unter seinem glänzenden schwarzen Lackschuh und den riesigen Lettern hin und her. Dann hieb er so fest mit der rechten Hand auf die Motorhaube, dass ihm der Schmerz bis in die Schulter fuhr. Diesen Abend würde Marion niemals vergessen!

      3

      »Im letzten Jahr war der Till aber besser.« Posthalters Sigrun schenkte sich schwungvoll den letzten Rest Secco in ihr noch nicht vollständig geleertes Glas und stellte die Flasche dann ganz beiläufig zurück zwischen die vielen anderen. Ihre beiden Freundinnen schienen zum Glück nicht bemerkt zu haben, dass sie sie leer gemacht hatte.

      Die Käfergässer Gerda nickte mit dem für sie typischen Gesichtsausdruck, der deutlich machte, dass sie kein Wort verstanden hatte. Ihr Hörgerät musste schleunigst neu eingestellt werden. So machte das doch keinen Sinn. Eine Fassenachtssitzung von weit mehr als fünf Stunden, ohne etwas mitzubekommen? Wobei, wenn sie ernsthaft darüber nachdachte, wäre es bei manch einem Beitrag des heutigen Abends gar nicht so schlimm gewesen, wenn sie nur die Hälfte oder gar nichts verstanden hätte. Bei dem aus Finthen eingekauften Profiredner zum Beispiel, dessen Namen sie vergessen hatte, der aber schon zum zweiten Mal hier bei ihnen im Ort aufgetreten war und aus diesem Grund wohl meinte, einfach den Vortrag vom Vorjahr wiederholen zu können. Sie war vierundachtzig, aber noch gut beieinander und hatte es daher schon nach dem zweiten Satz gemerkt. Seine Witze waren zudem schlecht und wurden durch die Wiederholung auch nicht knackiger.

      »Viel besser war er im letzten Jahr! Und er hat streng gerochen diesmal.« Die Chaussee-Helga reckte sich in ihrem viel zu engen Blumenkostüm in die Höhe und langte ebenfalls nach der Seccoflasche. Sigrun drehte sich schnell zur Seite, aber da saß niemand mehr, mit dem sie ein Gespräch hätte anfangen können, um dem Zwangsläufigen zu entkommen. Sie waren mit wenigen anderen Alten die Letzten im großen Saal. Die übrigen Gäste waren mit dem letzten Takt des großen Finales nach oben ins Foyer gestürmt, um sich nach den vielen Stunden im Sitzen endlich bewegen zu können. Dumpf hallten die Bässe der modernen Musik zu ihnen herunter. Dafür war es in der großen Halle endlich so ruhig, dass man sich ungestört und ohne Schreierei über die Höhe- und Tiefpunkte dieses Abends unterhalten konnte. Ihre gemeinsame Sitzungsbilanz war fester Bestandteil der Fassenacht, vorher ging sie nicht nach Hause. Obwohl sie arg mit der Müdigkeit zu kämpfen hatte. Normalerweise lag sie um Mitternacht schon seit einigen Stunden im Bett oder schlief im Wohnzimmer auf dem Sofa, weil ihr während einer der Volksmusiksendungen die Augen zugefallen waren. Die Nachsitzung, in der man als erfahrener Zuschauer sämtliche Beiträge einer wohlwollenden Kritik unterzog, gehörte einfach dazu. Von der schwerhörigen Gerda war in dieser Hinsicht heute nur wenig zu erwarten. Aber auf Helgas spöttische Bemerkungen zu den einzelnen Beiträgen des Programms freute sie sich. Fragend blickte sie nun in ihre Richtung, allerdings aus einem ganz anderen Grund.

      Helga hielt die Flasche, aus der nur noch vereinzelte Tropfen herausfielen, senkrecht über ihr Glas. »Leer. Dann bist du jetzt dran!«

      »Von mir war die erste.« Sigrun nahm Abwehrhaltung ein und bemühte sich um einen empörten Gesichtsausdruck. Weil sie den feinen schwarzen Velourshut ihrer Mutter mit dem dunklen Netzschleier trug, wusste sie allerdings nicht sicher zu sagen, ob Helga das überhaupt erkennen konnte.

      »Von wegen!« Helgas lautes Organ zog die Aufmerksamkeit des Nachbartischs auf sich. Sie fuchtelte mit dem Zeigefinger in der Luft herum. Wenn sie so weitermachte, würde die Naht unter ihrem Arm endgültig kapitulieren. Dort klaffte jetzt


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