Zwischen zwei Feuern. Denis Prodanov

Zwischen zwei Feuern - Denis Prodanov


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werden. Die Folgen waren legalisierte Verfolgung durch die Verwaltung, erhöhte Steuern, Verbannungen, die Schaffung eines Ansiedlungsrayons und vielerlei juristische Verfolgung basierend auf falschen Anschuldigungen gegen Jüdinnen und Juden. Sie wurden immer wieder der Ritualmorde bezichtigt, wie zum Beispiel im Straffall des Ritualmords von Welisch (1823–1835), der sich elfeinhalb Jahre hinzog. 42 jüdische Angeklagte wurden bis zu neun Jahre in Haft gehalten, gefoltert, kamen teilweise zu Tode und wurden letztlich freigesprochen.4

      1882 nahmen nach der Ermordung von Zar Alexander II. und dem Aufstieg des antisemitisch geneigten Alexander III. antijüdische Verfolgungen und Pogrome zu. Die „Maigesetze“ traten in Kraft.5 Diese restriktiven Gesetze verboten Juden und Jüdinnen, sich in ländlichen Gebieten niederzulassen, Land zu pachten, an christlichen Feiertagen Handel zu betreiben und außerhalb von Schtetln und Dörfern Grund und Boden zu erwerben. Gewalt und Unterdrückung auch durch die Verwaltung führten zur Abwanderung Tausender Jüdinnen und Juden aus den westlichen Grenzgebieten.

      Abseits dieser Entwicklungen bemühten sich die Rechtsgerichteten im Russischen Reich, Revolution und Sozialismus mit angeblichem jüdischem Einfluss in Verbindung zu bringen. Einer der Ersten, der die Idee eines „fremden“ Charakters der revolutionären Bewegung in Russland formulierte, war der konservative Historiker D. I. Ilowajskij. Der Autor zahlreicher Geschichtsbücher argumentierte, dass russische Revolutionäre nichts weiter als ein blindes Werkzeug in der Hand der Polen und Juden seien.6 Andererseits, wie auch Sozialrevolutionär und Journalist Mark Wischnjak festhielt, war es wohl kaum nur die extreme Rechte, die behauptete, dass die Russische Revolution das Werk von Ausländern und Außenstehenden sei.7 Etliche politische Strömungen behaupteten dies. Wie dem auch sei, diese Vorstellung eines Imports der Revolution aus dem Westen etablierte sich in konservativen Kreisen, da sie der Elite und ihrem angeblichen Patriotismus schmeichelte.

      Trotzdem ist der Hauptgrund für die erfolgreiche Etablierung von Antisemitismus in Russland anderswo zu verorten. Seine Wurzeln reichen weit zurück in die Monarchie und in den rechten Flügel der Russisch-Orthodoxen Kirche, die aktiv dem Judenhass und dessen aktiver Verbreitung verschrieben war. Insofern unterschied sich die Russisch-Orthodoxe Kirche kaum von der Katholischen Kirche und ihrer jahrhundertealten Dichotomisierung von Christen und Juden, der Aufhetzung von Christen/Christinnen gegen Juden/Jüdinnen und daraus resultierenden Kreuzzügen, mittelalterlichen Pogromen, Zwangskonvertierung zum Christentum und Verstoßung.8

      Hier sei angemerkt, dass außer orthodoxem Christentum und Katholizismus auch der frühe Protestantismus von Antisemitismus durchsetzt war. Ein berühmtes Beispiel findet sich in Martin Luthers Traktat „Über die Juden und ihre Lügen“ aus dem Jahr 1543. Er hielt es für ebenso aussichtslos, Juden zu bekehren, wie zu versuchen, den Teufel zu bekehren. Dieses Traktat ist durchzogen von blutrünstigen Forderungen nach der Verfolgung von Juden und Jüdinnen sowie dem Niederbrennen von Synagogen und Schulen, dem Abriss von Häusern, der Konfiszierung heiliger Schriften wie der Tora und dem Verbot von Predigten durch Rabbis bei Todesstrafe sowie dem Verbot des Umherziehens von Juden und Jüdinnen auf Landstraßen.9

      Der Autor Felix Rachlin schrieb hinsichtlich der den Juden auferlegten Rolle des Krämers und Wucherers über den Unmut und sogar Hass, den diese Rollen in der Bevölkerung hervorriefen. Laut seinen Ansichten stammte diese Zuschreibung, die den traditionellen religiösen Judenhass anheizte, vom evangelikalen Gleichnis der Kreuzigung Christi. Rachlin schrieb:

      „Die Tatsache ignorierend, dass Christus selber Jude war und dass das Evangelium von Juden geschrieben worden war, haben Generationen von Christen jahrhundertelang Hass und Verachtung für ‚das Volk Judas‘, ‚Heuchler‘, ‚Selbstsüchtige‘, ‚Verräter Christi‘ genährt. Heutzutage hat sich zu all diesen Bezeichnungen der Gedanke an Juden als ‚feine Pinkel‘, ‚Intellektuelle‘, die nichts dagegen haben, ‚unseren russischen Iwan‘ an der Nase herumzuführen, hinzugesellt.“10

      Tief verwurzelt und genährt durch Mythen und Legenden, Zuschreibungen an „das Fremde“, „das Andere“, waren Antisemitismus und Judenhass in Russland also seit dem Mittelalter sowie während der jahrhundertelangen Herrschaft der Zarenfamilien. Und auch das 20. Jahrhundert sollte keine Veränderung der Lage bringen.

