Der Mann, der gerne Frauen küsste. William Boyd
Slang hassen, glaube ich. Regelrecht hassen.
Ich habe mich über die verpfuschten Loops geärgert, die Schatten des Galgenmikros, einen plump montierten Repeat-Shot. Diese Kritikermacke haben wohl alle Regisseure – einfach nur Cineasten sein, das können wir nicht.
Die Hauptrolle, Michaela Wall, ist umwerfend (eine blondere, langbeinigere Tanja). Letzten Endes ist jeder Genrefilm nur so gut wie seine Besetzung.
Mir gegenüber sitzt eine Frau, die ihre Zigarette in knapp neunzig Sekunden geraucht hat: immer drei kurze Züge hintereinander, dann eine Pause und wieder drei kurze Züge. Ohne zu inhalieren, wie es scheint. Man fragt sich, was sie davon hat.
Hinter ihr eine Mutter mit erwachsener Tochter und zwei schreienden Gören. Dieser Lärm! Dazu ziemlich middle-class, dem Akzent nach. Lassen ihre Kinder einfach quäken und quengeln – die anderen Gäste sind sauer, aber keiner sagt was, typisch englisch.
Tanja ist jetzt dreiundvierzig Minuten zu spät.
Eine atemberaubende Schönheit bedient heute im Verband. Russisch? Jedenfalls osteuropäisch. Der lange Rücken einer Ballerina. Leberflecken auf der Wange, am Hals. Hochgewachsen, schmales Patriziergesicht, Haar straff zum Knoten gebunden. Was macht sie hier? Was ist ihre Story, ihr parcours? Ihr Blick zeigt ein wenig Verachtung, während sie ihren Job macht, Drinks serviert, Geschirr abräumt.
Gerade zurück vom Lunch mit Leo Winteringham im Garrick. Keiner dort schien unter fünfzig, männlich natürlich, übergewichtig, schon ziemlich verlebt. Zigarren und Suff: die etwas anrüchige Fraktion der British Society. Leo W. hat mir angeboten, jeden Film zu finanzieren, bei dem ich Regie führe – und das jetzt schon zum dutzendsten Mal. Seltsame Figur, Leo: unverbesserlicher Amerikaner, trotz all seiner Jahre in England. Mager, echsenartig, schroffer Umgangston – ein merkwürdiger Player in dieser privilegierten englischen Szene (er wurde von allen freundlich begrüßt, zugegeben, nur weil er Geld hat).
Als wir Neuigkeiten austauschten (wer in ist, wer out), erwähnte er, dass Tanja Baiocchi ihren Mann verlassen hat. Nur mit Mühe verbarg ich meinen massiven Schock und sagte, ich hätte gar nicht gewusst, dass sie verheiratet sei. War sie nicht in deinem letzten Film?, fragte er. Ja, sagte ich, aber von einem Ehemann sei nie die Rede gewesen. Na ja, vielleicht kein Ehemann, sagte er, dann eben Freund, dieser französische Regisseur, Duprez. Oh, sagte ich, dann weiß ich Bescheid, na klar – und konnte bestätigen, dass die Trennung, entre nous, echt war, absolut und endgültig.
15.30. In der Verbandsbar ist es still, aber die Leute trinken stur weiter, als wollten sie sich vor dem Nachmittag und dem Nachmittagsfrust drücken. Ich müsste Janet anrufen, wie die Einladungen zum Cast- und Crew-Screening laufen und ob sie mir das Hotelzimmer in New York gebucht hat.
Getrunken: Einen Champagner, bevor ich ins Garrick ging, ein Glas Weißwein in der Bar, zwei Glas Weißen zum Lunch und ein Port (Leo trinkt nicht), und bin nun beim zweiten Glas Weißwein im Verband. Unterm Strich eine Flasche. Mehr als eine Flasche: Ich muss aufhören. Wenn ich mit Tanja zusammen bin, trinke ich nicht annähernd so viel.
New York. Carlyle Hotel. Sitze hier bei meinem Vor-Vor-Aperitif (Bloody Mary) – eine neue Angewohnheit, bedingt durch die Tatsache, dass es nur noch ein paar Stunden bis zum Screening von The Sleep Thief sind. Mir ist ungewohnt flau zumute (das ist mein neunter Film, mein Gott!), und ich weiß, warum: Ich erwarte zu viel. Weil ich den Wert und das Potenzial des Films kenne, setze ich darauf, dass er keine Probleme macht – Cannes, ein US-Verleih, der eine oder andere Preis: Schon bin ich zufrieden. Eigentlich brauche ich nur zu warten, auf die langsam wachsende Aufmerksamkeit, die schon zum Erfolg von Escapade führte. Der Film ist fertig, eine gute Arbeit, wir hatten unseren Spaß, was will man mehr? (Und natürlich: die Begegnung mit Tanja.) Lassen wir es also auf uns zukommen. Dieses Screening bringt gar nichts – kann sein, dass wir auf Cannes warten müssen oder sogar die UK-Premiere; kann sein, dass wir noch länger warten müssen, auf Venedig oder Berlin.
