Winzerschuld. Andreas Wagner

Winzerschuld - Andreas Wagner


Скачать книгу
vorbei zum Hintereingang der Halle. Die Stahltür stand offen. Ein Blick nach rechts bestätigte seine Vermutung, dass er mit seinem Eindringen ein gewisses Risiko auf sich nahm. Fein säuberlich lagen dort bereits die ersten Fundstücke aufgereiht auf einer Bierbank. Elfriede Kappels in stetigem Wachstum befindliche Trophäensammlung der diesjährigen Kampagne, die sie in einer kleinen Ausfahrt am morgigen Sonntag ihren Eigentümern zurückbringen würde. Soweit sich diese ermitteln ließen. Zur Not würde sie jeden, den sie aufsuchte, um Mithilfe bei den Nachforschungen bitten, sodass jeder im Dorf bald über alle verlorenen Kleidungsstücke und Utensilien Bescheid wusste. Da die obere Halle als Garderobe der großen Gruppen diente, verwunderte es ihn nicht, dass bereits mehrere farbige Unterwäscheteile zur Rückgabe bereitlagen.

      Kurt-Otto eilte lautlos in die große Halle. Er kontrollierte, ob er wirklich allein war, und lenkte seine Schritte umgehend in Richtung seines Sitzplatzes vom Vorabend. Er spürte den Herzschlag in seiner Brust. Der Hallenboden federte unter seinen Füßen. Es roch nach getrocknetem Alkohol und den süßlichen Ausdünstungen schwitzender Fassenachter. Die Tische schienen von den Bedienungen abgeräumt worden zu sein, doch die fleckigen Papiertischdecken lagen noch auf. Resigniert musste er feststellen, dass weder unter dem Tisch noch auf den Stühlen seine Traubenkappe zu finden war.

      Zielstrebig und mit äußerster Vorsicht steuerte er den Ausgang zum unteren Foyer an. Dort hoffte er sie irgendwo in den Ecken oder an der Sektbar zu finden.

      Durch die Glastür verschaffte er sich zunächst einen Überblick über das Schlachtfeld. Der große Saal hatte im Vergleich hierzu noch recht zivilisiert ausgesehen. Auf den Fliesen hatten sich Luftschlangen, Konfetti sowie zu kleinsten Splittern zertretene Sekt- und Weingläser mit den flüssigen Resten alkoholischer, zuckriger Erfrischungsgetränke zu einem tragfähigen Bodenbelag verdichtet. Würde der Ordnungstrupp diesen später, um ihn zu entfernen, mit der Trennscheibe in handliche Teile schneiden? Es knirschte unter seinen Zehenspitzen, als er das Foyer betrat. Über ihm war das Klirren von Flaschen zu hören. Ein Staubsauger heulte gedämpft auf. Die Helfer schienen wirklich alle oben in der kleinen Halle zugange zu sein. Gehetzt umrundete Kurt-Otto die Sektbar. Die Palmwedel aus Kunststoff sahen aus, als ob ein tropischer Taifun über sie hinweggegangen sei. Das passte zum Gesamteindruck des Raumes.

      Es war kein Hinweis auf seine verschollene Kopfbedeckung zu finden. Nicht einmal eine herrenlose, platt getretene blaue Kunststoffbeere ließ sich ausmachen. Er drehte zur Sicherheit eine zweite Runde um die Sektbar und kontrollierte zusätzlich sämtliche Ecken und Winkel. Ob Elfriede Kappel sie schon sichergestellt hatte? Erschien sie morgen mit der Mütze in der Hand bei ihnen daheim und Renate öffnete die Tür, würde er die leuchtende Kopfbedeckung danach nicht mehr so einfach verschwinden lassen können.

      Dann dämmerte ihm, dass es noch eine weitere Möglichkeit gab. Der am Boden festgetretene Unrat hatte ihn auf diese Idee gebracht. Die schmalen Gänge zwischen den Tischreihen nebenan im Saal waren zwar klebrig gewesen, aber weitestgehend frei von Müll. Vielleicht hatte die bedauernswerte Schlussschicht des gestrigen Abends schon notdürftig durchgefegt? Beschäftigungslos, weil die letzten Narren einfach nicht gehen wollten, aber kaum noch Betreuung brauchten? Eilends verließ er die in Trümmern liegende »Narrhalla« und hatte gleich darauf den Müllcontainer erreicht. Der Geruch ließ selbst bei geschlossenem Deckel Ekel in ihm aufsteigen. War er schon bereit dafür? Er schluckte die Erinnerung an den süß sprudelnden Morio-Muskat-Sekt hinunter. Nur ein kurzer Blick, um sicherzugehen, dass die leuchtend grüne Traubenkappe mit den roten Beeren nicht obenauf lag und Elfriede unglücklich ins Auge sprang, wenn sie nachher den ersten Müllsack herunterschleppte.

      Kurt-Otto hielt die Luft an und langte nach dem Griff. Er spannte seine Armmuskeln. Sein Kopf schmerzte in Erwartung des Geruchs, der ihm gleich ungebremst entgegenschlagen würde. Donnernd fuhr der schwere Deckel nach hinten. Der Anblick dessen, was er sah, ließ ihn erstarren. Sie lag direkt neben seiner Kappe. Ihre weiße Haut leuchtete fast. Die verdreckte Bluse war aufgerissen, die großen Blüten der Sonnenblumen darauf kaum noch zu erkennen. Aus weit aufgerissenen Augen starrte sie ihn an. Ihre welligen roten Haare verloren sich im Meer aus Unrat, auf dem sie ruhte.

