Der Mann, der gerne Frauen küsste. William Boyd
sei, oder – in heiklen Momenten – warum ich alles daransetzte, unser Leben zu zerstören. Sie rief Ben für ein Wochenende aus Cornwall zurück, und wir verbrachten ein paar angespannte Tage. Ben kam mir plötzlich linkisch und humorlos vor, seine kindischen Witze (mit Vorliebe über meinen Schnurrbart) wurden immer verletzender. Ich sah, dass meine Kälte ihn so verstörte, dass er vorzeitig abreiste. Ich raffte mich nicht dazu auf, ihn zu verabschieden, obwohl ich merkte, dass Stella den ganzen Tag mit roten verweinten Augen herumlief – und später am Abend hörte ich sie eindringlich auf Conor in Afrika einreden.
»2. August. Gestern Vormittag war ich in einem Optikerladen in der Kensington High Street und erwarb die dritte Sonnenbrille in drei Tagen von einer verschlagen dreinblickenden dunkelhaarigen Verkäuferin mit Knutschfleck am Hals, die, wie ich gerade erfahren hatte, Megan hieß, als in mir eine Verwandlung stattfand. Es war, als hätte ich etwas abgeworfen oder als hätte mich etwas verlassen. Einen Moment lang fühlte ich mich ganz schwach und zittrig, sodass sich Megan zu einer besorgten Frage veranlasst sah. Ich atmete tief durch und sah mich um – plötzlich wieder mit klarem Blick. Mir fiel ein, dass ich den Laden betreten hatte, weil ich von dieser Verkäuferin besessen war, so wie zuvor von Leandra und Encarnación. Ich entschuldigte mich bei ihr und ging.
Zu Hause entschuldigte ich mich bei Stella. Die Erleichterung, mit der sie mich ansah, war herzzerreißend. Wir redeten bis tief in die Nacht, kamen zu dem Schluss, dass ich eine Art Zusammenbruch hatte und dass die Medikamente vielleicht zu helfen begannen und endlich so etwas wie eine Balance in unser Leben zurückkehrte (ich rief Ben an und entschuldigte mich für mein grobes Verhalten – armer Kerl). Dennoch: Als ich heute früh mein Gesicht mit Rasiercreme einschäumte, um mir den Schnurrbart abzurasieren, wurden meine Arme wieder von Starre befallen. Eins nach dem anderen, sagte Stella. Immer schön langsam. Wenigstens kannst du schon wieder einen klaren Gedanken fassen.«
Es war Petra Fairbrother, meine Psychiaterin, die mich ermutigte, die Symptome systematisch anzugehen und zu entschlüsseln. Sie war eine kräftige Frau mit fleischigen Lippen und großen, weichen Händen, mit denen sie viel herumwedelte. Sie war auch hochintelligent, aber wie viele intelligente Engländerinnen (und Engländer, was das betrifft) tat sie alles, um ihren Intellekt in einer Wolke aus wohlmeinendem Dilettantismus zu verstecken. Von unscharfen Diagnosen wie Nervenzusammenbruch, Midlife-Crisis, Schizophrenie wollte sie nichts wissen. »Was ich da von Ihnen höre, klingt viel interessanter als das. Und sehr scharf umrissen, nicht wahr?«, sagte sie und zeigte mit dem Bleistift auf mich. Besonders faszinierten sie die Seiten in dem Notizheft, das ich mit den lang gezogenen X-Figuren vollgemalt hatte, und hier interessierte sie vor allem die Tatsache, dass dieser Malzwang nie wiedergekehrt war. Sie bat mich, das Zeichen vor ihren Augen zu Papier zu bringen, was ich ohne Zögern tat.
»Es löst nichts aus?«, fragte sie mit einer gewissen Enttäuschung in der Stimme. »Keinen Tremor, kein Schaudern?«
»Nichts«, sagte ich und zeichnete noch ein halbes Dutzend mehr davon.
»Mir ist nur so, als wäre das der Schlüssel zu allem«, sagte sie. Sie krauste die Stirn, zupfte sich am Ohrläppchen und machte ploppende Geräusche mit den Lippen.
»Ich glaube, es hat mit Sex zu tun«, sagte ich ein wenig verschämt. »Etwas, was in meiner Psyche steckt – und auf einen gewissen Typ Frauen anspricht.«
»Aber im Flugzeug, als das alles losging, war doch kein Sex im Spiel, oder?«
Das konnte ich ihr bestätigen. Dann fiel mir der Kopfschmerz ein.
»5. August. Kopfschmerzen. Lang gezogene X-Figuren. Schnurrbart. Zigaretten. Denken an Sex. An Prostitution. An ärmliche Frauen. Desintegration. Vernachlässigung der Hygiene. Asoziales Verhalten. Der Demarco-Garten. Die Deponie. Feindseligkeiten gegenüber der Familie. Alkoholismus … Ist der Kopfschmerz die Ursache dafür? Brauche ich einen Gehirnscan? Ich habe drei Tage Normalität erlebt – Fast-Normalität. Stella hat mir gestern Abend den Schnurrbart abrasiert. Ich habe nichts empfunden. Wir haben miteinander geschlafen. Warum spüre ich, dass das ein trügerischer Frieden ist, eine falsche Hoffnung?«
Meine Sorgen waren begründet. Ich schwankte offenbar zwischen einer angespannten, ängstlichen Normalität – Neu- start des Familienlebens, ich ging sogar ins Büro – und Stimmungen, die ich erst im Nachhinein als abwegig und gefährlich erkannte.
