Winzerschuld. Andreas Wagner

Winzerschuld - Andreas Wagner


Скачать книгу
sie denken konnte, redeten sie und Daniel über alles. Sie gehörten zusammen, von Anfang an. Winternheimers Zwillinge. Schon immer waren aber auch ihre Anteile am Gespräch ungleichmäßig verteilt. Daniel geizte mit langen Ausführungen. Seine Meinungsäußerungen waren stets kurz und knapp. Sie mochte diesen Wesenszug ihres Bruders und war manchmal neidisch, dass sie selbst die Dinge nicht so auf den Punkt bringen konnte wie er.

      »Ich habe es ihm gestern gesagt.«

      »War er deswegen nicht dabei?«

      »Ich denke, ja. Ganz ahnungslos kann er nicht gewesen sein. Ich hatte auch nicht das Gefühl, dass er noch voll dahintersteht. Zwischen uns plätscherte es so dahin in den letzten Wochen. Das kann es doch nicht sein.« Sie schob die Wasserkiste mit dem Fuß ein Stück weiter. Das Plastik knirschte auf dem rauen Betonboden.

      Gestern Nachmittag hatte sie geweint und eigentlich nicht mit zur Sitzung gewollt. Ihr Vater hatte aber nicht mit sich reden lassen. Nach der ausgelassenen Party im Anschluss daran sah die Welt schon wieder ganz anders aus. Sie fühlte sich in ihrem Entschluss bestätigt. Es passte einfach nicht.

      »Da wird unser Vater aber enttäuscht sein.«

      Sie bemerkte den sarkastischen Tonfall in Daniels Stimme. Er hatte sie in den vergangenen Wochen und Monaten häufig genug damit aufgezogen. »Alle Erwartungen ruhen auf dir.« – »Auf dich kann man sich verlassen. Ganz im Dienste der Familie, der Dynastie.« – »Der große Schritt für die Zukunft des Reichelsheimer Hofes.« Ihr Vater hatte sich hingegen weitgehend zurückgehalten. Sie wusste, dass Jochen und vor allem dessen Vater Klaus nicht zu seinen liebsten Winzerkollegen zählten. Schnee von gestern nach ihrem Entschluss und dem knappen Gespräch mit Jochen. »Ist Papa schon aufgetaucht?«

      »Ich habe ihn nicht gesehen.« Er hielt kurz inne. »Sie aber auch nicht.«

      »Lass Mama in Ruhe. Das ist einzig und allein ihre Entscheidung.«

      Daniel fuhr herum und blickte sie lauernd an. »Schätzchen, du weißt, dass das nicht stimmt. Ich habe es dir vorgestern schon mal erklärt.« Er kam auf sie zu. Die Wasserflasche war nur halb voll, der Wein darin schimmerte noch trüber als der, den sie frisch aufgerührt hatte. Daniel schien das egal zu sein. »Es ist alles andere als allein ihre Entscheidung, weil es dabei um unsere Zukunft geht. Sie macht unsere Pläne zunichte! Wenn sie das wirklich durchzieht, brauchen wir mit dem Ausbau gar nicht erst anzufangen. Unter diesen unsicheren Bedingungen wird uns die Bank kaum den benötigten Kreditrahmen einräumen.« Verärgert wandte er sich ab, er schien einen Moment zu brauchen, um sich zu sammeln.

      Sie kannte das schon. Er wiederholte nur, was er bereits neulich lautstark deutlich gemacht hatte. Was das betraf, waren sie verschiedener Meinung, doch sie wollte sich nicht mit Daniel streiten. Als sie eben einen versöhnlichen Ton anschlagen wollte, fuhr er dazwischen: »Sie hat einen Neuen! Und das macht die ganze Sache noch komplizierter.«

      »Sei still«, zischte sie. Obwohl sie hier unten zwischen den Fässern niemand hören konnte, wollte sie das Gespräch nicht in dieser Lautstärke führen. Ihr Vater würde bis Mittag nicht ansprechbar sein, er schlief seinen Sitzungsrausch aus, und Mamas Schlafzimmer, in das sie heute Nacht beim Nachhausekommen einen ersten Blick geworfen hatte, war auch vorhin noch leer und das schmale Bett unberührt gewesen.

      »Du willst die Wahrheit nicht hören! Du hast es mir doch selbst gesagt! Das ist ihre Sache, natürlich, aber nur, solange sie es nicht durchzieht. Es zerreißt unsere Familie. Na gut. Vielleicht nicht sofort. Aber was ist, wenn der Neue sie drängt, reinen Tisch zu machen? Hast du darüber mal nachgedacht? Wenn sie ihren Anteil möchte, wird es teuer. Und selbst wenn das nicht der Fall ist, denke nur mal ein Stück in die Zukunft. Unsere Mutter lässt sich scheiden und heiratet ihren Neuen. Gehört ihm dann auch ein Teil von alldem hier?« Daniel blickte sie fragend und herausfordernd an. Seine Augen waren gerötet. Er schnaufte.

      »Du denkst immer nur an das Geld!« Laura spürte, wie ihr die Tränen in die Augen schossen. Die Umrisse ihres Zwillingsbruders verschwammen und wurden eins mit den in Reihe stehenden Edelstahlbehältern, in denen die Weine des neuen Jahrgangs reiften. Sie verschränkte abwehrend die Arme vor der Brust. »Sie hat es ertragen, all die Jahre, wegen uns!«

      »Das weiß ich doch.« Seine Stimme klang jetzt weniger aggressiv. Sie wusste, dass er sie nicht weinen sehen konnte. Einen Moment lang herrschte Stille.

