Winzerschuld. Andreas Wagner

Winzerschuld - Andreas Wagner


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Eleonore musste weg. Raus aus dem Haus. Das war nicht mehr zu schaffen. Der Junge blieb hier. Er konnte doch nichts dafür, dass seine Mutter nie richtig für ihn würde sorgen können.

      7

      »Das war eine Sitzung!« Renate seufzte selig. Ihre Kaffeetasse hielt sie auf Höhe ihres Mundes, wodurch ihr Kopf zur Hälfte verdeckt wurde. Sie sog genussvoll das Aroma ein.

      Kurt-Otto sah sich noch nicht in der Lage, ein abschließendes Urteil zu fällen. In seinem Kopf dröhnten noch immer die tiefen Bassschläge der Nacht. Sein Magen rumorte unwillig. Er hatte Kopfschmerzen, und ihm war schlecht. Die wenigen Stunden, die nach ihrer Rückkehr im Morgengrauen von der Nacht übrig geblieben waren, hatte er nicht selig verschlafen können, sondern mit Sodbrennen wach gelegen. Sauer sprudelnd hatte sich die Magensäure den Weg nach oben gebahnt. Nicht einmal die beiden dicken Daunenkopfkissen, die er sich aus dem Gästezimmer geholt hatte, um die Fließrichtung des Mageninhalts wieder der Schwerkraft anzupassen, hatten sein Leid lindern können.

      Nachdem sie Eugen Werum notdürftig verarztet und der Obhut der herbeigerufenen Sanitäter übergeben hatten, war der Abend vollends aus dem Ruder gelaufen. Renate hatte einfach nicht nach Hause gewollt, weshalb Kurt-Otto sich schließlich in sein Schicksal fügte und beschloss, sich nicht mehr in die hinterste Ecke des Foyers zu zwängen. Das war sein Fehler gewesen. Wie lange und wie oft hatte Hans Menges immer wieder das gleiche Gezeter von sich gegeben? Das war alles nur mit süßem Morio-Muskat-Sekt zu ertragen gewesen. »Winternheimer, das Schwein! Der Verbrecher! Mir hätte er fast die Frau weggenommen! Den Schädel schlage ich ihm ein, wenn er es noch einmal versucht. Ehefrauen gehören nicht auf eine Fassenachtssitzung. Viel zu gefährlich! Nur unter Aufsicht. Oder gleich daheim lassen, wie bei mir.«

      Den Rest seines Monologs hatte Kurt-Otto erfolgreich im Sekt ertränkt und mittlerweile weitgehend vergessen. Menges hatte auch dann noch weiter vor sich hin geplappert, als ihm längst schon keiner mehr zuhörte.

      Ein spitzer Schmerz fuhr Kurt-Otto in den Schädel und signalisierte, dass die bloße Erinnerung daran tunlichst zu vermeiden war. Es wollte ihm aber nicht gelingen. Er stöhnte vernehmbar.

      Renate lächelte versonnen und trank schlürfend ihren heißen Milchkaffee.

      Ein halbes Dutzend Winzerkollegen hatte sich nach und nach zu ihnen gesellt. »Auf einen Secco mit der Edelfäule!« Berthold Baumann, Gustav Eifinger aus Stadecken und Klaus Dörrhof waren auch dabei gewesen. Da Klaus der Pächter eines nicht unbedeutenden Teiles seiner Weinberge war, schien er sich bemüßigt zu fühlen, eine Flasche nach der anderen seines wirklich guten Perlweins zu ordern, den sie hier im Ausschank hatten. Dass sie ihn den Rest der Nacht alle nur noch mit »Kurt-Botrytis-Cinerea Hattemer« anredeten, hatte er wacker zu überhören versucht. Immerhin besser, als wenn sie ihn Graufäule genannt hätten.

      Ob sich Renate jemals Gedanken darüber machte, wie hartnäckig sich ein aus der Weinlaune eines Fassenachtsabends geborener Spitzname halten konnte? Manche Bewohner ihres Dorfes trugen bis heute die Beinamen längst verstorbener Vorfahren. Sie konnten tun und lassen, was sie wollten, die mitunter bösen und herabwürdigenden Uznamen wurden sie nicht wieder los. Wollte seine Frau denn wirklich mit einem Winzer im Ruhestand zusammenleben, den alle im Dorf nur noch »den Grauschimmel« nannten?

      Ganz vorsichtig, um jede Erschütterung zu vermeiden, griff er nach seiner Kaffeetasse und überprüfte, ob Renate schon Kondensmilch hineingegossen hatte. Er wollte die Auswirkungen der Nahrungsmittel auf seinen grollenden Magen nach und nach testen, um zur Not kurzfristig reagieren zu können. Keine unkalkulierbaren Mischungen. Vorsichtig nahm er einen kleinen Schluck in den Mund und ließ ihn auf der Zunge kreisen. Sein Magen verlautbarte halbwegs versöhnliche Töne. Das Problem war lediglich sein Schädel.

      »Dass du aber auch nie nach Hause willst!«, sagte er leidend. Seine Stimme klang heiser.