Eines Tages, nach dem Verlassen der Praxis in Notting Hill, blieb ich stehen, um eine Zeitung zu kaufen, und sah eine Frau, die in einem Fleischerladen arbeitete (warum tragen Frauen, die in Fisch- oder Fleischerläden arbeiten, so viel Make-up?). Ein dunkler Typ mit etwas vorspringendem Gebiss und sehr viel dichtem Haar, das aus ihrem markanten Gesicht zurückgekämmt und zu einem riesigen Dutt geknotet war. Ihre Lippen waren kirschrot, und ihre Augen mit stark getuschten Wimpern musterten mich unter himmelblauen Lidern, als ich Fleischberge verlangte, mit denen ich eine ganze Kompanie Soldaten hätte satt machen können. Während sie Rumpsteaks schnitt und Dutzende Würste eintütete, starrte ich sie unverwandt an – bemerkte den dunklen Flaum auf ihren Unterarmen, ihre strammen Waden, als sie sich nach dem Beil umdrehte, auch den Bürstengriff, der aus der Tasche ihres Nylon-Overalls ragte. Ich lehnte mich an das Glas der Fleischertheke, spürte, wie meine Erektion gegen die Scheibe drückte, und fragte mich, ob dieses Prachtweib die Tochter des kleinen, glatzköpfigen Fleischers war, der ein paar Schritte entfernt den Fleischwolf bediente, und was sie oder er sagen würde, wenn ich sie zu einem Drink einlud. Ich zahlte – immensen Reichtum suggerierend – mit zwei Fünfzigpfundnoten für das Fleisch und sagte: »Verzeihen Sie die Frage, aber ich bin gerade in diese Gegend gezogen und hätte gern gewusst, ob es hier einen guten Pub gibt, Sie wissen schon, einen, den Sie empfehlen können …«
Sie kratzte sich am Arm und überlegte. »Was meinst du, Frank?«, fragte sie den Mann am Fleischwolf. Es folgte eine kurze Diskussion über die Vorzüge der umliegenden Pubs, bis eines mit dem Namen The Duke of Clarence als das geeignetste auserkoren war. Ich dankte ihnen, bedachte die Fleischerin mit einem vielsagenden Blick und verließ den Laden.
Als ich die schwere Tüte mit Fleisch in den nächsten Mülleimer warf, wurde ich von einer deprimierenden Woge der Selbsterkenntnis überrollt, und ich sah meine sexuelle Obsession in all ihrer beschämenden Niedrigkeit. Doch im Fleischerladen hatte ich nur einen Gedanken im Sinn gehabt und meine ganze sabbernde Begierde auf dieses dralle Mädchen mit ihren rosigen, blutbefleckten Händen gerichtet. Mir brannten salzige Tränen in den Augen, als ich zu meiner leidgeprüften Frau zurückfuhr.
»9. August. Gestern früh habe ich John-Jo im Büro offenbar körperlich angegriffen, ihm mehrere Schwinger versetzt und mir den Ringfinger der linken Hand gebrochen, als ich seine Kinnlade traf. Ich erinnere mich an nichts, war wohl zu betrunken. Den dritten Abend in Folge hatte ich im Duke of Clarence auf meine Fleischerin gewartet – vergebens. Daher hatte ich mir eine Flasche Wodka gekauft, als der Pub zumachte, und mich in mein Auto gesetzt, um sie zu trinken. Irgendwie muss ich es am nächsten Morgen ins Büro geschafft haben. Stella sagt, ich hätte John-Jo Betrug vorgeworfen, dass er über all die Jahre hinweg systematisch meine Ideen gestohlen und Urheberschaft beansprucht habe, die ihm nicht zustand … und dann hätte ich mich auf ihn gestürzt. Arme Stella.«
»Es scheint sich etwas zu verändern«, sagte ich zu Petra Fairbrother. »Es ist nicht mehr wie in Kalifornien, wo der Zustand konstant war, jetzt kommt und geht er, als ob etwas ein- und ausgeschaltet wird.«
»Darf ich eine Zigarette von dir schnorren?«, fragte Petra. Sie nahm eine aus meiner Packung und zündete sie so umständlich an, als wäre es das erste Mal in ihrem Leben, dass sie so etwas versuchte. Dann inhalierte sie den Rauch tief in ihre Lunge. »Herrlich«, sagte sie. »So, du glaubst also, dass der Griff sich lockert?«
»Welcher Griff?«
»Der dich in der Gewalt hat.«
»Du klingst ja wie eine Schamanin.«
»Alex, mein Guter, ich spreche metaphorisch. Dennoch kann man uns durchaus als moderne Schamanen bezeichnen« – sie lächelte und blies geräuschvoll eine Rauchwolke aus dem Mundwinkel hervor –, »die versuchen, dir die Dämonen auszutreiben.«
»Dämonen«, wiederholte ich