Der Mann, der gerne Frauen küsste. William Boyd

Der Mann, der gerne Frauen küsste - William  Boyd


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und nach einer nachmittäglichen Putzaktion blitzsauber. Ich besorgte mir einen großen Zeichenblock, ein paar Federn, Pinsel und farbige Tinten und machte mich an die Arbeit. Mir war klar, dass ich etwas liefern musste, was sofort überzeugte; meine neuen Entwürfe unterschieden sich so dramatisch von den alten, dass sich Demarco auf den ersten Blick in sie verlieben musste. Mit Überzeugungsarbeit, egal wie bemüht, war er nicht zu gewinnen. Ich hatte einen einzigen Schuss frei, also mussten die Zeichnungen absolut perfekt sein, die Kühnheit des Entwurfs so zwingend, dass sie auf Anhieb überwältigte.

      Ich hatte ein Telefon, aber beschloss, niemandem meine Nummer zu geben. Mit dem Hotel vereinbarte ich, dass meine Anrufe notiert wurden, und mehrmals am Tag ging ich hin, um sie zu erledigen. Weder John-Jo noch Stella sagte ich, dass ich ausgezogen war. Wenn ich anrief, dann scheinbar aus dem Hotel – ein Trick, der leicht umzusetzen war. Erst später sollte er sich als verhängnisvoll erweisen.

      »15. Mai. Dienstag, glaube ich. Gute Arbeit in den letzten zwei Tagen, intensiv und konzentriert. Ich könnte diese Zeichnungen an eine Galerie verkaufen. Eine merkwürdige Sache: Ich hatte mich in den vier Tagen seit meinem Umzug nicht rasiert, und der Bart begann zu kratzen und zu jucken. Als ich zur Tat schritt, stellte ich fest, dass ich meine Kinnlade rasieren konnte, aber nicht meine Oberlippe. Ich setzte den Rasierer unter der Nase an, doch meine Hand streikte. Ich versuchte es mit der anderen Hand – ohne nennenswerten Erfolg. Es war, als wären meine Muskeln erstarrt. Als verweigerten sie einfach die Befehle meines Gehirns. Überall sonst, an Wangen und Kinn konnte ich ungehindert herumschaben. Ich spülte den Rasierschaum weg und erblickte die Ansätze eines stattlichen, breiten Schnurrbarts, der nicht an den Mundwinkeln endete, sondern sich in elegantem Schwung über die Wangen erstreckte. Komischerweise gefiel mir, was ich sah. Ich musste an die alten Fotos gewisser Cowboys denken: Buffalo Bill oder Wyatt Earp. Ein Look aus dem tiefsten neunzehnten Jahrhundert, dachte ich – höchste Zeit für ein Revival.«

      Woher diese Unbeirrbarkeit? Ich hatte mir nie zuvor einen Schnurrbart wachsen lassen, wieso jetzt? Ich deutete es als unbewussten Wunsch, mich an Venice anzupassen, ein typischer Bewohner dieses bizarren Küstenareals zu werden, das sich zwischen dem biederen Santa Monica und den Industriebrachen der Flughafengegend erstreckt.

      Meine Tage verbrachte ich meist arbeitend im Atelier, machte kurze Ausflüge zum Waschsalon und zum Supermarkt, schlief prächtig auf meiner schmalen Couch und ging jeden Morgen bei Sonnenaufgang zum Joggen an den Strand. Mein Schnurrbart wuchs. Einmal sah ich mein Spiegelbild in einem Schaufenster, als ich, die braune Einkaufstüte im Arm, nach Hause lief – ich war in Jeans und T-Shirt, mein grau werdendes Haar wild und ungekämmt –, und es dauerte einen Moment, bis ich mich erkannte. Ein Schnurrbart kann ein vertrautes Gesicht von Grund auf verändern. Ich blieb stehen, ging näher zum Schaufenster und starrte: Was ich sah, gefiel mir. Niemand würde mich erkennen, und ich weiß noch, dass ich still vor mich hin lächelte, während ich weiterlief. Ich rief Demarco an und machte einen Termin für den nächsten Tag. Die Zeichnungen waren vorzeigbar.

      An dem Abend ging ich in eine Bar namens Moon. Sie war dunkel und aufdringlich mit Mondmotiven dekoriert: vielfarbige Monde überall. Die Musik war laut und hämmernd, die Kundschaft aber – das war schließlich Venice – bemerkenswert gemischt: alle Altersklassen, alle Looks, von schön bis schräg, also fühlte ich mich wie zu Hause. Ich setzte mich an die Bar und bestellte einen Cocktail namens The Sea of Tranquility, blau in der Farbe, merkwürdig süßsauer im Geschmack – ohne über seinen Gehalt nachzudenken. Ich schlürfte meinen Drink, doch meine Aufmerksamkeit war völlig von dem Mädchen hinter der Bar gefesselt.