      Russische Antisemiten stellten Russen und Russinnen Jahr für Jahr als unschuldige Opfer dar, während Juden und Jüdinnen im Gegensatz dazu als angebliche „Ausbeuter“ diskreditiert wurden. Dies widersprach komplett der Wahrheit. Russen und Russinnen machten die absolute Mehrheit im Land aus, Juden und Jüdinnen aber hatten unter jahrhundertelangen Schikanen durch die zaristische Herrschaft zu leiden gehabt, sei es durch Raub, Gewalt oder dreifache Unterdrückung in Hinblick auf Klasse, politische und ethnische Identität.

      Besonders zu leiden hatten sie unter der Entwicklung einer Bewegung, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts an der Kreuzung von reaktionärem Russisch-Orthodoxem Christentum und seinem extremen Antisemitismus, von ultrarechtem Nationalismus und von Monarchismus entstand: die Bewegung der Schwarzen Hundertschaften (tschernosotenzy).11 Die Schwarzen Hundertschaften stellten bereits vor der Entstehung des Faschismus eine russische Version von Protofaschismus dar. Es handelte sich um eine organisierte Plattform extremer rechtsgerichteter Parteien, die sich zu imperialistischem Chauvinismus, Slawophilie, blinder Unterstützung der Monarchie und militantem Antisemitismus bekannten. Besonders mächtig waren sie zwischen 1905 und 1917.

      Zuerst nannten sich die Anhänger dieser extrem rechtsgerichteten Ideologie „Patrioten“, „wahre Russen“ und „Monarchisten“. Doch bald gab ihr Wladimir Gringmut, einer der wichtigsten Theoretiker der Bewegung und Gründer der ersten rechten Partei namens Russische Monarchistische Partei, einen neuen Namen. Er taufte die Bewegung Schwarze Hundertschaften, eine Analogie zu Kusma Minins „Schwarzen Hundert“ aus Nischni Nowgorod. Minin war einer der Organisatoren eines Milizheeres in den Jahren 1611–1612 gegen die polnische Invasion gewesen.12

      Angesichts des wohlklingenden Namens und der attraktiven historischen Parallele zum Kampf um Freiheit hielt sich die Bezeichnung. Am 3. Juni 1906 publizierte Gringmut den Artikel „Das Handbuch des Monarchisten der Schwarzen Hundertschaften“, dem er eine Liste „innerer Feinde Russlands“ beilegte. Der Ideologe russischer Faschisten teilte diese Feinde in sechs Kategorien: 1) Anhänger der Verfassung; 2) Demokraten; 3) Sozialisten; 4) Revolutionäre; 5) Anarchisten; 6) Juden.13

      Gringmut wurde wegen Verhetzung der Prozess gemacht. Dennoch gewann die Bewegung der Schwarzen Hundertschaften nach den revolutionären Unruhen 1905 und der darauffolgenden politischen Reaktion rasch an Schwung. Zu ihren Gunsten wirkte die Unterstützung durch den Zaren und durch die reaktionären Kreise der Orthodoxen Kirche.

      Ein bedeutsamer Teil dieser reaktionären kirchlichen Kreise bestand nicht nur aus Mitgliedern, sondern auch aus Anführern der Schwarzen Hundertschaften und ihnen zugehöriger Organisationen wie dem Bund des Russischen Volkes, dem Bund des Erzengels Michael, der Gesellschaft des Aktiven Kampfes gegen die Revolution und dem Bund der Russen.14 Der zukünftige stalinistische Patriarch Alexius I. saß zum Beispiel dem Bund des Russischen Volkes in Tula vor. Der spätere Patriarch Sergius I. segnete die Banner des Bundes des Russischen Volkes.15

      Die Propaganda der Schwarzen Hundertschaften wurde in den Zeitungen „Russkoje Snamja“, „Semschtschina“, „Potschaewskij Listok“, „Kolokol“, „Grosa“, „Wetsche“, „Moskowskie wedomosti“ und in vielen weiteren verbreitet. Sogar Massenblätter wie „Kiewljanin“, „Graschdanin“ und „Swet“ verboten den Druck der Propaganda der Schwarzen Hundertschaften nicht.

      Die Schwarzen Hundertschaften stellten mit ihrem reaktionären Zarismus, ihren Ochranka-Agenten und Gefängnissen als wahrer Cerberus den Gegenpol zum progressiven und revolutionären politischen Spektrum dar. Sie hassten alles Demokratische wie die Pest und organisierten die Ermordungen etlicher liberaler politischer Schlüsselfiguren.

      Die größten Kritiker der Schwarzen Hundertschaften waren ihre politischen Gegner: die Anarchisten und Sozialdemokraten. Zur Unterdrückung der Anhänger und Anhängerinnen der revolutionären


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