Wäre toll, wenn Tanja heute schon käme und beim Screening dabei sein könnte. Warum kommt sie erst morgen?
Vage Zweifel, ob es mit der Qualität der Kopie klappt, dem Projektor, der Lautstärke. Aber was soll man machen?
Sitze im F.O.O.D. auf der Lexington. Tanja hat ihren Besuch verschoben – noch drei Tage warten. Wäre schön gewesen, wenn sie es zum Screening geschafft hätte (schlecht besucht, enttäuschend, aber der Film kam offenbar gut an. Noch keine Angebote. Die Kopie war grässlich).
Zwei sehr gepflegte Frauen sitzen neben mir, unterhalten sich, mit hinreichender Lautstärke und Klarheit. Sie kennen sich kaum, wie es scheint.
»Wo leben Sie?«, fragt die eine.
»Mexiko.«
»Noch weiter weg als ich – Vermont.«
Pause.
»Wo in Mexiko?«
»San Miguel. Eine schöne Stadt.«
»Oh, da gibt es viele Expatriates, oder?«
»Wir sind eine ganze Menge.«
»Ich habe gehört, Facelifts sind dort spottbillig.«
»Billige Facelifts, billiges Hauspersonal. Es hat seine Vorteile.«
Männergespräche sind langweiliger als Frauengespräche, finde ich, und das sage ich als professioneller Lauscher. Tanja war mal zu einem Dreh in Mexiko. Dort hat sie Duprez kennengelernt, glaube ich.
»Du hast vielleicht kein Alkoholproblem, aber ich habe ein Problem mit deinem Alkoholkonsum.« Belauscht im Bemelmans.
Bizarrer Anblick im Going Loco (East Village). Eine junge Mutter (einundzwanzig?, zweiundzwanzig?), die ihr Baby in einer Ecke des Cafés stillt, bekommt einen Anruf. Sie steht auf, geht ans Fenster des Cafés und telefoniert, das Baby noch an ihrer Brust. Diese Ungezwungenheit, die völlige Abwesenheit von pudeur war absolut bewundernswert. Ich fühlte mich sofort alt und griesgrämig, verklemmt aufgrund meiner Erziehung mit ihren überkommenen Werten und Maßstäben – so schwer zu beseitigen wie ein Tattoo. Ich mag die Atmosphäre in dem Lokal, lebhaft und entspannt; an der Bar esse ich eine scharfe Gazpacho mit viel Knoblauch. Sehr rauchig. Morgen Ankunft Tanja.
16 Uhr. Bemelmans. Trinke Bier und esse Cashewnüsse. Im Lokal lauter alte Leute: die Generation New Yorker, die nachmittags einen Cocktail brauchen. Der Mann neben mir hat gerade einen zweiten Martini Dry bestellt.
Ich war essen bei Tanja. Besuchte sie in ihrer Suite im Plaza, und zu meiner Überraschung traf ich dort auf einen kleinen Jungen, etwa sechs oder sieben. »Das ist Pascal«, sagte sie, als wäre seine Anwesenheit die natürlichste Sache der Welt. Dann sprach Pascal Französisch und sagte Maman zu ihr. Warum zum Teufel nennt er dich so?, fragte ich. Er ist mein Sohn, sagte sie, deshalb. Und sah mich an, als wäre ich der letzte Trottel. Eine Nanny kam ihn abholen, aber ich hatte den Appetit verloren. Beim Essen raffte ich mich zu der Frage auf, ob Duprez der Vater sei, und zu meiner Beruhigung sagte sie Nein. Während unserer acht Wochen beim Dreh von The Sleep Thief hat sie Pascal mit keinem Wort erwähnt. Ist das normal für eine Mutter? Hat sie ihn mir verschwiegen, um unsere Affäre nicht zu stören? Vielleicht dachte sie, ich wisse Bescheid, und weil ich es nie erwähnte, kam es ihr diskreter vor, ebenfalls zu schweigen? Sie kommt heute Abend ins Hotel, sobald das Kind im Bett ist.
Seltsam: Bier trinke ich anscheinend nur in Frankreich und den Staaten. Nie einen Tropfen in England.
Im Pub, The Duke of Kent, Montagmittag. Nichts Essbares in der Wohnung, deshalb bin ich hier. Ein leerer Kühlschrank in einer leeren Wohnung – absolut deprimierend. Ich wollte Janet anrufen und sie etwas beim Take-away bestellen lassen, als mir einfiel, dass sie zu einem Dreh auf Malta ist. Janet und meine zwei Assistentinnen, weg. Ein Filmregisseur muss sich, wenn der Film endlich abgedreht ist, erst wieder daran gewöhnen, den Alltagskram allein zu bewältigen: zur Bank gehen, Sachen von der Reinigung holen, Essen und Vorräte kaufen. Seltsam, wieder auf sich gestellt zu sein, seltsam, nach New York wieder in London zu sein. Vermisse Tanja fürchterlich, es tut richtig weh – sie musste nach L.A.,