Zwischen zwei Feuern. Denis Prodanov
Berichte und Memoiren wurden zur Beschreibung der Lebensbedingungen der jüdischen Bevölkerung während des Bürgerkriegs herangezogen. Ebenso wurden Regierungsdokumente und Veröffentlichungen der Kommunistischen Partei zu Nationalitäten-, Bildungs- und sonstigen Fragen berücksichtigt, um ein möglichst umfassendes Bild der Lage von Jüdinnen und Juden während des Bürgerkriegs zu schaffen.
Was noch für die Leser und Leserinnen zu beachten ist, ist die extrem bürokratisierte Sprache der Originaltexte, die sich auch in der Übersetzung durchschlägt. So absurd strukturiert und bürokratisch das bolschewistische Regime stratifiziert war, so lesen sich auch dessen Erlässe, Dekrete und Gesetze. Begriffe wie Komitee, Kommissariat, Rat, Konzil usw. hageln auf die Leserinnen und Leser ein, was aber niemanden entmutigen soll. Sie dienen eher dem Verständnis, wie kompliziert und bürokratisch die Gesellschaft und das Regime aufgebaut und verwaltet wurden. Den hohen Stellenwert von Bürokratie zu veranschaulichen, ist besonders wichtig, da vielen Lösungsansätzen hinsichtlich des Problems der Judenverfolgung bürokratische Hürden im Weg standen und diese Ansätze dementsprechend zu Zeiten des Kriegs nicht zielführend waren.
Ortsbezeichnungen haben sich im Laufe der russischen Geschichte immer wieder geändert. Als Beispiel dient Sankt Petersburg. Da dieses zu Zeiten des Bürgerkriegs Petrograd hieß, ist Petrograd auch die Bezeichnung, die in diesem Buch zum Einsatz kommt.
Begriffe und Namen, die für ein besseres Verständnis des Buches wichtig sind, werden im Glossar, das sich am Ende des Buches befindet, erläutert.
Die folgenden Kapitel liefern Eindrücke diverser Vorfälle und Pogrome in unterschiedlichen Gebieten Russlands und anderer Gebiete wie der Ukraine oder Weißrussland. Historisch besonders wichtige Ereignisse wie der Beilis-Fall, besondere Berichte und Empfehlungen der Behörden oder ein militärischer Aufstand jüdischer Kämpfer werden in Exkursen beleuchtet. In eigenen Kapiteln wird die Rolle der faschistischen Organisation der Schwarzen Hundertschaften, des Propagandaorgans OSVAG oder der Russisch-Orthodoxen Kirche dargelegt. Verschiedene Geschehnisse an verschiedenen Orten zu verschiedenen Zeiten des Bürgerkriegs sollen ein umfassendes Bild liefern, welchem Leid und Schrecken die jüdische Bevölkerung ausgesetzt war.
Die Anzahl an jüdischen Opfern des Bürgerkriegs ist noch immer umstritten. Realistisch geschätzt, müssen wir von etwa einer Million Betroffener ausgehen. Dieses Buch trägt dazu bei, ihren Stimmen Gehör zu verschaffen. Einhundert Jahre später stellen die Pogrome während des Bürgerkriegs noch immer ein unbequemes Thema für die Geschichtsschreibung dar. Sie werden nicht genug erforscht, nicht genug gelehrt. Einhundert Jahre später ist Antisemitismus in Russland noch immer ein großes Problem. Er besteht fort, ebenso wie andere Formen des Rassismus. Jüdinnen und Juden haben Angst, als solche erkennbar auf die Straße zu gehen. Es kommt zu Anschlägen auf Synagogen. Rechtsextreme Horden ziehen ungestraft durch Russlands Städte.
Wieder kann der Einfluss der Russisch-Orthodoxen Kirche nicht genug betont werden. Wie schon in Zeiten der Zaren arbeitet der russische Staat eng mit der Kirche zusammen. Eine durch ein autoritäres Regime gespaltene Gesellschaft schürt ethnischen Hass, sei es im Russland der Bolschewiken 1920 oder im Russland Putins 2020.
Zur Veränderung all dieser soziopolitischen Missstände, die auf Mythen, Ignoranz und mangelnder Bildung beruhen, muss das Thema Antisemitismus offen diskutiert und erforscht werden. Geschichtliche Forschung kann sich hier einbringen, um die Wurzeln der heutigen Gesellschaft zu verstehen und Probleme, die seit mehreren Hundert Jahren gleichermaßen die Gesellschaft prägen, in Angriff zu nehmen. Dieses Buch soll ein Beitrag zur europäischen Antisemitismus-Forschung sein, die nicht nur in Russland relevanter denn je erscheint.
Wurzeln des russischen Antisemitismus: Ein kurzer Abriss vom Mittelalter bis zum Bürgerkrieg
Der Russische Bürgerkrieg war in den Regionen des ehemaligen Zarenreichs von extremen Ausformungen von Antisemitismus geprägt. Dazu gehörten Angriffe auf die jüdische Bevölkerung, Massenmorde, Folter, Vergewaltigungen, Pogrome und Brandanschläge auf Häuser und Synagogen. Die Behauptung, dass die jüdische Bevölkerung unter dem Bürgerkrieg litt, wäre eine Untertreibung. Litten Russen und Russinnen, Ukrainer und Ukrainerinnen, Weißrussen und Weißrussinnen und andere ethnische Gruppen oder Nationalitäten unter dem bewaffneten Konflikt, dann litten Jüdinnen und Juden doppelt oder sogar dreifach, da sie methodisch und vorsätzlich als religiöse und ethnische Minderheit verfolgt wurden.
