Aufregend war es immer. Hugo Portisch
in der Zeitung: Paderborn war am Tag zuvor »in die Hand des Feindes gefallen«. Auch der Schreiber wusste das. Er musterte uns und sagte dann ganz ungeniert: »Da lauft ihr halt gleich in Zivil über.«
In diesem Moment war ich nur verblüfft, konnte meinen Ohren kaum glauben. Aber im Nachhinein klang es mir so, als hätte uns der Mann das im Ton des Sich-selbst-Bedauerns gesagt, weil er selbst diese Chance nicht hatte. Er stellte uns einen neuen Marschbefehl aus – nach Nienburg an der Weser. Und niemand hatte danach gefragt, wieso wir für den Weg von Wien nach Prag drei Wochen gebraucht hatten.
Noch einmal zurück zum Hauptbahnhof. Dort schien alles in Auflösung begriffen zu sein. Wir fragten nach Nienburg an der Weser, dem Ziel unseres Marschbefehls. Geht nicht, in dieser Richtung bestenfalls noch bis Aussig an der Elbe. »Auch bis Brüx?«, fragte ich. »Ja, das können Sie versuchen.« Die Schwester meiner Mutter hatte dort ein Haus. So fuhren wir nach Brüx in das Haus meiner Tante. Dort hörten wir Radio, das deutschsprachige Radio Prag. Das klang aufgeregt. Die amerikanischen Truppen hatten Pilsen erreicht. Offenbar erwartete man, dass sie nun rasch nach Prag vorrücken würden. Aber dann hieß es, die Amerikaner hätten den Vormarsch eingestellt. Und – die Tschechen in Prag hätten sich bewaffnet und würden auf »die Deutschen« schießen – auf die Wehrmacht, die Waffen-SS? Doch bald darauf unterbrach Radio Prag seine Sendung. Tags darauf wussten wir weshalb: Vor unseren Fenstern sahen wir die ersten sowjetischen Soldaten. Sie waren dabei, in Brüx einzumarschieren. Den Soldaten folgte ein langer Zug von Panjewagen, von Pferden gezogene Leiterwagen, der Nachschub.
Wie in Prag, so trat auch in Brüx jetzt eine tschechische bewaffnete Truppe auf. Aber hier wurde nicht geschossen. Einige Tage später war der Krieg zu Ende. Deutschland hatte kapituliert. Welch ein Moment! Die Diktatur ist zu Ende, und hoffentlich kommt keine neue! Sehr schnell bildete sich in Brüx ein tschechischer sogenannter »Nationalausschuss«, auf dessen Anordnung offenbar nun alle Wohnungen und Häuser von den Milizionären durchsucht wurden. Wir meldeten uns bei diesem Nationalausschuss und ersuchten um eine Reisebewilligung nach St. Pölten. Sie wurde uns ausgestellt. Auch der Zugsverkehr nach Prag wurde rasch wieder aufgenommen. Wir nahmen Abschied von meiner Tante, hatten aber keine Ahnung, dass ihr und der Familie ihres Mannes in Kürze die Enteignung und Vertreibung aufgrund der seither berüchtigten Beneš-Dekrete bevorstand. Wir fuhren über Prag nach Böhmisch Budweis und von dort – immer noch mit der Bahn – bis an die österreichische Grenze bei Gmünd, Niederösterreich. Von dort allerdings ging es zu Fuß weiter.
Bei Pöchlarn trennten sich unsere Wege. Unsere Odyssee war zu Ende. Meine Freunde wollten versuchen, nach Oberösterreich durchzukommen, ihre Eltern vermuteten sie in Traunkirchen im Salzkammergut. Wir nahmen uns vor, sobald wir wussten, wo wir landen würden, einander Briefe zu schreiben – hauptpostlagernd Wien. Und das funktionierte sogar. Ein Jahr später besuchte ich sie in Traunkirchen.
Meine Eltern und ich wollten von St. Pölten zurück nach Preßburg. Mein Vater hatte sich uneingeschränkt zur Demokratie und der tschechoslowakischen Republik bekannt. Das wurde zwar anerkannt, aber für einen »Deutschen«, und als solche galten auch die Österreicher, sei nun kein Platz mehr in der neuen Beneš-Republik. Für meinen Vater war St. Pölten ja eigentlich eine Heimkehr und für mich auch keine Fremde, denn ich war als Kind oft in den Ferien auf dem Bauernhof meiner Großeltern.
Mit Eifer machte sich mein Vater daran, die Zeitungen des niederösterreichischen Pressvereins aufzubauen, die Zeitungen für St. Pölten, Krems, Amstetten und Wiener Neustadt. Niemand beneidete ihn um diese Aufgabe, niemand anderer wollte sie auch übernehmen. Denn das war Pressearbeit in der sowjetischen Besatzungszone. Die Regierungsmitglieder taten sich leicht, sie waren unangreifbar. Sie fuhren an den Wochenenden durch Niederösterreich und hielten wichtige Reden – gegen die Übergriffe der Sowjetsoldaten, gegen die USIA-Läden, gegen die sowjetische Ausbeutungspolitik. Darüber hatten die niederösterreichischen Zeitungen zu berichten und taten das auch. Aber jeden Freitag musste mein Vater vor dem Zensur-Offizier der Sowjets in St. Pölten erscheinen, um sich für den Inhalt seiner Zeitungen zu verantworten. Da kam es fast immer zu Auseinandersetzungen und Abmahnungen, und man konnte nicht sicher sein, wie das letztlich ausgeht.
