Der Heidekönig. Max Geißler
jedoch legte dieser Tätigkeit nur insofern Wert bei, als sie ihn in die Lage setzte, sich mit Anstand durch sein Kaffeehausleben zu schlagen.
Das Gerücht von seinem Genie kannte er natürlich. Vielleicht war er der einzige in der Welt unter den Erscheinungen seiner Art, dem man diesen Ruhmestitel zubilligte ohne die geringste Beimischung von spiessbürgerlichem Mitleid und ohne ein heimlich spöttelndes »na ja«; denn Lukas ter Meulen ward weder in Schuhen mit zerlaufenen Sohlen noch in vertragenen Kleidern gesehen. Auch mit der schäbigen Eleganz des Bildhauers Gerbrand van Aken hatte des Dichters Zigeunertum nichts gemein. Dass er keinen Zent Geld darüber hinaus verdiente, als er für seine Lebensgewohnheiten nötig hatte — eben dies war für die biederen Bürger eins der kapabelsten Zeichen seiner Genialität. Dass sich im Kaffeehaus ein Ring von Schülern um ihn sammelte, von denen mancher älter war als der Meister, überzeugte beinahe genau so stark. Überdies wusste man: für viele dieser Schüler war Lukas ter Meulen Grund und Kompass ihres Lebens geworden.
Er ward bei keinem literarischen Tee gesehen. Seine Post wurde im Kaffeehaus für ihn abgegeben — die Adresse »dem Dichter Lukas ter Meulen in Holland« genügte. Aber die Einladungen der literarischen Zirkel begrub er in den Papierkorb, der bei seinem Stammtisch eigens für ihn aufgestellt war.
Nur an diesem Stammtisch war er nahbar, und nur, wenn er nicht die List erkannte, ihn als Zierstück für einen Salon mit wohlfeilem geistigen Ehrgeiz zu gewinnen. Denn er hasste diese Lebensformen. Er hasste die gesellschaftliche Vereinigung von Menschen als Wechselstuben für abgegriffene Kleinmünze. Und so einer unvorsichtig genug war, ihm seine Genialität ins Gesicht hinein zu versichern, ja, den verachtete er. Dann erhob sich Lukas ter Meulen — und wär’ es auch gewesen, dass der Kellner just eine frische Tasse duftenden Mokka vor ihm auf die kleine Marmortafel geschoben hätte — er erhob sich und schritt ohne Gruss von hinnen. — Von solcher Art war Lukas ter Meulen.
Er war ein Mensch ohne Überheblichkeit. Er war ein Mensch ohne phantastische Vorstellungen über die Kräfte seines Geistes, an denen er sich nie vermass. Im übrigen schätzte er sie genau so hoch ein wie jene, die ihn kannten. Aber dies war der Unterschied: jene sagten, bei Lukas ter Meulen sei kein Ding unmöglich — wenn er nur wolle, dann könne er sich vornehmen, was es auch sei, es müsse ihm gelingen. Lukas ter Meulen dagegen wusste: sein Wille, sich etwas vorzunehmen, durfte die Grenzen nicht überschreiten, die ihm das unentbehrliche Kaffeehausdasein sicherten.
Er hatte versucht, sein Leben anders zu leben, Da war es aus mit ihm, aus. Von Stund an machte er den Eindruck eines Mannes, dem nie etwas eingefallen wäre. Er wurde blöd am Geiste. Er wurde zitterig an seinem Leibe, und er wurde lass in seiner Kleidung. Er wusste, er würde der verwahrloseste unter den Literaturzigeunern Amsterdams werden, wenn ihn ein Verhängnis dazu verurteilte, die alten Lebensgewohnheiten aufzugeben. — So besass er die Gaben eines Genies ... bis auf diesen mangelnden Willen, oder bis auf die Fähigkeit, an jedem Tag ein Stück zielbewusster Arbeit zu verrichten, oder sich zu einem sichtbaren Werke von Wert und Dauer zu sammeln ... oder wie man das sonst nennen will.
Weil er seine Gaben an dem wirtschaftlichen Ertrage mass, den sie ihm lieferten, hielt sich Lukas ter Meulen zuletzt für ein genau so verpfuschtes Exemplar seiner Gattung, wie dies Matheis Maris mit sich selber tat in der Stunde der verlorenen Begegnung am Heidehügel vor Amsterdam. An den Kreuzespfahl seiner Gewohnheiten genagelt oder an den seines brüchigen Willens, verhehlte sich ter Meulen den Jammer nicht, der es zuletzt doch mit ihm war. Aber dieser Jammer wurde masslos, wurde schmerzhaft, ja er wurde tödlich, wenn ter Meulen auf die merkwürdige Idee verfallen wäre, ein anderer zu sein als der unbekümmerte, funkelnde, nachdenkliche, weisheitspendende Kunstphilosoph und Kaffeehauspoet. Darin lag das Geheimnis seines Glücks. Es war ein Jammer um ihn, und dennoch: glücklich zu sein — es mag kein Mensch je gegen das holdselig unbewusste Rätsel des Himmels, es mag kein Mensch je zu den goldenen Blumen der Sterne sinnvoll emporgeträumt haben, der glücklicher gewesen wäre, als Lukas ter Meulen.
