Winzerschuld. Andreas Wagner

Winzerschuld - Andreas Wagner


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stimmt und Marion Ernst macht, können sie sich den geplanten Neubau abschminken. Wenn das überhaupt reicht. Sie wird jedenfalls kaum auf alles verzichten wollen.«

      8

      »Du bist aber früh dran.«

      Er zuckte zusammen und fuhr herum, obwohl er wusste, zu wem diese Stimme gehörte. Niemand sonst war ihm so vertraut wie sie. Ihre wohltuende Nähe begleitete ihn schon sein ganzes Leben.

      »Musst du mich so erschrecken?« Daniel bedachte seine Schwester mit einem tadelnden Blick, drehte sich wieder weg und zog die nächste leere Wasserflasche aus der Plastikkiste.

      »Ich hätte um diese Uhrzeit noch nicht mit dir gerechnet. Du hast gestern ordentlich Gas gegeben. Bist du auch über die Felder heimgelaufen und hintenherum zum Haus?« Laura erwartete keine Antwort. Sie fasste ihre blonden Haare am Hinterkopf zusammen und zog den Haargummi darüber, den sie am Handgelenk getragen hatte. »Soll ich dir helfen?« Sie langte nach einer der Wasserflaschen, zog sie aus der Kiste und schraubte den Plastikdeckel ab.

      »Ich bin ohnehin gleich fertig. Die andere Kiste ist schon voll und steht unter Fass dreiunddreißig.«

      »Hat das nicht Zeit bis Montag?«

      »Wie sollen wir dann am Dienstag die große Probe für die Frühjahrsabfüllung machen?« Daniel drehte den Kosthahn am großen Stahltank auf. Der Jungwein, der in die durchsichtige Glasflasche floss, zeigte noch eine leichte Trübung.

      »Ich habe die Hefe erst gestern Vormittag noch mal aufgerührt, wie wir es besprochen haben, deswegen ist er noch nicht ganz blank. Es wäre besser, wenn du bis morgen wartest.« Sie versuchte, möglichst wenig vorwurfsvoll zu klingen.

      »Ich kann die Proben morgen aber nicht ins Labor bringen. Heute ist bis zehn jemand da, so bekommen wir am Montagnachmittag die Analyse, Schwesterlein. Und nur mit Analyse macht es überhaupt Sinn, am Dienstag die Jungweine zu probieren und zu entscheiden, was in der ersten Runde in drei Wochen und was erst später, Anfang Mai, abgefüllt wird.«

      »Sei doch nicht gleich genervt.«

      »Ich bin nicht genervt, sondern müde. Bei mir war es kurz nach drei. Wann bist du heim?«

      Laura zuckte mit den Schultern, weil sie nicht auf die Uhr geschaut hatte. »Es war jedenfalls noch nicht hell.« Sie grinste. »Genauer kann ich es nicht eingrenzen.« Sie strich ihrem Bruder über den Rücken. Der hellbraune Stoff seiner Multifunktionsjacke fühlte sich unangenehm rau an. Die geschwungenen Buchstaben lösten sich bereits an manchen Stellen. Spätestens nach dem nächsten Waschen würden welche fehlen. »Weingut Reichelsheimer Hof«. Sie besaß die gleiche. Ihre Jacke sah aber eindeutig noch besser aus, was daran lag, dass Daniel meistens mit draußen war und auch hier im Keller die Arbeiten übernahm, bei denen man sich dreckig machte. »Du warst auf einmal weg und hast dich nicht mal von mir verabschiedet.«

      »Ich hatte genug.«

      »Genug Alkohol oder genug von Johanna?«

      Er reagierte nicht. Die Flasche war voll. Mit einer schnellen Bewegung drehte er den Kosthahn zu und reichte sie ihr. Dafür erhielt er von ihr die leere und ging zum nächsten Fass, um sie dort zu befüllen. Der Wein war klar, fast golden.

      Die Farbe faszinierte Laura. »Dem sieht man die lange Maischestandzeit deutlich an.«

      Daniel nickte.

      Die Trauben aus ihrem ältesten Grauen Burgunder hatten sie Anfang Oktober noch vor Sonnenaufgang gelesen. Sie waren reif, zuckersüß und mussten schleunigst vom Stock, damit der Wein nicht zu alkoholisch und fett wurde. Für den Lesetag waren über zwanzig Grad und strahlender Sonnenschein vorhergesagt gewesen. Daher hatten sie mitten in der Nacht angefangen. Der Lesetrupp war nicht gerade begeistert gewesen. Bis die ersten Sonnenstrahlen durchbrachen, hatte keiner der Polen auch nur ein Wort gesagt. Das war sonst nicht ihre Art. Jazek hatte abends sogar bissig gefragt: »Chefin, morgen wieder Frühschicht?« Was er dachte, stand ihm ins Gesicht geschrieben: die Schnapsideen der Jungen. Beim Vater hat es das nicht gegeben.