      »19. Mai. Dieses Mädchen war nicht schön, es hatte ein verhärmtes Gesicht, unregelmäßige Zähne und einen spitzen Stecker in der Unterlippe. Ihre rechte Schulter war dunkel mit irgendeinem verschlungenen kabbalistischen Symbol tätowiert. Sie trug ein verschossenes Turnhemd, Radlerhosen aus Elastan und klobige Wanderstiefel. Nach meinem dritten Sea of Tranquility und meinem dritten Zwei-Dollar-Trinkgeld lächelte sie mich endlich an und fragte, ob ich etwas zu feiern hätte. ›Morgen‹, sagte ich. ›Stell schon mal den Champagner kalt.‹ Sie hatte Ringe an allen Fingern, auch an beiden Daumen, wie ich bemerkte. ›Gut bei Kasse, was?‹, sagte sie unbeeindruckt. ›Wo bist du überhaupt her?‹ Sie wischte die Dollars in ihre Tasche. Ich war betrunken, aber ich wollte sie, wollte diesen Lippenstecker auf meinem Körper spüren. Also sagte ich ihr, wer ich war und wo ich herkam und dass ich morgen Abend wiederkommen würde, zum Champagner. Sie verriet mir ihren Namen: Leandra.«

      Ich ging hinunter zum Strand. Es war ein Sonntag, aber der größte Andrang war schon vorbei, nur vereinzelte Rollerblader oder Radfahrer flitzten über die Betonwege, und einige Venezianer waren noch auf den Beinen: die Huren, die Bodybuilder, die Bettler, die Kartenleser, die Monologisierer und etliche andere verlorene Seelen, die murmelnd auf und ab flanierten. Ich kam an einem Gitarristen vorbei (beide Beine amputiert, wie sich zeigte), der in einem Friseurstuhl saß und verhalten ein paar Akkorde spielte, und die Kombination aus der Musik, meinen Seas of Tranquility, dem nahen Ozean mit seiner Brandung und der warmen Brise löste in mir ein tiefes, epiphanisches Glücksempfinden aus. Ich spürte, dass ich an einem wichtigen Punkt in meinem Leben angekommen war – keine radikale Wende oder ein großer Einschnitt, nur an einem dieser Wegzeichen, einem Meilenstein. Ein harmloses Signal des Älterwerdens vielleicht, der inneren Uhr, die mir die Stunde schlägt.

      »Ich seh dir an, dass du ein Glückspilz bist«, sagte eine Stimme. »Ein Erfolgstyp.«

      Einer dieser Wahrsager mit seinem Standardspruch, dachte ich, drehte mich um und sah einen großen, schlanken Mann mit schwarzem Filzhut und Schärpe, überall Fransen und Perlen, als würde er sich um die entsprechende Rolle in einem Laienspiel bewerben. Er streckte mir ein Büschel Heidekraut entgegen.

      »Siehst du«, sagte er. »Du bist ein Schotte, und ich habe Heidekraut. Ich wusste, dass ich heute einen Schotten treffe.«

      Kein Wahrsager, dachte ich, nur einer von den üblichen Irren in Venice. »Ich bin Engländer«, sagte ich. »Das ist ein großer Unterschied.«

      »O nein, du bist ein Schotte. Kauf mir mein Heidekraut ab. Fünfzig Dollar. Es bringt dir Glück.«

      »Nein, danke«, sagte ich und ging weiter. Sein Glück brauchte ich nicht.

      »Schenk es doch Sarah.«

      Ich stockte.

      »Schenk es deinem Mädchen, Sarah. Sarah, deiner Geliebten.«

      »Ich fürchte, da liegst du falsch. Hör zu, das wird jetzt peinlich.«

      »Dann deiner Tochter Sarah.«

      »Ich habe zwei Söhne. Gute Nacht.«

      Ich ließ ihn stehen, ging mit großen Schritten davon, verfiel dann wieder ins Schlendern und versuchte das Glücksgefühl heraufzubeschwören, das mich für so kurze Zeit erfüllt hatte, aber es kam nicht zurück. Die absurden Gewissheiten des Wahrsagers hatten mir die Stimmung verdorben, seine Worte nagten an mir, während ich nach Hause ging. Heidekraut als Glücksbringer – wieso? Wer behauptete so was? Aber der Gedanke, dass ich es hätte kaufen sollen, ließ mich nicht mehr los.

      Odell Demarco erwartete mich auf der Baustelle: cremefarbenes Hemd mit rehbrauner Hose und cremefarben abgesetzten rehbraunen Schuhen. In das neue Fundament des Hauses, das John-Jo für ihn entworfen hatte, wurde gerade Beton gegossen. Dahinter, dem Ozean zugewandt, lag ein sanft abfallendes Stück Ödland von drei Hektar Größe, das ich in einen Paradiesgarten verwandeln sollte. Sein Lächeln, als wir uns die Hand schüttelten, wirkte ein wenig gezwungen.

      »Hey, Alex«, sagte er zur Begrüßung. »Der Schnurrbart – toll. Passt zu dir.«

      »Danke, Odell«, sagte ich. Er hatte mir nicht angeboten, ihn zu duzen, aber es war bewährte Praxis bei Harrigan-Rief, nicht vor Klienten zu buckeln, egal wie reich sie waren. Wenn er mit Mr Demarco angesprochen werden wollte, musste er mich mit Mr Rief ansprechen.

      »Wo ist Yolanda?«, erkundigte ich mich, es musste sich um die zweite oder dritte Mrs Demarco handeln.

      »Yolanda ist ziemlich besorgt, wenn ich ehrlich sein darf«, sagte Demarco, und die Ehrlichkeit glänzte besorgt in


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