Der Heidekönig. Max Geißler

Der Heidekönig - Max Geißler


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offene Gärten geschaut. Matheis Maris nicht. — Ja, so war das mit dem Dichter Lukas ter Meulen. Der lange bleiche Mensch verursachte in dem biederen Jan van Moor ein gewaltiges Herzbeben und frisierte ihn in dieser Nacht sozusagen zurecht für die Welt, der er fortan gehören sollte. Matheis Maris starrte ihn dabei stumm und bewundernd an. — Er hatte sein Augenmass liegen gelassen in Nikolaas van der Layens Labyrinth.

      Lukas ter Meulen. Kaffeehauspoet. Für viele: ein Genie. Ohne Sitzfleisch. Als welches bei einem Genie die Hälfte der Begabung bedeutet. Genie haben, das heisst: fleissig sein wie Gott. Der ruhte am siebenten Tage — ruhete? — an jedem vorhergehenden aber schlug er sich eine Welt aus dem Herzen. Genie haben, das heisst: fleissig sein wie Gott und fast so weise. Ausserdem — ja —: wofür die deutsche Sprache kein Wort hat — das ist Genie. Einer nimmt ein Hälmlein Gras in die Hand — es fliegt ein Schmetterling daraus hervor. Einer knetet eine Krume Erde — es flattert ein Stieglitz auf. Es wischt einer ein Klümplein Farbe auf Eichenholz — und wird ein Gedanke Gottes daraus. Sehet, das ist Genie! Fast so weise wie Gott! Denn Gott nahm nichts in die Hände und warf sieben Millionen goldene Funken ins Weltall. Er nahm nichts in die Hände, und schüttelte das Blühen des Frühlings über die Erde, warf das blaue Band der Meere um sie her, richtete die ewigen Berge auf mit den silbernen Kronen, legte die Wälder dazwischen und dichtete Sommerwiesen hinein! Hosianna! Hosianna! — Nur als er den Menschen schuf, da nahm er etwas ... Oh!

      Alles redete der Dichter Lukas ter Meulen dem Matheis Maris in das erstaunte Herz. Seine Ehrfurcht vor Gott. Seine Verzweiflung an den Menschen. Seine Verachtung des Lukas ter Meulen. Seine Erschütterung vor der herrlichen Blüte des Willens, die aufgegangen war in Matheis Maris und seiner gottseligen Einsamkeit. Seine Anbetung vor der Allmacht dieses Willens, der einem ahnungslosen Dorfjungen das Himmelslicht der Gnade schenkte, die die Menschen gemeinhin »Künstlertragödie« nennen. Hatten die stumpfen Moorbauern den Akt im Paradiese nicht schon betrachtet als fertiges Trauerspiel? „Es ist so — ist so, ohne Ausnahme — soweit Menschen die fürchterliche Öde ihres Durchschnittsdaseins tragieren.“

      Lukas ter Meulen zermalmte das Mundstück seiner Virginia zwischen den Zähnen zu einem Pinsel ... „Ha, Tragödie! Eine Tragödie nur für die Schar derer, die ohne Willen sind!“

      Ter Meulen war bis oben voll von Schätzen, Merkwürdigkeiten und Seltenheiten. Er hatte sie in sich aufgestapelt wie Nikolaas van der Layen seine Raritäten im Labyrinthe der Westerstrasse. Nun warf er alles aus sich heraus und über des Matheis Maris weitäugiges Stummsein dahin. Er tobte in der Lust seiner Menschenverachtung und in der Lust der Verachtung seiner selbst. Aber er schrie nicht. Er sprach mit verhaltener, weichverschleierter Stimme. Dabei neigte er sein Gesicht über den kleinen Marmortisch gegen Matheis. Und kam wieder auf das Gnadengeschenk des Künstlertums zu sprechen und nannte dabei das Wort »Euphorie«.

      Da legte Matheis Maris der Einsiedler die Spitzen der Finger seiner rechten Hand an die Nasenwurzel wie eine Zange. Zuerst liess er sich den Sinn der vermeintlichen Zauberformel »Habemus pictorem« deuten. Dann erforschte er, was es mit der »Euphorie« für eine Bewandtnis habe ... Hilfe! Hilfe! schrie sein Bauernjungenverstand.

      Da war Lukas ter Meulen schon mittendarin in der Erläuterung des geheimnisvollen Zustands eines erhöhten Lebensgefühls, den er Euphorie genannt hatte. Die Euphorie, sagte er, beginnt bei einem Kranken an einer gewissen Stelle auf dem Weg in sein Sterben. An jener Stelle lauert die Erhabenheit des Himmels. Der Mensch ist von allen Schmerzen befreit. Es löst sich sein Bewusstsein ahnungslos auf ins Unendliche ...

      Matheis Maris kniff das Zänglein seiner Finger fester in die Nasenwurzel. Die Nägelmale waren zu sehen. Er senkte in Scham die Augen; denn er hatte ter Meulen nicht verstanden.

      Der erkannte das. Er sagte es ihm noch einmal und fand zu seiner Erklärung schlichte, volle Worte — bis der erlöste Atemzug des Maris ihm verkündete: es ist vollbracht.