Ich war einige Male dabei, wenn mein Vater am Freitagmorgen aufbrach. Er zog sich zwei Paar Socken und winterfeste Schuhe an, und er steckte sich eine Handvoll Würfelzucker in die Taschen. Das, so meinte er, hatte er in der russischen Kriegsgefangenschaft gelernt. Sollten die Sowjets ihn verhaften und verschleppen, musste er gutes Schuhwerk und zumindest die ersten Tage Nahrung dabeihaben. Was immer es auch genutzt hätte, er glaubte daran, ein Komplex aus der Kriegsgefangenschaft.
Jahrelang mussten meine Eltern ihre kleine Wohnung mit einer sowjetischen Offizierin im Rang eines Majors teilen, Küche und Bad inbegriffen. Sie wurde zwangseinquartiert. Im Jahr 1955 musste die Frau Major ihr Quartier räumen. Ich sah das Zimmer. Sie hatte es mit einer langen Schleife aus Klopapier dekoriert und auch ein Bild hinterlassen, offenbar das Einzige, das sie hatte: Josef Stalin. In den Wänden sah ich einige Einschusslöcher. Meine Eltern berichteten davon, die Majorin hatte oft Gäste und manchmal ging es sehr laut zu, einschließlich einiger Revolverschüsse. Offenbar nach Lust und Laune.
So hielt mein Vater den Posten als Chefredakteur der niederösterreichischen Zeitungen während der gesamten Besatzungszeit. Jahre später erhielt er dafür einen niederösterreichischen Orden und danach einen blaugelben Blumenkranz auf sein Grab.
Doch zurück zum Jahr 1945.
Wir haben nichts Glaubt an dieses Österreich
Ich wollte nicht Journalist werden. Ich wollte einen Beruf ausüben, der es mir erlaubt, wie ich es formulierte, »in die Welt hinauszugehen«, fremde Länder zu sehen, andere Kulturen zu erleben. Aber auch dazu sollte ich, musste ich, zuerst einmal studieren. Also auf nach Wien, auf zur Universität, Mai 1945. Es sprach sich herum: Die Universität wurde gerade wieder eröffnet. Und tatsächlich, man konnte studieren! Zunächst nur in wenigen Gegenständen. Genau genommen nur in den Fächern, für die es Lehrkräfte gab. Denn die durften keine Nazis gewesen sein. Und das waren nicht viele. Also inskribierte ich das Wenige, das angeboten war, aber doch den Weg in die Welt erleichtern würde: nebst Philosophie und Psychologie Anglistik, Geografie und Germanistik.
Das Gebäude der Wiener Universität war im Krieg von mehreren Bomben getroffen worden und stark zerstört. Eine eingestürzte Mauer erschwerte den Aufgang zum ersten Stock, und dort gab es einen einzigen brauchbaren Hörsaal, ich glaube, er trug die Nummer 38. Es waren nicht viele Studenten, die sich da einfanden. Viele waren aus Krieg und Gefangenschaft noch nicht heimgekehrt und nicht wenige waren gefallen. So war die Mehrzahl der Studierenden weiblich, ungefähr im Verhältnis 1:3. Aber es gab schon eine Studentenvertretung, die »Hochschülerschaft«, an ihrer Spitze Kurt Schubert. Er war es, der mir später erzählte, wie es zur Öffnung der Universität gekommen war. Schubert suchte auf eigene Faust den sowjetischen Stadtkommandanten, General Blagodatow, auf und ersuchte ihn um Hilfe. Wie so vieles, was in diesen Tagen geschah, unglaublich schien – der General rief einen Offizier, den er Schubert als »Kommissar« vorstellte, und meinte, er würde ihm bei der Wiedereröffnung der Universität beistehen. Es stellte sich heraus, so erzählte Schubert, dass der Offizier in Leningrad Kunstgeschichte studiert und eine Dissertation über die Wiener Ringstraße zur Erlangung seines Doktorats geschrieben hatte. Und er sprach Deutsch. Besser konnte es gar nicht sein, meinte dazu Schubert.
Mithilfe dieses Offiziers drang Schubert in die Räume des Rektorats vor. Schubert: »Ich wusste, das Wichtigste im befreiten Österreich ist, dass man einen Stempel hat, und so bat ich meinen russischen Begleiter, im Rektorat von Amts wegen eine Schreibtischlade aufzubrechen, was er auch tat. Wir entnahmen der Lade den Stempel mit der Aufschrift ›Rektorat der Universität Wien‹. Diesen Stempel hat er mir übergeben. Vorher mussten wir noch den Hakenkreuzadler herausschneiden. Jetzt war ich im Besitz eines Stempels. Das war ein ungeheures Machtmittel zu dieser Zeit. Und ich habe festgelegt, dass das Sommersemester 1945 im Mai beginnt.«
Ein zweiter Helfer fand sich ein, Wilhelm Czerny. Schubert und Czerny sammelten Namen von Professoren, suchten einige von ihnen persönlich auf und holten sie an die Universität. Andere meldeten sich selbst, darunter einige mit großen Namen: Adamovic, Meister, Arzt, Verdroß,