      11

      Entschlossen betätigte Lukas Horn den Taster der Elektroschere. Ein kaum vernehmbares Summen drang an seine Ohren. Sein Schnaufen überlagerte das Geräusch, als die Messer tief in das harte Holz des Rebstocks schnitten und es durchtrennten. Wenn er sich ganz auf seine Tätigkeit konzentrierte, ließen ihn die Erinnerungen für einen Moment in Ruhe. Dann spürte er die Narbe an seinem linken Zeigefinger; Fluch und Segen des technischen Fortschritts. Früher waren alle Weinberge mit Scheren und reiner Muskelkraft geschnitten worden. Für die dickeren, verwachsenen Teile der Rebe führte man einen kleinen Fuchsschwanz am Gürtel mit sich. Die Säge wurde vor allem bei den am Stamm sehr wüchsigen Sorten wie dem Portugieser benötigt. Mit der kleinen Rebschere kam man da nicht weiter, zudem sorgte sie für unnötige Verletzungen an der Pflanze, die Krankheiten Vorschub leisteten. Damals waren ein schmerzender Unterarm und eine Sehnenscheidenentzündung die ständigen Begleiter eines jeden Winzers während der ersten Monate des neuen Jahres.

      Später ersetzte die Astschere mit ihrer größeren Hebelwirkung die gebogene kleine Säge, dann hielt die Motorisierung Einzug in die Weinbergsarbeit. Im Januar und Februar hallte das Knattern der kleinen Kompressormotoren durch den Teufelspfad. Sie sorgten für den nötigen Luftdruck, um die Scheren ohne großen Krafteinsatz betreiben zu können. Er selbst hatte auch noch damit geschnitten. Sein erster Ausbildungsbetrieb verfügte über zwei Elektroscheren, eine für den Chef und die andere für den angestellten Winzermeister. Ihm als Auszubildenden war dieser Luxus nicht vergönnt gewesen, er hatte am Schlauch gehangen, der vom Kompressor Hunderte Meter weit bis in den Schaft der Schere führte. Bei jedem Schnitt zischte es. Das Geräusch hatte ihn abends in den Schlaf begleitet und morgens beim Aufwachen wieder begrüßt. Nach drei Wochen hatte er das Gefühl gehabt, seine Hüfte stünde unter Dauerzug, weil er sich ständig gegen die Spindel stemmen musste, die den Druckluftschlauch unter Spannung hielt.

      Seine erste Investition nach dem Einstieg in den Betrieb war daher die Anschaffung einer Elektroschere gewesen, deren Akku platzsparend in einen Rucksack eingearbeitet war, den man ohne Folgeschäden wochenlang auf dem Rücken mit sich herumschleppen und mit dem man den ganzen Tag bequem schneiden konnte. Voraussetzung war, dass man nicht vergaß, den Rucksack abends an den Strom zu hängen. Nur einmal war ihm das passiert, mit unangenehmen Folgen. Daher stammte die Narbe, die er bis heute spürte.

      Es gab eben diese Scheißtage, an denen alles zusammenkam. Am Kaffeetisch hatte sein Großvater ihm schonend beizubringen versucht, dass sie ihren größten Weinberg nach dem nächsten Herbst zurückgeben müssten. Der Pachtvertrag lief aus. Das wusste er selbst. Der Weinberg gehörte Helga Schöneberger, die im Dorf von allen nur die Chaussee-Helga genannt wurde, weil sie im letzten Haus am Ortsausgang in Richtung Mainz lebte. Helgas Kinder waren weggezogen. Sie hatten kein Interesse am Weinbau, daher hatte die Chaussee-Helga die Fläche an seinen Großvater verpachtet, vor zwanzig Jahren schon. Nach so langer Zeit hatte er es für eine Selbstverständlichkeit gehalten, dass er den knappen Hektar im Kalksteingeröll der Abbruchkante des Teufelspfads weiter würde bewirtschaften können, zumal sich die Verträge nach dem Auslaufen automatisch um ein weiteres Jahr verlängerten, bis man sich bei Gelegenheit zusammensetzte, um einen neuen Pachtvertrag abzuschließen.

      Doch die Rechnung hatte er ohne den Dörrhof gemacht, und er hätte es wissen müssen. Den Ruf, sich in bestehende und auslaufende Verträge hineinzudrängen, hatte er nicht umsonst. Das gehörte sich nicht! Anscheinend wusste er aber genau, wann und wie er ansetzen musste, um zu seinem Ziel zu kommen. Er hatte die Chaussee-Helga so lange bequatscht, bis sie ihm den schönen Weinberg zusicherte. Reichlich zerknirscht hatte sie das seinem Großvater an jenem Morgen gebeichtet.

      Der Zorn war kein guter Begleiter bei der Arbeit mit Maschinen. Da er den Akku der Elektroschere am Abend zuvor nicht aufgeladen hatte, war er mit der alten Druckluftschere losgezogen, rasend vor Wut, hatte aber auf den Gürtel verzichtet. Zum Schneiden brauchte man den Gürtel nicht unbedingt. Den Schlauch bekam man zur Not auch irgendwo an der Jacke befestigt. Allerdings verfügte der Gürtel zusätzlich über eine Schlaufe, in die man die freie linke Hand einhängen konnte, um damit nicht in den Schnittbereich der Schere zu geraten.


Скачать книгу