Rue du Pardon. Mahi Binebine
der Wesen, die sich auf Zehenspitzen bewegen.
Eine Göttin regierte dieses Land: unsere Nachbarin Serghinia. Später werde ich Ihnen die fabelhafte Geschichte dieser Künstlerin erzählen, in deren Haus ich – wie ich heute ohne Angst bekennen kann – das Glück gefunden habe. Diese Frau war meine Familie, meine Freundin, meine Zuflucht.
Vor dem Spiegel im Bad von Serghinias gepflegter Wohnung konnte ich auf Zehenspitzen meine etwas abstehenden Ohrläppchen sehen, geschmückt mit massiven silbernen Ohrreifen, die mir meine Mutter verbot ausserhalb der Feiertage zu tragen. Das schonungslose Spiegelbild zeugte vom Ausmass der Katastrophe: ein mit schreiend rotem Lippenstift verschmiertes Gesichtchen, glänzend, kein Teil meiner sonst so weissen Haut ungeschminkt; Hurenrot, wie es meine Mutter genannt hätte, einer dieser zinnoberroten Töne, die mich auf Serghinias vollen Lippen so faszinierten. Das Wort »Hure« bekam einen besonderen Charakter in meinen jungfräulichen Ohren, wenn meine Mutter es aussprach. Hu-re. Das knallte wie die Eleganz einer befreiten Frau, das verlangte nach der Freiheit, öffentlich in einer hautengen seidenen Dschellaba mit dem Hintern zu wackeln, das hielt die brennende Fahne der Auflehnung hoch in den Himmel.
Doch ganz unten am Ende des Spiegels, wo die weissen Kacheln an der halboffenen Tür aufhören, sah ich – während ich die Augen wegen meiner sündigen Schminke weit aufriss – Serghinias strahlendes Gesicht. Unter theatralisch gerunzelten Augenbrauen grollten ihre leuchtenden Augen kaum, verziehen schon halb. Sie kam mit ausgebreiteten Armen auf mich zu, beunruhigt, da sie einen Sturz befürchtete.
»Mein Täubchen, dieser Hocker ist wacklig! Am Ende fällst du noch runter!«
Blitzschnell wurde mein schmächtiger Körper von ihrer fülligen Figur umarmt.
»Lass mich dir zeigen, wie man zu einer Prinzessin wird, Liebes. Lippenstift ist, wie der Name schon sagt, ausschliesslich dazu da, die Lippen zu färben. Nicht die Stirn oder deine von Natur aus rosigen Wangen und noch weniger deine jetzt blutig wirkenden Augenlider, mit denen du aussiehst wie eine direkt aus einer Horrorgeschichte eingeflogene Hexe. Du bist doch keine Hexe, nicht wahr, Liebling? Also gib dir Mühe wie mit Aïda und Sonia beim Ausmalen. Übermale unter keinen Umständen die Ränder. Verstanden?«
»Ja, Mamyta.«
»Gut. Wasch dein Gesicht mit viel Wasser ab, und bring es mir schnell, damit ich es verschlingen kann!«
Aïda und Sonia, die Zwillingstöchter von Serghinia, hatten sie Mamyta getauft. Ich nannte sie auch gerne so, aber mit Varianten: Mami, Mya, Maya, Mamyta. Jede Silbe dieses Spitznamens beinhaltete ihren Teil Zärtlichkeit. Es roch gut nach dem Moschus ihrer beruhigenden Brüste, ihren Lachsalven und den schallenden Küssen, die eine so schöne Spur auf unseren Wangen hinterliessen.
Hätte mich unglücklicherweise meine Mutter in diesem Zustand überrascht, vor dem Spiegel auf einem wackligen Hocker im Bad, die Gandura in die Hose gestopft, das Antlitz mit scharlachroter Sünde verschmiert, wäre es das Ende der Welt gewesen: eine ordentliche Tracht Prügel, durchsetzt mit endlosem Schreien und Jammern, und dann vor allem als Nachtisch das von mir am meisten gefürchtete Versprechen: »Warte nur, bis dein Vater nach Hause kommt!«
Ich mochte meinen Vater nicht. Ich mochte seine blutunterlaufenen Augen nicht, wenn der Zorn ihn übermannte. Es waren nicht so sehr die Schläge, die mir Angst machten, eher der Rest … Ich hasste sein dunkles Zimmer, seinen Atem, seinen kratzigen Bart, seine riesigen Hände … und den Rest. Den ganzen Rest.
2
Bei den Künstlern, die ihren Körper als Arbeitsinstrument nutzen, ist Schönheit nicht unbedingt erforderlich. Mamyta kann man kaum als Huri bezeichnen. Beim genaueren Betrachten ihrer Gesichtszüge kann man, ohne auf Widerspruch zu stossen, behaupten, dass unsereins ästhetisch gesehen unter dem nationalen Durchschnitt liegt. Ihre spiralförmigen Augen mit dick aufgetragener Wimperntusche, ihre kurze Stupsnase, ihr riesiger, mit fleischigen Lippen versehener Mund und ihre altmodischen Tattoos auf Stirn und Kinn gehören auf keinen Fall zu einer Odaliske. Weit entfernt. Jedoch bildet das alles zusammen in einem einzigen freudestrahlenden Antlitz ein sehr angenehmes harmonisches Ganzes. Wenn man ihre massiven Goldzähne dazunimmt, die bei jedem Lachen wie ein Feuerwerk blitzen, ihren hundert Kilo schweren, milchigen, in einen Satinkaftan gezwängten Leib, ihre raubkatzenhafte Art, bei der jeder Teil des Körpers selbständig, ungebunden, wie vom Rest losgelöst scheint, kann man auch behaupten, diese Kreatur mit einem Schönheitsmal auf der Wange habe zweifellos ein gewisses Etwas.
