Zwischen zwei Feuern. Denis Prodanov
pro Woche im Peterhof-Palast empfangen, ihnen wird volle Freiheit zum Töten auf der Straße gegeben, die sie nutzen. Natürlich greifen die Leute in einer solchen Situation nach allem. – Und da sie kein Kapital haben, fassen sie das Kapital, wo auch immer sie können … Das ist eine Carte blanche für alle Gauner. Und sie nutzen sie! Im Taganskaja-Gefängnis hängen sie jeden Tag Menschen, vor den Insassen … Der Verfall ist absolut.“16
Auch der russische Philosoph N. A. Berdjanew schrieb 1909 in einem „Offenen Brief an Erzbischof Antonij“ über den Bund des Russischen Volkes, eine Massenorganisation monarchistischer Schwarzer Hundertschaften, die nicht nur gegen die Revolution, sondern gegen die grundlegende Idee demokratischen Parlamentarismus vorgehen wollte:
„Der ‚Bund des Russischen Volkes‘ ist ganz Boshaftigkeit, ganz Hass, seine Taten erschreckend und verführerisch, er schürt Bruderzwist in der russischen Bevölkerung und Gesellschaft, er erschwert umso mehr die religiöse Wiederauferstehung unseres Mutterlandes. Und ist es möglich, die verführerische Rechtfertigung der Hierarchen der Kirche dieser bösartigen, brudermörderischen, unchristlichen ‚Politik‘ zu ertragen?“17
Exkurs: Der Beilis-Fall
Politische Reaktion, Schikanen und Diskriminierung, Agitation der Schwarzen Hundertschaften, Verleumdung in der Presse und Pogrome stellten nur einen Teil der Irrungen und Wirrungen dar, denen die jüdische Bevölkerung des Russischen Reichs ausgesetzt war. Dazu gehörten zahllose Neuauflagen der gefälschten „Protokolle der Weisen von Zion“ mit ihrer Theorie der „jüdisch-freimaurerischen Verschwörung“, auf deren Publikation bloß Straflosigkeit folgte. Ein weiterer Rückschlag für die jüdische Gemeinde war der berühmte Beilis-Prozess in Kiew 1913, im Zuge dessen Menachem Mendel Beilis des Ritualmords am zwölf- oder dreizehnjährigen Burschen Andrej Juschtschinksi angeklagt wurde.18
Der Prozess wurde von massiver antisemitischer Hysterie und verunglimpfender Verleumdung begleitet. Der Beilis-Prozess gestaltete sich von Anfang an widerrechtlich und widersprach komplett dem Erlass von Alexander I. vom 6. März 1817. Dieser hatte ein für alle Mal den Behörden verboten, Mordermittlungen mit religiöser Bedeutung aufzuladen. Trotzdem wurde der Beilis-Fall zum wichtigsten Prozess des Reichs. Er wurde zu einer klaren Demonstration dafür, wie tief Antisemitismus die Gesellschaft durchdrungen hatte, darunter auch das Innenministerium, das Justizministerium, das Gerichtswesen, die Staatsanwaltschaft, die Polizei, die Gerichtsmedizin. Antisemitismus korrumpierte diese Ebenen derartig, dass sie trotz offenkundiger Tatsachen und aufgrund des Meineids und Betrugs durch die Staatsanwaltschaft den Schwarzhundertschaften in ihrer Theorie des „Ritualmords“ durch die Zaddiken zustimmten.
Letztendlich fruchtete erst ein langer und hartnäckiger Kampf vor Gericht, um den Freispruch und die Freilassung von Beilis, einem unschuldigen Vater mehrerer Kinder, zu erwirken. Dieser Streit vor Gericht sowie öffentliche Proteste sowohl in Russland als auch auf internationaler Ebene verwandelten den Beilis-Fall von der Beschuldigung eines jüdischen Angestellten in einer Ziegelfabrik in einen globalen Kampf für Gerechtigkeit und gegen Antisemiten.19
Der Erste Weltkrieg und seine Auswirkungen
Die nächste Herausforderung war der Erste Weltkrieg, an dem Hunderttausende Juden teilnahmen, die aber dennoch unerwünschte Bürger zweiter Klasse für das Regime blieben. Hartnäckig wurden ihnen kontinuierlich Heimat und grundlegende Bürgerrechte verwehrt, egal, wie tapfer sie für Russland kämpften. Der Journalist und Historiker N. P. Poletika betonte zu Recht, dass die Lage jüdischer Gemeinden im Königreich Polen, Litauen und anderen Gebieten der baltischen Staaten sowie im Grenzgebiet der Ukraine noch schwieriger war als für die restliche Bevölkerung der westlichen Gebiete des Russischen Reichs.