Während im Bürgerkrieg ganze Landstriche in einen Abgrund aus Chaos und Blutvergießen stürzten, ging die Bevölkerung ganz wie in den alten Zeiten dazu über, Jüdinnen und Juden pauschal die Schuld zu geben und Angst, Frust und Aggressionen an ihnen auszulassen. Die Einwohner und Einwohnerinnen der Schtetl wurden zur Zielscheibe wahren Terrors – zuerst vonseiten Deklassierter, Hooligans, Straßenkrimineller und gehässiger Nachbarinnen und Nachbarn durch die Zivilbevölkerung, dann auch durch die verschiedenen Armeen, bewaffnete Streitkräfte, Meuten und Banden. Gegen solche Willkür existierten keine Schutzmechanismen. Bis zum Ende des Bürgerkriegs war die jüdische Gemeinde vollständig sich selbst überlassen.
Die Straflosigkeit, die auf das Töten der jüdischen Bevölkerung an der Kriegsfront folgte, war absolut. Darüber hinaus wurde das Töten wehrloser Menschen durch die Weiße Armee und auch durch andere Armeen perverserweise als „Tapferkeit“ oder sogar „Heldenmut“ angesehen. Dementsprechend schrieb der Militär A. A. Walentinow in seinem „Krimepos“ über einen der Adjutanten der Freiwilligenarmee, der berüchtigt dafür war, 1919 innerhalb von zwei Stunden 168 Juden erhängt zu haben. Laut Walentinows Aufzeichnungen „rächte [der Adjutant, Anm.] seine Verwandten, die auf Anweisung eines jüdischen Kommissars abgeschlachtet oder erschossen worden waren“1.
Beinahe schockierender als die Morde selbst ist die Tatsache, dass ein solcher Mörder im Hauptquartier der Weißen Armee toleriert und nicht exekutiert wurde. Weiters war das Motiv jener Zeit charakteristisch: die Rechtfertigung von Hinrichtungen „aus Rache“ für die Familie, was für sich ein hässliches antisemitisches Klischee darstellte. Zur Zeit des Bürgerkriegs beruhte dieses Klischee auf dem Mythos, dass die bolschewistische Macht in Händen jüdischer Kommissare lag. Da auch die Bolschewiken mordeten, hatten die Freiwilligen der Weißen Armee ihrer Wahrnehmung nach keine andere Wahl, als kommunistische Kommissare zu töten, die wiederum laut ihren Hirngespinsten großteils Juden waren.
All dies war antisemitischer Unsinn. Aber wo lagen dessen Wurzeln? Der offizielle Grund für den Mythos jüdischer Bolschewiken stand damit in Zusammenhang, dass viele der Bolschewiken in Führungspositionen jüdischen Familien entstammten und ein Pseudonym angenommen hatten. Leo Trotzki wurde zum Pseudonym für Leib Bronstein. Lew Kamenews wirklicher Name war Lew Rosenfeld. Karl Radeks Name war Karol Sobelsohn, und W. Wolodarsky hieß in Wirklichkeit Moisei Goldstein. Wie dem auch sei, im Gegensatz zu den simplen Theorien der Antisemiten hatten die Bolschewiken mit ihren Wurzeln gebrochen und waren zu eingeschworenen Marxisten, Atheisten und Internationalisten geworden.
Der Prozentsatz von Juden und Jüdinnen zuerst in der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands und danach in der Kommunistischen Partei war tatsächlich sehr gering. Die Februarrevolution und der darauffolgende Oktoberputsch hatten politische, soziale, wirtschaftliche und historische Gründe, die mit Judentum, Ethnizität oder Religion nichts zu tun hatten.
Der antisemitische Mythos jüdischer Kommissare hielt sich dennoch hartnäckig. Grund dafür war, dass Antisemitismus in Russland tief verwurzelt war. Seine Anfänge sind bis in die jüdische Siedlung im Kiewer Rus zurückzuverfolgen, wo Ritualmordlegenden gang und gäbe waren, laut denen Juden Nicht-Juden ermordeten, um Blutopfer zu bringen. Bereits im Jahr 1113 kam es im Judenviertel Kiews zu Ausschreitungen und Pogromen sowie zu weiteren Exzessen. Die Problematik von Antisemitismus wurde damals in mehreren alten Quellen dokumentiert.2
Die feindselige Haltung der herrschenden Klasse, der Fürsten und der Orthodoxen Kirche führte zu Misstrauen, Schikanen und Hass Fremden gegenüber, und als fremd wurde auch die jüdische Bevölkerung wahrgenommen. Diese Indoktrinierung hatte die Verfolgung von Juden und Jüdinnen, den Kampf gegen die „Ketzerei der Judaisierer“, Diskriminierung und die skrupellosen Pogrome des Kosakenführers Bohdan Chmelnyzkyj im 17. Jahrhundert zur Folge.3
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