Weder Matheis Maris noch der Bildhauer Gerbrand van Aken wusste um diesen Stand der Dinge — wie denn ausser ter Meulen selber jedem Menschen jegliche klare Erkenntnis über ihn gebrach. Allenthalben galt dieser Gekreuzigte als der wahrhaft Selige auf Erden. Dafür sorgte sein bedachtsamer Ernst, seine üppigtragende Weisheit, seine massvolle Art und die Sicherheit, das Leben zu meistern. Er lebte wie die Blumen auf dem Felde, von denen gesagt ist, dass Salomo in seiner Herrlichkeit sich nicht mit ihnen vergleichen konnte. War ein Mensch in der Welt, dem nie etwas misslang? Nun ja, Lukas ter Meulen! War ein Mensch, der alles wusste, dem seine Tage gehorchten, dem keine Laune des Schicksals einen Stein in die Suppe warf? Wer anders, als Lukas ter Meulen!
So erschien er dem Bildhauer van Aken. Und van Aken hätte augenblicklich sein ganzes bisheriges Wirken als einen verhängnisvollen Irrtum abgeschworen, wenn er — in seiner anderen Art — nicht genau so unlöslich an sein Kreuz geschlagen gewesen wäre wie ter Meulen selber.
Kärglich entlohnt, halb vergessen von der Welt, ohne Aussicht, für seine Halbkunst je eine Betätigung zu finden — so alterte er hinein in das Leben, so alterte er in seine Not. Fadenscheiniger ward sein schwarzer Gehrock, der aus einer anderen Zeit kam. Rostiger und raucher ward sein Zylinderhut, sein Gesicht blässer, sein Leib hagerer. So stelzte er durch die Gassen der Stadt. Und da sich niemand um ihn kümmerte, hielt man ihn für einen Mann von verzwickter Einmaligkeit, bei dessen Anblick es die Menschen lächerte.
Wie schlecht es ihm ging — das ahnte ausser ter Meulen niemand; denn er war zu stumm und stolz, es zu verraten.
Nun wäre kaum etwas verwunderlicher, als wenn der gescheite Herr Lukas ter Meulen seine Bergpredigt über all diese Dinge gegen die neunmal verschlossenen Türen des Gerbrand van Aken gerichtet hätte. Nein nein, derartig lächerliche Künste betrieb Lukas ter Meulen nicht. Er hatte die Gelegenheit zu seiner Gewissensrede auf dem Heidehügel wahrgenommen, von dem Bildhauer zu reden als von einem unrettbar Verlorenen, als von einem Menschen, der kein Geschick hat, auch nur leidlich glücllich zu sein — aber er zielte mit dieser Rede auf Matheis Maris. Das geschah einfach deswegen, weil er ein sinnfälligeres Lehrobjekt für den eichenhölzernen Maris nicht finden konnte.
Wie es um diesen stand, wusste ter Meulen nämlich ganz genau. Seit er den Aufsatz im »Telegraafen« gehabt, hatte er ihn — wie man so sagt — nicht mehr aus den Augen verloren, wiewohl er ihm seit Monaten nicht leibhaftig begegnet war. Just deshalb.
Von Nikolaas van der Layen hatte er erfahren: der Schützling ter Meulens zerrisse sich innerlich an den neuen Richtungen.
Anfangs hatte ihm der Althändler noch ein paar Bildertafeln abgekauft. Aber immer unfertiger, verworrener, ungelöster war geworden, was er ihm vorgelegt hatte. So zerschütterte sich der Glaube van der Layens an das Talent des Matheis Maris. Und dennoch: es war zwischen ter Meulen und dem Alten im verschossenen Seidenkäppchen die Rede von Matheis Maris, so oft sie unter der kleinen Schirmlampe des Labyrinths beieinander sassen.
Diese Zusammenkünfte fanden sehr häufig statt. Von ter Meulen rührte her die Bezeichnung Katakomben für das taglichtlose Käfterchengelass des Herrn van der Layen. Darin verschanzte sich der Dichter vor der Welt. Es wusste ausser dem Alten kein Mensch von dem geheimen Zweibund; denn ausser in dem Sonderfalle des Matheis Maris war er dort von niemandem gesehen worden.
Van der Layen aber beriet er in allem, was der vornahm — diese Behauptung muss zweimal und bedachtsam gelesen werden von dem, der die Absicht hat, mit der Geschichte des Matheis Maris des weiteren sich zu befassen.
In van der Layens Bücherregalen war das Geheimnis beschlossen des schier ungeheuerlichen Wissens, das den Kunstphilosophen und Dichter ter Meulen zu einer so rätselvollen und bewunderten Erscheinung machte. Es waren diese Studien für ihn weder Arbeit noch Mühe. Ter Meulen wurde dabei weder von Ehrgeiz getrieben, noch verfolgte er ein Ziel. Sondern: es war für ihn die einzige Möglichkeit, sich durch das Dasein zu lustieren in einer seinen Gaben angemessenen Weise — sofern dies Dasein nämlich über den Rahmen des Kaffeehauses hinauslag.
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