Neben den Schrecken des Kriegs und den Gräueltaten, die von den deutschen Truppen verübt wurden, kamen hier das Leid, die Verfolgung und die Gräueltaten des Militärs und der Zivilbehörden der russischen Monarchie hinzu. Poletika schrieb in seinen Erinnerungen: „In den ersten zwei Jahren des Kriegs waren die Zustände für die Juden besonders schmerzhaft und quälend. Ich wusste von jüdischen Flüchtlingen aus den Frontgebieten und von den Juden, mit denen ich befreundet war, von der Lage der Juden und ihren Ansichten zum Krieg.“20
Der Maler Marc Chagall, der von Witebsk nach Petrograd gezogen war, erinnerte sich daran, wie sich zu Kriegsausbruch im Zentrum der Stadt eine Bande von Raufbolden an Schießereien und Pogromen auf offener Straße beteiligte. Menschen wurden von den Brücken in den Fluss gestoßen. Chagall bezahlte beinahe selbst mit dem Leben, als er nachts mehreren bis an die Zähne bewaffneten Schlägern über den Weg lief, die wissen wollten, ob er „ein Judenschwein“ war oder nicht. Da sie ihm nach dem Leben trachteten, war Chagall gezwungen, zu lügen.21 Er schrieb weiter:
„Jeder weitere Rückschlag gab den Kommandanten der Armee, dem Großfürsten Nikolaj Nikolajewitsch, einen Grund für weitere Angriffe auf Juden. ‚In 24 Stunden vertreiben! Oder sie erschießen! Oder besser beides!‘ Die Deutschen rückten näher, und die jüdische Bevölkerung verließ das Gebiet, gab Städte und Schtetl auf.“22
Das Spektrum oppressiver Maßnahmen gegen Juden und Jüdinnen durch russische Herrschaft beinhaltete Vertreibungen und Zwangsumsiedelungen mit nur kurzer Ankündigung, verleumderische Bezichtigungen der „Spionage“ von Juden und deutschen Siedlern und Siedlerinnen, ein Verbot für Juden und Jüdinnen, ranghohe Stellungen innezuhaben, und Geiselnahmen von Juden und Jüdinnen unter Androhung von Hinrichtung im Falle von „Verrat“. An der Tagesordnung standen auch erniedrigende Hausdurchsuchungen und Durchsuchungen von Taubenställen und Untergrund-Telegrafen zum angeblichen Informationsaustausch mit dem Feind bzw. Durchsuchungen nach Signalen an ihn. Jüdischen Bürgern und Bürgerinnen war es verboten, als Ärzte/Ärztinnen und Pfleger/Pflegerinnen in Krankenhäusern und in Sanitätszügen oder anderen Berufen zu arbeiten, um ihre angebliche „Propaganda“ zu bekämpfen. Ranghohes medizinisches Personal wurde dafür eingesetzt, die wenigen Juden und Jüdinnen, die noch in solchen Berufen arbeiteten, zu überwachen.
Darüber hinaus wurde die jüdische Bevölkerung – Männer, Frauen, Alte und Kinder – in die Richtung des Feindes vertrieben, in den Westen, trotz der militärischen Gefahr.23 Die Invasion der russischen Armee Galiziens und anderer Gebiete Osteuropas ging einher mit Pogromen und wiederholten Erschießungen von Juden und Jüdinnen.24
Jüdische Wohlhabende und Rabbis wurden häufig als Geiseln in Konvois an die russischen Grenzen geschickt. Die Bevölkerung wurde gewarnt, dass für jeden russischen Soldaten, der von den Deutschen oder Österreichern getötet wurde, zwei jüdische Geiseln hingerichtet würden. Juden und Jüdinnen wurden der „Untreue“ und „Verleumdung“ gegenüber der ortsansässigen Bevölkerung zugunsten des Feindes beschuldigt. Ihnen wurde der Aufenthalt überall südlich von Jaroslawl verboten. Mutmaßliche „Spione“ wurden gehängt.
Diese Maßnahmen gingen Hand in Hand mit Geldstrafen von bis zu 4.000 Rubel und Haftstrafen von bis zu drei Monaten für den Umzug von einem Landkreis in den anderen. Jüdische Flüchtlinge, die versuchten, aus den westlichen Gebieten weiter ins Landesinnere zu gelangen, wurden gefangen und zurückgedrängt. Die willkürlichen Anschuldigungen des „Verrats“, bösartiger Provokation, Denunziationen und des Meineids führten zu Hinrichtungen jüdischer Geiseln, obwohl gerichtliche Ermittlungen die absolute Haltlosigkeit der Anschuldigen erwiesen.25 Die Listen der jüdischen Einheiten des Russischen Ordens des heiligen Georg wurden aus den Annalen entfernt, vernichtet und nie wieder abgedruckt.26 Auf diese Weise erweckte das zaristische Regime in der Öffentlichkeit den Eindruck, dass es keine Helden unter den Juden gäbe.
Februarrevolution und Oktoberputsch
Im Zuge der Februarrevolution 1917 änderte sich dank der Übergangsregierung die Lage für wenige Monate, bevor das Land im Zuge des Oktoberputsches im Chaos versank. Die jüdische Bevölkerung erhielt durch die demokratisch gesinnten Politiker und Politikerinnen, die nun regierten, politische Freiheiten. Der Ansiedlungsrayon, der 1915 nicht aufrechtzuerhalten war, da die Region zur Kriegsfront geworden war, wurde offiziell aufgelöst.