Winzerschuld. Andreas Wagner

Winzerschuld - Andreas Wagner


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sah sie, dass er vorsichtig näher kam. Sie spürte seine wohltuende Wärme und den sanften Druck, als er sie tröstend in die Arme schloss. Seine rechte Hand fuhr über ihren Kopf und schob sich am Zopf vorbei, um in ihrem Nacken zu verharren. Seine Hand war eisig kalt.

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      Ärztliches Zeugnis betreffend die Aufnahme der Eleonore Schultheis in die Hessische Heil- und Pflegeanstalt zu Eichberg im Rheingau.

      Anweisung für den einweisenden Arzt: Zur Ausstellung dieses dem Aufnahmegesuch beizufügenden Zeugnisses, das nur in sehr dringlichen Fällen durch ein kürzeres, die Aufnahmenotwendigkeit motivierendes ersetzt werden kann, ist unter Voraussetzung, dass die Angehörigen des Kranken mit der Aufnahme einverstanden sind, jeder in Deutschland approbierte Arzt berechtigt. Das ärztliche Zeugnis ist durch das Kreisgesundheitsamt nachzuprüfen und zu bestätigen.

      Name der Kranken: Eleonore Schultheis

      Geburtsort und Geburtsdatum: Essenheim, 8.10.1915

      Wohnort und genaue Adresse: Essenheim, Straße der SA 26

      Familienstand und Beruf: ledig, Mithilfe im landw. Betrieb des Bruders

      Entmündigt? Seit 1936, Vormund: Wenzel Hübner, Mainz

      Wer machte dem Arzt die folgenden Angaben: der Bruder der Kranken

      1. Was konnte der Arzt über die Herkunft, insbesondere über die Eltern und Geschwister des Kranken, in Erfahrung bringen? Besteht eine erbliche Belastung (Geisteskrankheiten, Tuberkulose, Syphilis, Trunksucht, Selbstmorde, abnormer Charakter etc.) durch Aszendenten oder Blutsverwandte? Ohne Befund

      2. Was konnte über das Vorleben des Kranken in Erfahrung gebracht werden? Besuchte in Essenheim die Volksschule. Kam gut mit und war anschließend noch ein halbes Jahr in der Haushaltungsschule. War immer etwas sonderlich, liebte vor allem keine Gemeinschaft. Mit 17 Jahren hatte sie öfters Wein- und Lachkrämpfe und sprach oft stundenlang nichts.

      3. Beginn der Erkrankung. Aus welchen Anzeichen wurde zuerst auf Geistesgestörtheit geschlossen? Seitheriger Verlauf der Krankheit. Wird die Erkrankung auf eine bestimmte und auf welche Ursache zurückgeführt? Welche ärztlichen Maßnahmen wurden bisher getroffen? Schizophrenie mit Verblödung. Meidet die Gemeinschaft, verließ manchmal ohne ordentliche Bekleidung ihre Wohnung, um sich irgendwo hinzusetzen und vor sich hin zu brüten.

      4. Aus welchen Gründen (Selbstmordneigung, Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung oder Gefährdung der Angehörigen, Gefahr der Verwahrlosung) hält der Arzt die Einweisung in eine geschlossene Anstalt und die Zurückhaltung des Kranken daselbst auch wider seinen Willen für notwendig? Gefahr der Verwahrlosung

      5. Wer trägt die Verpflegungskosten? Bauer Wilhelm Schultheis, Bruder der Kranken

      6. Wie hoch beläuft sich das Vermögen oder Einkommen des Geisteskranken und worin besteht es (Immobilien, Mobilien, Ausstände, Diensteinkommen, Zinsen, Renten und dergl.)? Circa 24 Morgen Ackerland und Weinberge, landwirtschaftlicher Besitz und Barvermögen der verstorbenen Eltern

      Datum und Ort der Untersuchung: Essenheim, 15.8.1944

      Datum der Ausstellung dieses Zeugnisses: 20.11.1944

      Unterzeichnender Amtsarzt: Dr. Willich, Medizinalrat, Staatliches Gesundheitsamt des Kreises Mainz

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      Kurt-Otto hatte bis nach dem Mittagessen gewartet und war dann aufgebrochen. Renate hatte ihm davor eine kräftigende »Katerbrühe« zubereitet und war dann zu ihren Kolleginnen gestoßen. Die Damen hatten noch reichlich zu tun, wollten sie ihre gemeinsame Kostümierung für den Altweiberdonnerstag rechtzeitig fertig bekommen. Vor einigen Jahren hatten sie sich mit einem Gewirr von Spielzeug-Gummischlangen auf dem Kopf so originell als Medusen aus dem Rhein hergerichtet, dass die Kameras des Südwestfunks gar nicht von ihnen ablassen wollten. Dadurch angespornt, investierten sie seither noch mehr Zeit in die Herstellung ihrer aufwendigen Verkleidung.

