Camillas Zimmer. Fanny Hedenius

Camillas Zimmer - Fanny Hedenius


Скачать книгу
war jetzt schon fast bei den Wohnblocks und der Schule. Da fiel mir plötzlich ein, wann ich das letzte Mal so wütend war. Das ist einige Monate her. Es war im Dezember, und Danja wurde von unserer Klasse zur Lucia gewählt, aber ‚nur zum Spaß‘. Als ich damals so wütend wurde und schrie und die beschimpfte, die Danja so weh getan hatten, da begriff ich plötzlich mit dem ganzen Körper, wie abscheulich es ist, einen Menschen nicht ernst zu nehmen und sich einen Spaß mit ihm zu machen. Und ich spürte, wie schrecklich es sein muß, nicht wirklich gemeint zu sein. Weil ich selbst... Gibt es mich nicht wirklich? Jetzt weinte ich wieder, und ich weinte ganz viel. Was haben Mama und Papa mir eigentlich getan? Nichts. Ich hatte das Recht, für Danja wütend zu werden, aber nicht für mich selbst.

      Ich zog die Nase hoch und sah die düsteren Gestalten, die mir entgegenkamen und mich anschauten. In unserem Viertel bleiben die Leute abends zu Hause. Nach acht sind die Straßen völlig leer. Aber hier waren die Leute noch auf der Straße. Und schauten anderen Leuten ins Gesicht. Und da vorne fuhren Per und Kristian vor Loulous Haustür mit dem Fahrrad auf und ab. Die bilden sich Gott weiß was ein auf ihre silbermetallicglänzenden Zehn-Gang-Räder. Mein Fahrrad ist uralt und heißt Schwalbe, und ich bin stolz drauf. Ich halt’s nicht aus! Ich halt’s nicht aus, wenn die mich jetzt erkennen und ich sie grüßen muß.

      Ich paßte nicht auf und stolperte in noch drei Wasserpfützen und rannte dann in Åsas Hauseingang, der direkt neben Loulous liegt.

      Åsa ist meine beste Freundin. Sie ist meine einzige Freundin.

      Ich machte im Hausflur kein Licht an. Ich wischte mir mit dem Schal das Gesicht ab und zog die durchweichten Stoffschuhe aus. Dann hatte ich aber das Gefühl, daß es noch blödsinniger aussieht, strümpfig und mit den Schuhen in der Hand dazustehen, und zog sie wieder an. Sie waren eiskalt.

      Ich rannte die Treppen hoch, wartete aber, bis ich wieder ganz ruhig atmete, dann klingelte ich. An der Tür hat Åsa ein Schild angebracht, das sie aus einer Zeitschrift ausgeschnitten hat. Darauf ist ein grüner Hügel mit ein paar Katzen. ‚Hier wohnen Beata und Åsa‘, steht auf dem Schild.

      „Grüß dich, Camilla, bist du noch so spät unterwegs? Åsa ist bei Loulou, aber sie kommt sicher jeden Moment. Sie hat versprochen, um neun zu Hause zu sein“, sagte Beata und lächelte mit ihren Grübchen. Sie sieht eigentlich mehr wie Åsas große Schwester aus und nicht wie eine richtige Mutter.

      „Dann geh ich zu Loulou“, sagte ich schnell und drehte mich um, damit sie mich nicht so genau anschauen konnte.

      Ich hatte eigentlich keine Lust, zu Loulou zu gehen. Sie ist so eingebildet, weil sie eine Art Magnet in sich hat, der alle anzieht, besonders Jungens. Aber Åsa stört sich weder daran, daß sie eingebildet ist noch an den Jungens. Sie ist oft ganz freiwillig mit Loulou zusammen. Sie kennen sich seit dem Kindergarten, und ich glaube, daß Marianne, das ist Loulous Mutter, Beata ziemlich oft hilft.

      Wenn Åsa und Loulou zusammen sind, dann fühle ich mich schrecklich ausgeschlossen. Ich habe einmal beobachtet, wie sie zusammen Engel im Schnee gemacht haben. Åsa sah mit Loulou zusammen so glücklich aus und schien mich überhaupt nicht zu bemerken. Ich existierte gar nicht für sie. Da wurde ich eifersüchtig. Und dann habe ich Zweifel, ob sie mich wirklich am liebsten mag, wie sie immer sagt.

      Und jetzt war ich trotzdem auf dem Weg zu Loulou, denn an diesem Abend machte ich offenbar auch das, was ich sagte.

      David machte die Tür auf. Er ist Loulous Bruder. Er ist ein Jahr jünger als Loulou. Er hatte eine Schere in der Hand und sah ganz lieb aus. Er schaute mich nicht so genau an, weil wir uns nicht sehr gut kennen und er offensichtlich mit irgendwas beschäftigt war.

      „Hallo, komm rein. Loulou guckt mit Kenneth Video, aber Åsa ist da und schaut zu, wie ich Mama die Haare schneide.“

      In der Küche saß Marianne auf einem Stuhl.