      Renate sah ihn leicht amüsiert an, bevor sie antwortete. »Soll ich lachen?« Sie verzog das Gesicht in gespielter Empörung. »Wer von uns beiden hat sich denn um kurz vor vier widerstrebend an der Theke der Sektbar festgehalten und mich genötigt, noch zwei Secco mit ihm zu trinken?« Sie hob ihre Kaffeetasse und wollte mit ihm anstoßen. »Zum Wohl! Auf den Blauschimmel!« Sie hielt kurz inne, als würde sie nachdenken. »Oder war es der Äscherich?«

      Kurt-Otto zuckte zusammen. Die Erinnerung schmerzte. Er hatte wieder Menges’ lallende Stimme im Ohr: »Alles Scheiße, alles Mist, wenn du nicht besoffen bist.« Stöhnend fasste er sich an die Stirn. »Bitte hör auf damit.«

      »Einen einzigen Luftballon hast du über die Nacht gerettet. Alle anderen waren weg oder geplatzt, und deine neue Wintermütze ist auch verschwunden. Deswegen hatten wir bei der Preisvergabe keine Chance! An mir lag es nicht. Bei mir hat mehr als die Hälfte überlebt. Weißt du noch, wo du die Mütze ausgezogen hast? Dann kann ich nachher zur Sporthalle fahren und sie suchen.« Renate stellte die Tasse vor sich ab. »Die war wirklich schön und nicht billig. Ich wollte die Plastiktrauben wieder abtrennen und sie dir zu deinen Arbeitsklamotten legen. Im nächsten Januar hättest du sie beim Rebschnitt tragen können.«

      Kurt-Otto versuchte zu ergründen, ob sie das wirklich ernst meinte. Ihr Gesichtsausdruck gab ihm keine eindeutige Antwort. Er würde alles tun, nur nicht mit einer leuchtend grünen Wollmütze im Frühjahr im Teufelspfad Reben schneiden. Kahle Hänge, keine Blätter, grauer Hintergrund. Diese Kopfbedeckung würde ihn auf Kilometer erkennbar machen. Der nächste Spitzname, der womöglich von Dauer sein könnte, fiel ihm ein: die grüne Steuerbordboje im Südhang. Nein danke, darauf konnte er gut verzichten, zumal er nicht wusste, wann und wo im Weit der närrischen Höhle er die Krönung seiner Verkleidung abgenommen hatte. Er hoffte inständig, dass sie längst im großen Abfallcontainer hinter der Halle gelandet war und der thermischen Verwertung im Mainzer Müllheizkraftwerk zugeführt wurde. Wobei das nicht zwangsläufig geschehen musste. Elfriede Kappel leitete wie ein General den für die Reinigung der Halle zuständigen Ordnungstrupp des Fassenachtsvereins, dem neben einigen älteren Damen als einziger Mann Elfriedes Gatte angehörte, der ebenso widerstandslos wie alle anderen ihre barschen Befehle entgegennahm. Sie hegte eine gewisse Freude daran, verloren gegangene Kleidungsstücke und Accessoires ihren Eigentümern zurückzubringen. Garniert mit spitzen Bemerkungen, wo und unter welchen Umständen sie sich des Flachmanns mit Monogramm, des Büstenhalters oder des Strumpfbands wohl entledigt hatten. Sämtliche Versuche, die großflächige Verbreitung solchen Detailwissens zu unterbinden, waren in der Vergangenheit gescheitert. Am besten würde er sich nachher, wenn der größte Teil seines Restalkohols abgebaut und die Fahrtüchtigkeit wiederhergestellt war, selbst mit seinem Traktor in Bewegung setzen und für die vollständige und unwiederbringliche Eliminierung seiner Kopfbedeckung sorgen. Es war allerdings noch nicht absehbar, wann und gegebenenfalls ob dieser Zustand überhaupt jemals wieder erreicht sein würde. »Jetzt ist es aber auch gut mit der Feierei. Zum Glück ist Fassenacht erst wieder in einem Jahr.«

      Renate reckte sich in die Höhe und blickte ihn entgeistert an. »Das ist nicht dein Ernst. Du kennst unser Programm, und du weißt, wie sehr ich diese Tage liebe und die Tradition unterstützen will!«

      Kurt-Otto sank in sich zusammen. Zum Glück ersparte sie ihm die Aufzählung der Höhepunkte bis zum Aschermittwoch. Der Auftakt war mit der gestrigen großen Sitzung im eigenen Dorf vollbracht. Es folgte eine dringend nötige Phase der Ruhe und Regeneration, bevor es am kommenden Donnerstag mit der Altweiberfassenacht weiterging. Renate verschwand an diesem Tag schon frühmorgens, um direkt nach dem Unterricht mit einem Pulk überdrehter Kolleginnen das Nieder-Olmer Gymnasium in Richtung Mainzer Domplatz zu verlassen. Da der Direktor ihrer Schule dem Komitee eines der größten Fassenachtsvereine der Landeshauptstadt angehörte, gewährte er seinem Kollegium stets freigiebig Sonderurlaub, den die Damen nur zu gerne zum gemeinschaftlichen Feiern nutzten. Ein zusätzlicher Tag der Erholung für Kurt-Otto, bevor der Wahnsinn nicht mehr aufzuhalten war.

      Die Fassenachtsposse im Staatstheater, der Ball der Prinzengarde in der Rheingoldhalle, die Prunkfremdensitzung im Schloss und mindestens zwei Umzüge in den umliegenden Ortschaften waren sein von Renate eingeforderter Mindestbeitrag zum Erhalt des lokalen Brauchtums, das, so wurde sie nicht müde zu betonen, davon lebte, dass sich die Einheimischen beteiligten. Ansonsten überließ man Frohsinn


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