      Ter Meulen erläuterte weiter in überweltlicher Geduld: „Krank — krank insgesamt ist die Menschheit, mein Freund! Aber das euphoristische Wunder des erhöhten Lebensgefühls wartet nur auf ein paar Auserwählte, die der Himmel mit dem Vorschmack der Seligkeit begnaden möchte in ihrem Sterben, als Vergeltung für ausgestandene Schmerzen: Siehe, du Armseligster, so süss ist Leben!“

      Lukas ter Meulen legte seine Hände auf die Hände des Maris: „Ihr aber, ihr Künstler, ihr wahrhaften Künstler, ihr schwimmt in diesem geheimnisvollen Strom erhöhten Lebensgefühls! Ihr, die einzigen, die den Goldbecher des Daseins leeren; denn für euch nur gilt das: Er schuf den Menschen ihm zum Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn. Wir andern — oh, wir sind ihm halbfertig aus seinen Schöpferhänden gefallen!“

      Es sassen nur noch wenige Gäste an einzelnen Tischen in dem grossen Raum umher. Die Kellner lehnten übermüdet in den Winkeln oder stahlen sich hinter Säulen ein Auge voll Schlaf. Die Uhr an dem Rundbogen über der Schankstätte zeigte ein Viertel vor drei. Da stellten die Zeiger das feine Sinnbild der mütterlich gebreiteten Arme. „Gehen wir,“ sagte ter Meulen. „Ich habe mein Leben verpasst — diese stumme Mahnung der Spätnacht verpass ich nie. Sehen wir.“

      Die Schlafstelle des Mannes, dessen Ruhm der Amsterdamer »Telegraaf« vor ein paar Stunden über die Welt gerufen hatte, enthielt ein Bett und daneben einen Gang. Über beiden war eine Decke, die war so gefährlich niedrig und schief, dass es Matheis Maris nicht einmal im Traum einfallen durfte, in seinem Bette sich aufzurichten. Jedennoch — das ungeheuere Erleben dieses Tages tastete sich hinter ihm hinein in die Finsternis der kleinen Kammer und redete auf ihn ein mit der verhaltenen Stimme des Lukas ter Meulen, und auch mit der bezwingenden Kraft: „Matheis Maris, du wolltest gestern und du willst morgen heimreisen? In deine Moorhütte willst du dich wieder verkriechen? Hinter den blauen Vorhängen des Himmels willst du dich wieder verstecken? Narr, Narr, du hast Mühe, die Sprache eines gebildeten Mannes zu verstehen, hast nicht die Kraft des Geistes, den Sinn dieser Sprache auszudenken, und willst in Dummheit verstocken?“

      Der Tag schien schon hell durch das handgrosse Stück Glas, das als Fenster unter die Ziegel über dem Bettgang geklemmt war. Da lag Matheis Maris auf seinem Lager, die Hemdbrust geöffnet, die Hand auf dem wildschlagenden Herzen. „Hab’ ich nicht aus dem Paradiese schauen können bis ins Herz Gottes? Es ist keine Stunde gewesen in dieser letzten Woche, keine Stunde mit jenem seligen Weitblick! Sie sagen nun: ich sei ein Maler. Bin ich es nicht geworden aus der Eingebung Gottes, aus dem beseelten Erfassen der Einsamkeit, die man dort atmen hörte?“

      Am anderen Morgen ging er in die Stadt mit dem Rucksack und dem derben Gehstock. Er stapfte dahin in seinen plumpen Schuhen und bäuerlichen Büxen, die aussahen wie zwei auf die Spitzen gestellte Zuckerhüte. Es lief ein staubiger Wind zwischen den Häuserzeilen, unfroh und übernächtig wie ein Strassenkehrer.

      Unfroh und übernächtig war Matheis Maris. Er blieb vor vielen Türen stehen, an denen angeschlagen war, dass in diesem Haus ein Zimmer zu vermieten sei. Aber die Sehnsucht nach Licht, die Sehnsucht nach einem »Blick ins Herz Gottes« bedrängte ihn. Da lief er hinaus an die Säume der grossen Stadt.

      Nach einem halben Jahre. — Es erzählt sich das über die Massen leicht hin: Matheis Maris war nun Bürger in dieser neuen Welt geworden. In Wirklichkeit hatte er sich mit Gott und dem Dasein, am grimmigsten aber mit sich selbst herumgeschlagen ohn’ Unterlass. Er war zwölfmal umgezogen — was sich daraus erklärt, dass er in jener Nacht im Kaffeehaus mit Lukas ter Meulen keine Ahnung von einem Atelier hatte. Seine Werkstatt war von Anfang an die blaue Kuppel des Himmels gewesen und sein Teppich die rote Blüte der Moorheide. In der grossen Stadt aber lebten sie in dem Wahne, der Mensch müsse sich einmauern — das gehöre durchaus zum Glück. Hier lebten sie in der närrischen Meinung, das Gemisch der Luft, das von tausend durstigen Winkeln, Erkern und russschweren Dächern aufgetrunken wurde, wäre Licht! Nun ja, die Augen dieser Menschen brauchten keine Offenbarungen’ aus dem Herzen Gottes! Ihren stumpfen Sinnen entsprachen die Dämmerungen ihres Daseins. Und für ihre Gepflogenheiten hatten sie sich ein Licht erfunden. Matheis Maris der Philosoph erkannte: diese Erfindung und diese Gepflogenheiten — auch sie entstammten der Sehnsucht nach dem geheimnisvollen Zustand erhöhten Lebensgefühls! ... Es lagen allerhand Lockungen in solcher Art Dasein — auch für ihn, der das Dasein jener vorübersausen sah wie einen Luxuszug.

      Er


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