Bekenntnisse eines Häretikers. Roger Scruton

Bekenntnisse eines Häretikers - Roger  Scruton


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ist der Drang zur kollektiven Täuschung, dass es mittlerweile kaum noch jemand unter die Finalisten für den Turner Preis schafft, der kein Werk oder irgendeinen Auftritt vorzuweisen hat, die nur deshalb als Kunst durchgehen, weil niemand sie dafür gehalten hätte, ehe die Kritiker ihr Plazet gaben.

      Originelle Gesten von der Art, wie Duchamp sie einführte, können nicht wirklich wiederholt werden – wie einen Witz kann man sie nur einmal machen. Weshalb der Kult um die Originalität sehr schnell zu Wiederholungen führt. Das dauernde Täuschen wird in solchem Maße zur eingefleischten Gewohnheit, bis am Ende nur noch ein verlässliches Urteil übrigbleibt: eben jenes, mit dem die Sache vor unserer Nase zur »einzig wahren« erklärt und ein Täuschungsmanöver ausgeschlossen wird – was wiederum ein verfälschtes Urteil bedeutet. Am Ende stehen wir da mit der Erkenntnis, dass irgendwie alles Kunst ist, weil eigentlich nichts Kunst ist.

      Es lohnt die Frage, weshalb der falsche Originalitätskult einen derart mächtigen Einfluss auf unsere kulturellen Institutionen hat, dass es sich tatsächlich kein Museum, keine Galerie und keine mit öffentlichen Geldern subventionierte Konzerthalle leisten kann, ihn nicht ernst zu nehmen. Die frühen Modernen – Strawinsky und Schönberg in der Musik, Eliot und Pound in der Dichtung, Matisse in der Malerei und Loos in der Architektur – teilten die Überzeugung, dass das breite Publikum einen verdorbenen Geschmack habe, dass Sentimentalität, Banalität und Kitsch in die verschiedenen Bereiche der Kunst eingedrungen seien und ihre Botschaften verunklart hätten. Tonale Harmonien wurden in der populären Musik missbraucht, die figurative Malerei von der Fotografie übertrumpft, Reim und Metrik waren nur mehr für Weihnachtskarten zu gebrauchen und alle Geschichten klangen abgedroschen. Was immer zur Welt der törichten, gedankenlosen Leute da draußen gehörte, galt als Kitsch.

      Der Modernismus stellte den Versuch dar, das Ernsthafte, Wahrhaftige, mühsam Erreichte von der Seuche falscher Gefühle zu befreien. Niemand kann in Zweifel ziehen, dass die frühen Modernen dabei erfolgreich waren. Sie haben uns mit Kunstwerken beschenkt, die den menschlichen Geist unter den veränderten Bedingungen der Moderne lebendig halten und gleichzeitig einen Zusammenhang mit den überdauernden, großartigen Traditionen unserer Kultur herstellen. Aber ebenso machte der Modernismus den Weg frei für Leute, die gewohnheitsmäßig so tun, als ob: sich der kräftezehrenden Aufgabe zu stellen, die Tradition weiter zu führen, erwies sich als weniger attraktiv, als ihr mit billiger Ablehnung zu begegnen. Anders als Picasso, der ein Leben lang daran arbeitete, das Gesicht der modernen Frau in zeitgemäßer Form darzustellen, kann man es auch einfach machen wie Duchamp und der Mona Lisa einen Schnurrbart verpassen.

      Interessant ist allerdings, dass sich das gewohnheitsmäßige Vortäuschen gerade aus der Angst vor dem Verfälschten heraus entwickelt hat. Der Modernismus in der Kunst war eine Reaktion gegen die falschen Gefühle und tröstlichen Klischees der allgemein akzeptierten Kultur. Es ging darum, eine Pseudo-Kunst vom Platz zu fegen, die uns mit sentimentalen Lügen verhätschelt hatte und an deren Stelle Wirklichkeit, das wirkliche moderne Leben zu setzen, wozu nur eine wahrhaftige Kunst im Stande ist. Dementsprechend geht man seit geraumer Zeit davon aus, dass es in der Sphäre großer Kunst keine authentische Schöpfung geben kann, die nicht in irgendeiner Weise eine »Herausforderung« für die Selbstzufriedenheit unserer populären Kultur darstellt. Die Kunst muss angriffslustig sein, von der Zukunft ausgehend all ihre Waffen aufbieten gegen den bürgerlichen Hang zu Konformismus und Bequemlichkeit, die gleichbedeutend sind mit Kitsch und Klischee. In der Folge aber wird dieser Angriff selbst zum Klischee. Wenn das Publikum sich mittlerweile als derart schockresistent erweist, dass ihm nur noch mit einem toten Hai in Formaldehyd ein kurzes Aufzucken der Empörung verursacht werden kann, muss der Künstler eben einen toten Hai in Formaldehyd produzieren – das zumindest ist dann eine authentische Geste.