In Wirklichkeit gibt es zwei auf den ersten Blick widersprüchliche Seiten von Mamyta: die der transparenten Hausfrau, die man morgens in einer der Querstrassen zur Rue du Pardon im Suk antreffen könnte, mit ihrem Einkaufskorb aus Palmblättern, oder die ganz einfach über die Grand-Place schlendert; dann gibt es die andere Seite, die der Diva im schillernden Kaftan, die einen abends auf einer Hochzeitsfeier erregt, bei einer Beschneidung oder bei einem dieser privaten Abende, die Männer auf der Terrasse eines Cafés in ihrer Melancholie flüchtig erwähnen.
Da ich meine Kindheit und einen Teil meiner Jugend bei Mamyta verbrachte, hatte ich das Privileg, am Wunder dieser Metamorphosen teilzuhaben. Zuerst als gewöhnliche Zuschauerin, staunend wie ein Kind vor einer bunten Trommel am Festtag, dann später in der ersten Reihe, als sie mir die Ehre erwies, mich in ihre Truppe aufzunehmen, um mich vor meiner Familie zu retten …
Meine Geschichte ist wirklich seltsam. Unwahrscheinlich und tragisch wie so oft die Geschichten aus unserer Gegend. Doch nur Geduld! Ich werde es Ihnen erzählen, wenn Sie mir Ihre Nachsicht schenken. Zeitweise wird meine Erzählung überraschende Wendungen nehmen. Sollten Sie sich darin verirren, wird ein Mondstrahl aus dem Nichts aufleuchten, um Ihnen den Weg hinaus zu zeigen … Doch ich zweifle sehr, dass Sie mein Labyrinth verlassen wollen. Die Freiheit meiner Vorstellungskraft wird Ihnen gefallen, wie auch meine Launen und einige unvorhersehbare Situationen, die, wie ich eingestehe, mich selbst überraschen. Sehen Sie darin weder Boshaftigkeit noch Eitelkeit, ich will einfach nur sagen, dass jene, die sich damals hineinwagten, niemals herausgefunden haben. Ein Geflecht aus empfindlichen Fasern hält sie gefangen … eine sanfte Spinnwebe, in der es so guttut, sich gegen alles und jeden zu wehren …
Ich habe Ihnen also von jenem magischen Moment erzählt, in dem sich Mamyta die Raupe in einen das Licht umschwirrenden Schmetterling verwandelt. Es war zur Zeit meiner ersten beruflichen Schritte. Ich war vierzehn, sah aber viel älter aus. Mamyta achtete darauf, mich selbst zu schminken; sie vergrösserte meine Augen mit einem Lidstrich bis hin zu den Ohren, betonte meine Wangen mit einer Schminke auf der Basis von Schildläusen, und als Krönung des Ganzen puderte sie meine Haarlocken mit einer Handvoll vergoldeter Sterne. Die kleine Aufmüpfige aus der Rue du Pardon verwandelte sich plötzlich in eine Prinzessin; eine begnadete Künstlerin, glänzend und feinsinnig, setzte sich von ihren Konkurrentinnen ab wie der Tag von der Nacht. Die Zwillinge, die vor mir in die Truppe aufgenommen worden waren, bedachten mich mit reissender Eifersucht, so unerträglich war ihnen die Zuneigung, die ihre Mutter mir entgegenbrachte.
Dabei sprühte Mamyta vor Zärtlichkeit. Ihre Liebe zu mir schränkte in keiner Weise ihre Liebe zu ihren Töchtern ein. Das bewiesen schon allein ihre unterstützenden Blicke für jede von uns während der Vorführung. Ich liebte es, sie lächeln zu sehen, wenn ich die Initiative ergriff und auf den runden Tisch sprang. Ich tanzte für sie. Für sie allein. Dann gab es nichts anderes zwischen meinem elektrisierten Körper und ihrem magnetischen Blick. Ich ahmte ihre Gesten nach, ihr unwiderstehliches Augenzwinkern, ihre Art, den Boden mit ihrem Haar aufzupeitschen, wenn der Teufel von ihrem Körper Besitz ergriff. Während die Tamburine und Zimbeln den Höhepunkt erreichten, verlängerte ich das Echo ihrer mitreissenden Lieder, ihrer fröhlichen Moritaten. Ich wäre so gern gewesen wie sie. Besser noch, ich wollte sie sein. Mich aus meiner sterblichen Hülle befreien, mich in jenes Lichtgewand kleiden, das sie auf der Bühne umfing.
Ein majestätischer Auftritt, bei dem alles einstudiert war, bemessen, gewichtet, bei dem jede Einzelheit Bedeutung hatte. Umringt von ihren Musikern und Tänzerinnen wie von einer Leibgarde, mit langsamen Schritten, herausgestrecktem Unterkörper, den Blick auf die Sterne gerichtet, erschien sie endlich vor einem ihr gewogenen, ungeduldigen Publikum, das es kaum erwarten konnte. Kaum erhob sie die