      Sie brauchten die Trauben kalt, für die weiteren Schritte und vor allem für die mehrtägige Standzeit der Maische. Nur so waren das Aroma und die Farbe aus den Schalen zu lösen. Dabei durfte aber die Gärung nicht beginnen. Entscheidend war daher die Temperatur. Am besten kamen die Trauben mit zehn Grad oder weniger ins Kelterhaus und auf den Entrapper. Nach dem Entfernen der Stiele und Stängel hatten sie zum Schutz noch etwas Trockeneis auf den Wannen verteilt. Der Kohlenstoffdioxidnebel verdrängte den Sauerstoff und wirkte als Oxidationsschutz. Zur Not hätten sie damit die Maische kühlen können. Es war aber ein Grundsatz ihrer Arbeitsweise, auf energieintensive Arbeitsschritte zu verzichten, wenn es zu vermeiden war und die Qualität darunter nicht litt. Den Einsatz von Trockeneis für die Kühlung der Maische hatten sie auf diese Weise um mehr als die Hälfte reduziert.

      In diesem Bereich lagen sie gut im Rahmen ihres selbst gesteckten Ziels, bei steigender Fläche und Weinproduktion dennoch den Ausstoß von CO2 zu reduzieren. Sie sahen darin eine ihrer wichtigsten Aufgaben neben dem Marketing und dem Verkauf. Ihre Kunden honorierten diese Bemühungen, und spätestens wenn die für die nächsten fünf Jahre geplanten umfangreichen Umbaumaßnahmen abgeschlossen waren, würden sie vollständig klimaneutral und ressourcenschonend produzieren. Die gesamte Dachfläche des neuen Kellereikomplexes musste dazu mit Solarpaneelen bedeckt werden.

      Weit kniffliger und längst nicht gelöst war die Frage der Klärung der eigenen Kellereiabwässer. Die Planungen für einen eigenen mehrstufigen Reinigungsteich hinter dem Gehöft liefen. Die Nähe zur Selz war das große Problem. Nach Fassenacht sollten die Gespräche mit den beteiligten Behörden beginnen. Ob diese nach ihren Vorstellungen ablaufen würden, stand in den Sternen. Wenn es nach den Beamten ging, sollten sie mit unerfüllbaren Auflagen zum Schutz der Selz bei Hochwasser oder ähnlichen vollkommen unrealistischen Risiken belegt werden.

      Laura nahm Daniel die nächste volle Flasche ab, die sie neben den anderen in der Wasserkiste platzierte. »Ziehst du von der Variante aus dem Stückfass auch eine Probe?«

      »Die habe ich schon. Sie schmeckt geil.« Daniel blickte kurz in ihre Richtung. »Kannst gerne einen Schluck aus der Flasche nehmen. Für die Analyse ist es ohnehin zu viel. Es ist die Nummer sechsunddreißig.«

      Den Grauen Burgunder aus dem Kalkmergelband des Teufelspfads hatten sie nach dem Keltern aufgeteilt. Zweitausend Liter waren vergoren und reiften hier im Edelstahltank. Die kleinere Restmenge von zwölfhundert Litern hatten sie in ein altes Holzfass gelegt. Beide Weine hatten sich dadurch ganz unterschiedlich entwickelt. Der im Holzfass besaß Schmelz und zarte Noten von Karamell, der im Stahl protzte mit Fruchtigkeit und kühler Mineralität. Kurz vor der Abfüllung wiedervereint, würde ein komplexer und kräftiger Weißwein entstehen, der typisch für den muschelkalkigen Bereich in ihrer Lieblingslage war, auf dem sich die Reben seit Jahrzehnten in die Tiefe arbeiteten. Ob beide Teile wirklich so gut zusammenpassten, wie sie annahmen, war eine der vielen Fragen, die sie am Dienstag zu klären hatten. Dazu benötigten sie die Analysen aus dem Labor, die Auskunft über Säuregehalt, Alkohol und Süße gaben.

      »Du hättest gern jeden für sich auf der Flasche? Separat voneinander?« Laura schraubte die nächste Wasserflasche auf.

      Daniel zuckte mit den Schultern. »Du kennst meinen Geschmack, aber ich weiß, dass wir dafür keine Kundschaft haben. Sie wollen die Fruchtigkeit, und die sollen sie bekommen. Im nächsten Jahr lege ich mir ein Barrique zur Seite. Ganz für mich allein.« Er grinste sie an. Es tat ihr gut, ihn so zu sehen.

      »Das Küken ist dir ja auf Schritt und Tritt gefolgt.« Sie bereute die Worte sofort, weil sie an seinem Gesichtsausdruck erkennen konnte, dass er sie unpassend fand.

      »Lass das.« Abrupt drehte er sich von ihr weg und ging zum nächsten Fass.

      »Entschuldige, ich wusste nicht, dass …«

      »Da gibt es nichts zu wissen. Lass es einfach.«

      Schweigend lauschten sie dem Plätschern des Rieslings aus dem Elsheimer Bockstein auf seinem Weg in die Wasserflasche. Sie mochte diese Stille nicht. Sie störte.

      »Mit


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