      So konnte um die Modernisten herum eine Klasse von Kritikern und Agenten gedeihen, die sich anheischig machten, uns zu erklären, weshalb es keineswegs vertane Zeit sei, aufgestapelte Ziegelsteine anzustarren, artig zehn Minuten Beschallung mit unerträglichem Lärm auszusitzen oder sich in die Betrachtung eines mit Urin übergossenen Kruzifixes zu versenken. Die Experten begannen, das Unverständliche und Widerwärtige als etwas völlig Normales hinzustellen, damit das Publikum nur ja nicht auf die Idee kommen mochte, ihre Dienste für unentbehrlich zu halten. Um sich der eigenen Progressivität und Stellung an vorderster Front der Geschichte zu vergewissern, haben sich die neuen Agenten seither immer weiter mit Leuten ihres Schlages umgeben und sie in alle für ihren Status relevanten Gremien gehievt, wovon sie sich wiederum Vorteile für sich selbst erwarten konnten. So entstand das modernistische Establishment – der geschlossene Kreis von Kritikern, die das Rückgrat unserer offiziellen und halb-offiziellen kulturellen Institutionen bilden und gut im Geschäft sind mit »Originalität«, »Grenzüberschreitung« und »neu gebahnten Wegen«. Begriffe wie diese werden immer dann von den Arts Council-Bürokraten und dem Museums-Establishment bemüht, wenn sie vorhaben, öffentliche Gelder für etwas auszugeben, was sie sich im Traum nicht ins eigene Wohnzimmer holen würden. Aber solche Begriffe sind bereits selbst Klischees wie all das, was mit ihnen angepriesen wird. So führt die Flucht vor dem Klischee ihrerseits ins Klischee, und der Versuch aufrichtig zu sein, endet in Lug und Trug.

      Bei den Attacken gegen Althergebrachtes machte insbesondere ein Begriff Karriere: der Kitsch. Einmal eingeführt, hielt er sich hartnäckig. Du kannst tun und lassen, was du willst, so lange du nur keinen Kitsch produzierst: das wurde zum ersten Grundsatz des modernistischen Künstlers, in gleich welchem Medium. In einem berühmten Essay aus dem Jahr 1939 tat der amerikanische Kritiker Clement Greenberg seinen Lesern kund, dass ein Künstler nur mehr zwischen zwei Möglichkeiten wählen könne: Entweder er gehört zur Avantgarde und fordert die überkommene figurative Malerei heraus, oder er produziert Kitsch. Diese Angst vor dem Kitsch gibt einen Grund dafür ab, dass mit so vielen heutzutage geschaffenen Kunstwerken pflichtschuldigst versucht wird, Anstoß zu erregen. Es ist schon in Ordnung, wenn dein Werk obszön, schockierend oder verstörend ist – Hauptsache es ist kein Kitsch.

      Niemand weiß so genau, wo das Wort »Kitsch« eigentlich herkommt, auf jeden Fall war es zu Ende des 19. Jahrhunderts in Deutschland und Österreich ein geläufiger Ausdruck. Ebenso wenig gibt es eine Definition dieses Begriffs, obgleich wir alle Kitsch als solchen erkennen, wenn er uns begegnet: die Barbie-Puppe, Walt Disneys Bambi, der Weihnachtsmann im Supermarkt, Bing Crosbys Interpretation von White Christmas, Bilder von Pudeln mit Schleifen im Fell. Zur Weihnachtszeit sind wir eingedeckt mit Kitsch und umgeben von lauter abgedroschenen Klischees, die alle ihre Unschuld verloren haben, ohne dass sie dabei mehr Weltklugheit erlangt hätten. Kinder, die an den Weihnachtsmann glauben, tun das noch mit echter Gefühlsbeteiligung. Wir aber, die wir diese Art Glauben nicht mehr aufbringen, können nur mehr mit falschen Gefühlen aufwarten. Wobei es durchaus angenehm sein kann, so zu tun, als ob, und wenn alle mitmachen, mag es für Augenblicke sogar scheinen, als wäre das Ganze echt.

      Der tschechische Romancier Milan Kundera hat eine berühmte Bemerkung gemacht: »Kitsch«, so schrieb er, »lässt in rascher Folge zwei Tränen fließen. Die erste Träne besagt: ‚So entzückend, wie die Kinder durchs Gras tollen!‘ Die zweite Träne ergänzt: ‚So wunderbar, in Einklang mit der gesamten Menschheit diese Rührung zu empfinden, wenn die Kinder durchs Gras tollen!‘« Beim Kitsch geht es, anders gesagt, nicht um den jeweiligen Gegenstand der Betrachtung, sondern um den Betrachter. Im Umgang mit Kitsch stellt sich Rührung nicht angesichts des Püppchens ein, das wir so liebevoll einkleiden, sondern angesichts unserer selbst, die wir das Püppchen so liebevoll ausstaffieren. Auf diese Weise funktioniert jegliche Sentimentalität: sie lenkt die Gefühle vom Objekt zurück auf das Subjekt, wobei die Illusion eines echten Gefühls geschaffen wird, ohne dass irgendjemand sich die Mühe machen müsste, das Gefühl tatsächlich zu empfinden. Das Kitsch-Objekt ermutigt einen, sich in seinem Gefühlsschwang für einen besonders reizenden und liebenswerten Menschen zu halten. Eben das hat Oscar Wilde angesichts einer von Dickens‘ schwülstigsten Sterbeszenen zu der Bemerkung veranlasst: »Ein Mensch muss ein Herz aus Stein haben, um bei Little Nells Tod nicht in Gelächter auszubrechen.«

      Das ist, kurz gesagt, der Grund, weshalb die Modernisten einen derartigen Horror vor Kitsch hatten. Sie glaubten, dass die Kunst im Verlauf des 19. Jahrhunderts die Fähigkeit eingebüßt habe, ein klares, echtes Gefühl von seinem vagen, die Selbstzufriedenheit nährenden Surrogat zu unterscheiden. In der figurativen Malerei, der tonalen


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