Piv - und die Kapitänskiste. Nina Sahl
„Naja“, antwortet er kaum vernehmlich. „Manchmal kommen auch Kinder. Meistens zum Frühstück oder wenn jemand ein Familienfest feiert.“ Er umfasst den Besen mit festem Griff und geht zu der Tür im Bretterzaun neben dem Gasthaus.
„Wir haben Limos und Chips“, fährt er fort. „Das nehme ich immer gern.“
Neugierig folgt Sabine Magne in den kleinen Hinterhof und schleift Piv mit sich. Dort bleiben die Mädchen stehen, treten von einem Fuß auf den anderen, während Magne das schiefe Gatter mit einem Haken verschließt.
Piv sieht sich um. Der Boden des Hofes ist mit Asphalt überzogen und am Zaun stehen grüne Müllcontainer. Sie sind so randvoll gestopft, dass die Deckel einen Spalt weit aufstehen und alte Reklamezeitungen und Pizzakartons unter ihnen hervorlugen. Neben den Containern liegen Säcke mit noch mehr Abfall und Kisten mit leeren Pfandflaschen.
„Hier riecht es komisch“, flüstert Sabine Piv zu, während sie Magne über den Asphalt folgen. Er führt sie durch den düsteren Hinterhof zu einer Tür, die in das Fachwerkhaus hineinführt. Sie ist nur angelehnt und sie hören klappernde Gläser, als sie eintreten. Magne schlüpft hinter die Bar, schnappt sich drei Flaschen Limonade und ein paar kleine Chipstüten. Piv und Sabine stehen mucksmäuschenstill im dunklen Flur und warten.
„Warum bist du eigentlich hier?“, fragt Piv, als sie einen Augenblick später eine Cola von Magne entgegennimmt.
Verwirrt schaut er sie an.
„Was meinst du?“, fragt er sie. Geräusche von lachenden Menschen und Gläsern dringen aus der Bar zu ihnen in den dunklen Flur.
„Hier, meine ich“, versucht Piv sich zu erklären. „In einem Gasthaus.“
Als er gerade antworten will, lugt ein Kopf mit roten Haaren und riesigen Ohrringen aus der Tür zur Bar hinaus in den Flur.
„Hallo Magne“, grüßt die Frau fröhlich. Magne sieht kurz zu ihr und wendet dann seine ganze Aufmerksamkeit wieder Sabine zu.
„Ich habe gar nicht gehört, dass du hineingekommen bist“, sagt die Frau. „Oder dass du Gäste mitgebracht hast. Was für eine Überraschung, das muss ich schon sagen!“ Sie trocknet sich die Hände an dem Handtuch ab, das ihr über der Schulter hängt. Dann reicht sie erst Piv und anschließend Sabine die Hand.
„Ich heiße Sanne“, stellt sie sich vor. „Willkommen! Magne, ihr nehmt euch einfach, worauf ihr Lust habt, okay? Und es sind noch Spaghetti im Kühlschank, falls ihr Hunger bekommt.“ Sie lächelt immer noch und legt eine Hand auf Magnes Schulter. Er steht stocksteif da, bis sie ihn wieder loslässt.
„Naja, macht’s euch gemütlich, ihr drei!“, sagt sie fröhlich. „Und sagt Bescheid, wenn ihr irgendetwas braucht. Ich stehe den ganzen Abend hinter der Bar.“ Dann wendet sie sich um und geht wieder in die Küche. Ein würziger Duft von gebratenem Fleisch weht in den Flur, als sie die Tür öffnet und hinter sich wieder schließt. Piv spürt schon Hunger aufkommen. Als Sanne weg ist, atmet Magne erleichtert auf.
„Wer war das?“, fragt Sabine neugierig und setzt sich auf die Treppe. Piv lässt sich neben ihr nieder und sieht Magne an. Er steht auf dem braunen Holzfußboden, die Arme hinterm Rücken verschränkt.
„Das war Sanne“, sagt er kühl und ohne den Blick zu heben. „Sie arbeitet bloß hier.“
„Sie ist hübsch“, findet Sabine und nimmt einen Schluck Cola. Magnus runzelt die Augenbrauen und schnaubt verdrossen.
„Ach“, murmelt er und wendet den Kopf, so dass die Mädchen sein Gesicht nicht sehen können. Piv beobachtet ihn und pult an dem Etikett ihrer Colaflasche herum.
„Wo wohnst du denn?“, fragt sie ihn schließlich. Ein verwunderter Blick huscht in seine runden, braunen Augen.
„Hier wohne ich“, antwortet er.
Nun ist Sabine an der Reihe, erstaunt zu gucken.