      Dass es ihm wieder recht gut ging, hatte Kurt-Otto daran gemerkt, dass er Lust verspürte, Renates feine Gemüsebrühe mit einer großen Dose Bratwurst gehaltvoll aufzuwerten. Schon der vertraute Duft aus der frisch geöffneten Fünfhundert-Gramm-Büchse hatte einen Teil seiner Lebensgeister zurückgebracht. Der fleischig herzhafte Geruch, der sich in der Hitze der Suppe verstärkte, nachdem er die weichen Bratwurstwürfel hineingeschnitten hatte. Gekrönt vom verheißungsvollen Anblick der zarten Augen, die sich gleich darauf auf der Oberfläche bildeten, weil sich das weiße Fett vom Rand der Dose, welches er zusammen mit dem durchsichtigen Gallert fein säuberlich ausgeschabt hatte, umgehend auflöste. Das herbe Gemüsearoma wurde wohltuend in den Hintergrund gedrängt. Mit geschlossenen Augen hatte er die Nase darübergehalten und mehrere Minuten lang tief eingeatmet. Er konnte spüren, wie seine Kraft langsam, aber kontinuierlich zurückkehrte.

      Bei der nächsten lebensbedrohenden Wintergrippe würde er es genauso machen. Im Unterschied zum chinesischen Tigerbalsam, mit dem Renate ihn zwangsweise inhalieren ließ, bescherte ihm das Einatmen von Dosenbratwurstdampf Besserung, ohne die Augen schmerzhaft tränen zu lassen und ihm sämtliche Atemwege zu verätzen. Ob sie für diese Theorie aufnahmebereit sein würde? Er durfte das Ganze nur nicht als Hausrezept seiner Mutter ausgeben. Darauf reagierte Renate stets äußerst allergisch.

      Er steuerte seinen alten Fendt noch ein Stück weiter den Betonweg hinauf. Das war Teil seines Plans, den er sich, ausreichend gestärkt, für seine Ausfahrt zurechtgelegt hatte. Der Kollege Dautenborn konnte sich entspannen. Kurt-Otto musste schmunzeln. Harry Dautenborn hatte sich eben kurz in die Höhe geschoben, um über die Rebzeilen hinweg zu kontrollieren, wer da so lautstark im Anmarsch war. Sehr ungeschickt hatte er sich dabei angestellt und sich noch unbeholfener zu verstecken versucht, als er Kurt-Otto erkannte. Durch das kahle Geäst der Rebstöcke war deutlich zu sehen, dass Dautenborn seither gebückt hinter der Rebzeile ausharrte, um nicht entdeckt zu werden.

      Dieses Verhalten war Kurt-Otto durchaus bekannt. Nicht wenige seiner Kollegen vermieden es in der einen oder anderen Situation, mit ihm zusammenzutreffen. Manche waren durch ihre stark gewachsenen Weinbaubetriebe ständig unter Strom und in Eile. Denen war selbst der lockere Plausch im Weinberg eine Last. Andere wollten sich nicht bei Handlungen ertappen lassen, die sie gern geheim halten wollten, und betrachteten ihn, der mit Neugier gesegnet war, als unwägbares Risiko.

      Dem Harry würde er nachher noch einen kleinen Besuch abstatten, wenn sich der Kollege in Sicherheit wähnte und aus der Thermoskanne Kräutertee einschenkte, den er stets mit reichlich Tresterbrand veredelte. Den Tresterbrand führte er in einer eigens dafür blickdicht dekorierten dunklen Kunststoffflasche auf seinem John Deere mit sich, die er zur Tarnung vor seiner Frau mit der Aufschrift »Getriebeöl« versehen hatte.

      Kurt-Otto parkte seinen Fendt dicht an den Ankerdrähten seines Ruländers und schlenderte zu Fuß auf dem Betonweg zurück. Es war nur ein kurzer Gang, den er gerne auf sich nahm, um seinem Ziel unbemerkt näher zu kommen. Leicht gebückt überquerte er gleich darauf mit schnellen Schritten die Landstraße und bewegte sich auf die Rückseite der Sporthalle zu. Eng an die Wand gedrückt, schob er sich Stück für Stück weiter, bis er die breite Treppe hinab zum Sportlereingang erreichte. Dort verharrte er einen Moment, atmete leise durch und schob dann behutsam seinen Kopf nach vorne, um nach rechts um die Ecke zu linsen.

      Die Stille um ihn herum war trügerisch, das wusste er. Mindestens ein halbes Dutzend fleißiger Helfer musste in den Hallen und im doppelstöckigen Foyer zugange sein, um alles in den Ursprungszustand zurückzuversetzen. Wenn er richtig informiert war, brauchten sie dazu fast zwei Tage. Da die kleinere der beiden Hallen am Montag wieder für den Sportunterricht der Grundschule zur Verfügung stehen musste, begannen dort, im oberen Stock, die Aufräumarbeiten und dauerten vermutlich noch an, was ihm einen strategischen Vorteil verschaffte. Wenn alles gut lief und sein Plan aufging, würde er ungestört eine schnelle Runde durch den großen Saal im Erdgeschoss drehen können. Lediglich die Annäherung an die Sektbar im unteren Foyer barg Gefahren, weil sie ihn dort sehen konnten. Er hoffte inständig, dass er die peinliche Traubenkappe in dem Bereich fand, der ihm zugänglich war. Wo er sie verloren hatte, wusste er nach dem vielen Schaumwein der gestrigen Nacht


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