      Die Füße hatte sie in einer Schüssel, und vor ihr auf dem Tisch stand ein Glas Rotwein. Die eine Seite ihrer schon ziemlich kurzen Haare war mit Clips hochgesteckt. Sie war ausgesprochen guter Laune.

      „Es kitzelt, David, mein Engel“, sagte sie. Es machte David nichts aus, daß sie ihn vor uns ‚mein Engel‘ nannte, er mußte sich konzentrieren. „Hallo Camilla, zieh dich aus und setz dich. Findest du auch, daß ich ausgesprochen hübsch werde? Åsa findet das.“

      Åsa traute sich, ein „njaa“ hervorzubringen und zu lächeln, sie ist vertrauter mit ihr als ich.

      „Du bist ganz toll, David. Du schneidest wie ein junger Gott. Diese handwerklichen Fähigkeiten hast du von deinem Großvater mütterlicherseits. Er war gut, aber du bist genial!“

      David ließ sich nicht stören. Ganz ruhig steckte er einzelne Strähnen mit Clips hoch, machte den Kamm naß und schnitt. Ab und zu beugte er sich vor und blies ihr ins Gesicht, damit die abgeschnittenen Haare wegflogen. Zum Schluß war der ganze Boden voller schwarzer Haare. Es sah aus wie bei uns, wenn ich die Hunde gebürstet habe. Als er fertig war, kämmte David Marianne und gab ihr einen Spiegel. Sie freute sich und lachte.

      „Nicht schlecht, mein Süßer!“

      Dann grapschte sie nach Davids Arm, und es gelang ihr sogar, ihn zweimal auf die Backe zu küssen. Aber jetzt wurde David streng. Er hob mit der freien Hand Kamm und Schere auf und schlüpfte weg.

      Dann zeigte Åsa uns eine Zeichnung, die sie von den beiden gemacht hatte. David war ihr besonders gut gelungen. (Marianne sah auf dem Bild eher wie ein Tier aus.) David wurde ein bißchen rot, als er das Bild von sich sah. Er schaute Åsa an mit einem Blick, der zu sagen schien, daß er sie sehr hübsch fand. Sie ist hübsch, aber man muß schon einen ganz bestimmten Blick haben, sozusagen einen netten Blick, um das sehen zu können. Ich finde, daß es eigentlich mehr ihre Art ist und ihre Ausstrahlung, die so wunderbar sind. Ich war also ein bißchen überrascht, daß David sie so anschaute. Vielleicht will ich sie ganz allein gern haben. Aber ich weiß natürlich, daß die meisten Menschen sie gern haben.

      Mir war es sehr recht, daß die anderen in der Küche so miteinander beschäftigt waren und niemand sich um mich kümmerte. Mir war es so lange recht, bis Åsa ihren Zeichenblock zuklappte und sagte:

      „Es ist schon Viertel nach neun, ich muß sausen!“

      Was sollte ich jetzt machen? Da bat Marianne mich, die Rotweinflasche zu holen und ihr einzuschenken. Ich verstand das so, daß sie nichts dagegen hätte, wenn ich noch ein Weilchen bleiben würde.

      „Wer ist Kenneth?“ fragte ich, als ich das Gefühl hatte, daß ich so lange stumm dagesessen hatte, daß es schon fast unhöflich war.

      „Das ist Mamas Neuerwerbung“, sagte David und drehte uns sehr abweisend den Rücken zu. Er war unglaublich damit beschäftigt, die Spüle und den Herd sauberzuwischen, die auch wirklich ziemlich schmutzig waren. Besonders der Herd hatte Schmutzränder, denen kaum beizukommen war.

      „Er hat sein Videogerät in Loulous Zimmer aufgestellt.“

      „Warum darf denn ausgerechnet sie es in ihrem Zimmer haben?“

      „Darf? Weil niemand es im Zimmer haben will. Und im Wohnzimmer muß Mama ihre Ruhe haben, wenn sie näht.“

      „Was ist denn so schlimm an dem Video?«

      „Am Videogerät ist nichts schlimm, aber an den Filmen. Die sind absolut widerlich.“

      „Alle?“

      Ich habe nur einmal ein kleines Stück von einem ekligen Videofilm gesehen. Aber das sagte ich nicht.

      „Auf jeden Fall alle, die er sich anschaut“, sagte David.

      In dem Moment kamen Kenneth und Loulou in die Küche. Sie blinzelten ins Licht und schauten uns an, als ob sie an einem merkwürdigen Ort in einem fremden Land unter unbekannten Menschen gelandet wären.

      „Erzähl bloß nichts!“ rief David und hielt drohend den Spüllappen hoch, als ob er ihn Loulou ins Gesicht werfen wollte.

      „Zuerst hängten sie ihn bei lebendigem Leib an einem Haken auf...“, sagte Loulou


Скачать книгу