„In einem Gasthaus?“, fragt sie ein bisschen zu schrill. „Kann man in einem Gasthaus wohnen?“
„Natürlich kann man das.“ Magne spricht gedämpft. „Unsere Wohnung ist in der oberen Etage. Wollt ihr sie sehen?“
Piv und Sabine nicken und stehen auf, damit er an ihnen vorbei die Treppe hinaufsteigen kann. Am Ende der Treppe ist eine Tür. Sie knarrt laut, als Magne sie öffnet.
„Hier also... schön hier“, lügt Piv, um höflich zu klingen. Sie folgt Magne in die kleine, düstere Wohnung.
Die Gardinen im Wohnzimmer sind zugezogen. Dennoch sickert ausreichend schwaches Licht durch den Stoff, so dass man das Chaos erkennen kann. Leere Colaflaschen auf dem Couchtisch, Wäscheberge auf dem Sofa und Haufen von Kabeln für alle möglichen Geräte wuchern durch das Zimmer.
Sie gehen am Wohnzimmer vorbei in die Küche. Hier stapeln sich Berge von Geschirr und auf den Fensterbänken stehen Kübel mit vertrockneten Pflanzen.
„Wohnt hier noch jemand mit dir?“, fragt Piv, als sie die Küche wieder verlassen. Magne führt sie an einer weiteren offenen Tür vorbei, die Einblick in ein ebenso verwüstetes Schlafzimmer gewährt, um die Treppe herum, hin zu dem anderen Schlafzimmer am anderen Ende der Wohnung.
„Nur mein Vater und ich“, antwortet er und öffnet die Tür zu seinem Zimmer. Hier ist es ganz anders als in der restlichen Wohnung. Hell, sauber und nicht im Geringsten unordentlich. Piv kann es fast gar nicht glauben, dass sie sich immer noch in derselben Wohnung befindet.
„Wo ist deine Mutter?“, fragt Sabine interessiert. Magne lehnt sich an die Wand, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Er wendet den Blick ab.
Piv bleibt in der Tür stehen. Über dem Bett hängt ein gerahmtes Bild von einer Frau.
„Sie ist tot“, sagt Magne.
Sabine und Piv reißen die Augen weit auf, als hätte jemand ihnen einen gewaltigen Schrecken eingejagt.
„Ich war noch klein als sie starb.“ Magne beeilt sich weiterzusprechen, bevor die Mädchen ihm Fragen stellen können. „Sie war sehr krank. Mein Vater spricht nicht oft von ihr.“
„Warum das denn nicht?“, will Sabine wissen. Sie setzt sich auf Magnes Schreibtischstuhl und stellt ihre Cola auf die blaue Schreibunterlage des Tisches. Nun betritt auch Piv zögernd das Zimmer. Sie setzt sich auf Magnes Bettkante.
„Ich glaube, er möchte mich nicht traurig machen“, antwortet Magne. Sabine nickt und knibbelt abwesend an irgendwelchem Krimskrams herum, den sie auf dem Schreibtisch gefunden hat.
„Fehlt sie dir?“, fragt Piv vorsichtig. Sie verspürt einen heftigen Druck im Magen und vermisst plötzlich ihre eigene Mutter.
Magne antwortet nicht. Stattdessen senkt er den Kopf und schaut auf seine Schuhspitzen. Ein paar lange Sekunden ist es totenstill zwischen den dreien.
„Manchmal vermiss ich sie schon“, murmelt er und schließt die Augen. Piv beißt sich betreten in die Unterlippe.
„Meistens, wenn ich krank bin oder so“, fährt er fort. „Oder einsam.“
Plötzlich erträgt Sabine die bedrückte Stimmung nicht mehr und schnellt wie eine Sprungfeder von ihrem Stuhl auf.
„Gibt es in dieser Stadt eigentlich irgendwelche spannenden Orte, an denen was passiert?“, fragt sie und marschiert Richtung Zimmertür. „Also, mal abgesehen vom Strand.“
Magne hebt den Kopf und sieht sie erstaunt an. Dann schenkt er ihr ein vorsichtiges Lächeln und zeigt aus dem Fenster.
„Dort ist der Hafen“, antwortet er. „Dort gibt es das beste Eis der Welt. Und dort hinten ist das Schloss, aber die haben gerade zugemacht. Im Sommer gibt es dort jeden Tag Besichtigungen und Führungen. Und dort ist unser Museum. Aber das hat jetzt auch schon geschlossen.“
„Tja, es ist schon eine ziemlich langweilige Stadt“, seufzt Sabine und greift in ihre Chipstüte. „Und es ist ewig