      Aus einem der Fässer hinter ihr drückte sich eine Luftblase durch das Wasser im Gärröhrchen nach oben. Das Geräusch, das dadurch verursacht wurde, klang wie das ausgelassene Blubbern, das sie als Kind so gerne mit dem Strohhalm produziert hatte, um ihren Vater aus der Reserve zu locken. Höchstens zweimal hatte sie kräftig hineinblasen müssen, damit er mahnend von seinem Teller aufblickte. Bis zum Verbot des Sandmännchens hatte sie noch drei bis vier weitere Versuche, abhängig von seiner Laune und davon, wie gut es ihr gelang, ihn mit ihrem Lächeln milde zu stimmen.

      Bei Daniel ging es meistens schneller. Er schaffte höchstens zwei Versuche bis zum Fernsehverbot. Und Milde konnte er selten erwarten. Lauras Lächeln wirkte bei ihrem Vater heute noch genauso. Sie wurde daher von Daniel in den letzten anderthalb Jahren immer dann vorgeschoben, wenn es darum ging, dem Vater die benötigten Summen für neue Geräte aus den Rippen zu leiern. Sie brauchte selten lange, um ihn von der Notwendigkeit zu überzeugen.

      Bei der optischen Traubensortieranlage war etwas mehr Einsatz nötig gewesen, dieser Investition hatte ihr Vater erst nach Wochen zugestimmt. Vor dem Herbst war sie geliefert und aufgebaut worden. Den gesamten Jahrgang hatten sie, bis auf wenige Ausnahmen, darüber laufen lassen. Das Ergebnis war beeindruckend gewesen. Jede der vier Spezialkameras war mit sechzehn Druckluftdüsen verknüpft. Im freien Fall erkannten sie schadhafte, faule und unreife Beeren und schossen diese bereits im Flug heraus. Das ging in einem derart rasenden Tempo vonstatten, dass die Anlage bis zu fünf Tonnen Trauben pro Stunde selektieren konnte. Und zwar weit sauberer, als es ihre Truppe bei der Handlese hinbekam. Das hatte auch ihren Vater überzeugt, obwohl er immer noch jedes Mal den Kopf schüttelte, wenn er an der neuen Traubenverarbeitungslinie vorbeikam, die an der Kelter endete. Zusammen mit dem auf die Sortieranlage abgestimmten neuen Entrapper hatten sie dafür mehr als hunderttausend Euro ausgegeben.

      Das war aber alles nur ein Klacks im Vergleich zu dem, was sie in den nächsten fünf Jahren vorhatten. Drei Bauabschnitte, mit denen sie den Reichelsheimer Hof fit für die nächsten Jahrzehnte machen würden. Die Planung stand, die Finanzierung war ambitioniert, aber machbar, und sie würden zudem einen ordentlichen Zuschuss aus der EU-Förderung bekommen. Sie hatten mehr als ein halbes Jahr intensive Arbeit in dieses Projekt investiert, zusammen mit dem Architekten aus Mainz und dem Kellereiausstatter aus Alzey. Inzwischen gab es nur noch Details zu klären, bevor es Mitte des kommenden Jahres endlich losgehen konnte.

      »Er ist Anwalt, Schwerpunkt Immobilienrecht.« Daniel riss sie aus ihren Gedanken. Sie musste sich kurz sortieren, ehe sie antwortete.

      »Hast du ihr nachspioniert?« Sie fuhr sich über die Augen, obwohl sie ahnte, dass es das Brennen nur noch schlimmer machte. Gleich würden die Tränen richtig fließen. Sie kämpfte erfolglos dagegen an.

      »Das ist mein gutes Recht! Ich muss wissen, was uns erwartet. Und tu nicht so! Du weißt das alles schon längst. Mit dir redet sie darüber, mit mir nicht. Wenn sie geht und es ernst wird mit dem Neuen, sind die nächsten Schritte klar: Scheidung und Aufteilung. Und der Lover unserer Mutter wird schon wissen, was ihr zusteht. Die Hälfte von allem, was in den letzten fünfundzwanzig Jahren verdient worden ist. Du brauchst sicher keinen Taschenrechner, um zu erkennen, dass uns das auf Jahre hinaus aller finanziellen Möglichkeiten beraubt. Selbst wenn es so weit nicht kommt, weil sie ihre Hälfte nicht sofort einfordert, werden wir uns in Zukunft bei jeder Entscheidung umständlich mit ihr und ihrem Lover abstimmen müssen. Die Pläne des Architekten für unsere Neubauten kannst du also getrost in die Tonne hauen. Das Thema ist durch. Wir kriegen erst mal keinen Cent von der Bank.«

      »Das weißt du doch gar nicht. Und warum sollte Mama das wollen?« Sie schluchzte, fing sich aber sogleich wieder. »Sie hat mir gesagt, dass sie es nicht mehr aushält, dass es immer schlimmer wird.« Sie flüsterte jetzt. »Daniel, du weißt, dass er sie schlägt. Wir haben das schon als kleine Kinder mitbekommen.«


Скачать книгу