Rue du Pardon. Mahi Binebine
Himmel gerichteten Lautsprecher das ganze Viertel. Aufrecht, beherrschend, mit offenen, verführerischen Armen wie Äste einer Zeder, die Spatzen zu einer liebestrunkenen Parade auffordern, stimmte sie Lieder an, in denen sich das Schlüpfrige und das Heilige miteinander verwoben, liess ihren Dämonen freien Lauf, um sich fast bewusstlos in die Menge zu stürzen. Dann riss die Brandung ihren Leib an sich, schlug den Weg der Schauer ein, erreichte den Unterleib, der sich aufrichtete, verschlang den Nabel und liess langsam nach wie eine ersterbende Welle. Das Wogen kam wieder auf, wurde ansteckend, erfasste die Anwesenden und riss sie in ein fieberndes Schlingern.
Die Ehemänner waren dabei, sie bedeckten die Tänzerinnen mit Geldscheinen, je mehr zusammenkam, desto schneller wurde der Rhythmus, passte sich den pochenden Herzen an und brachte das Blut zum Kochen. Die Ehefrauen waren keine Ehefrauen mehr. Sie sangen und lachten ausgelassen. Sie vibrierten wie wir, die Berufstänzerinnen, die sie nachahmten, um sinnlich zu wirken; doch sie waren linkisch, fast vulgär. Nicht die aufgesetzte Vulgarität, die wir nach Gutdünken einsetzen, nein, die wahre, suggestive und unverblümte Vulgarität, die vor sexuellem Frust aufschreit. Dann spielten wir, weiter und weiter, und liessen ihr unwiderstehliches Verlangen aufblühen, uns zu ähneln … unsere leichte, zügellose Moral öffentlich auszuleben …
Eines Abends, als sie nach ihrem Auftritt in den Kulissen stand, während die Musiker einheizten, und die entfesselten Zuschauer beobachtete, bemerkte Mamyta mir gegenüber: »Schau, mein Kind, schau diese tanzenden Frauen, sie sind so glücklich … Ich sehe weder Mütter noch Tanten, Schwestern oder Cousinen … Sie alle sind Liebhaberinnen … Siehst du, ich besitze die Macht, sie einen Augenblick lang aus ihrem kleinen Leben zu lösen und strahlende Dulzineen aus ihnen zu machen … auch wenn diese Schnepfen mich hinter meinem Rücken als Hure verunglimpfen!«
3
Um mich angesichts des unangebrachten Verhaltens meiner Mutter zu trösten, hatte Tante Rosalie mir eines Tages erklärt, dass mein christlich angehauchtes Aussehen die Vergangenheit ihrer Schwester in ein unrühmliches Licht tauche. Mein blonder Haarschopf verschaffe ihr seit meiner Geburt einen Hauch von Sündhaftigkeit und vergifte ihre Existenz. Daher bliebe ich wider Willen die leibhaftige Verkörperung eines hypothetischen Fehltritts. Jedoch war Mutter laut Tante Rosalie, die kein Blatt vor den Mund nahm, mit zwanzig keineswegs eine Heilige gewesen. Wie auch immer, die Nachbarinnen, die wir auf der Strasse trafen, hatten eine klare Meinung zu der Frage. Sie streuten gern Salz in die Wunde und starrten mich an. »Von welchem Planeten ist uns denn dieses goldene Vögelchen zugeflogen, meine Liebe?«, fragte eine. Eine Zweite bemerkte spöttisch: »Na aus dem Tal, wo die goldenen Vliese blühen, oder nicht, meine Gazelle?« Meine Mutter brauste auf. »Seht euch doch mal im Mittleren Atlas um«, erwiderte sie, »da gibt es ganze Dörfer voll solcher Gören, die meiner ähnlich sehen!« – »In der Tat«, raunte verzückt die Zänkischste, »die Nazarener haben uns wunderbare Souvenirs hinterlassen!« Mutter gab den ungleichen Kampf gegen diese Meute von Krokodilen auf und zog murrend weiter.
Doch am Ende war ich es, die die Rechnung bezahlte. Freitags im Hammam bekam ich meine wöchentliche Dosis Henna auf mein Haar. Der beissende Geruch dieser Pflanze haftete auf meiner Haut. Ich stank wie ein Bauerntrampel, wie eine frisch aus dem Dorf herangekarrte Magd. Lange habe ich an dieser Last getragen. Sehr lange. Als einzige Rothaarige im Viertel war ich eine bevorzugte Zielscheibe. Meine Schulkameradinnen überhäuften mich mit Grausamkeiten und gaben mir die Namen aller Tiere, die der Himmel mit einem roten Fell bedacht hat. Als Kuh, Ziege, Füchsin oder Eichhörnchen beschimpft zu werden ging ja noch, doch ich fluchte, wenn sie mit bizarren Schreien die wilde Äffin nachahmten; sie wälzten sich auf dem Boden und sprangen hüpfend auf, kratzten sich am Kopf und in den Achseln. Nichts blieb mir erspart.
Manchmal kam ich tränenüberströmt nach Hause, ohne dass Mutter den geringsten Anflug von Mitleid zeigte. Sie blieb eiskalt. Vergeblich versuchte ich sie zu Mitgefühl mit meiner Lage zu bewegen. Wenn ich es wagte, etwas zu sehr auf die Tränendrüse zu drücken, brachte mich eine heftige Ohrfeige schnell wieder zur Vernunft. Darauf folgten lahme Rechtfertigungen: »Ein reinrassiges Mädchen hat sehr viel mehr Chancen, einen Ehemann zu finden, als ein Mischling!« Dann verglich sie meine faden Locken mit dem Fell von Pipo, dem Pudel von Madame Lamon, der Besitzerin des Luxushotels, wo Grossvater arbeitete.
Es fällt mir schwer, von Grossvater zu sprechen, ohne eine Träne zu vergiessen. Übrigens versuche ich erst gar nicht, diese Träne zurückzuhalten, denn die Freude und die Nostalgie, die damit verbunden sind, beruhigen und trösten mich. Grossvater war zärtlich, aufmerksam, grossherzig; er war der Beste. Als ich klein war, kam er mir hoch wie ein Minarett vor. Doch in Wirklichkeit war er gar nicht so gross. Schlank, von mittlerer Statur, mit einem freundlichen Gesicht und ebenmässigen Zügen: lachende Augen, aus denen der Schalk blitzte, eine Adlernase und unter einem struppigen Schnurrbart ein schmallippiger Mund, aus dem nur Nettigkeiten kamen. Laut Mamyta, die abends nach ein paar Gläsern Mahia, ihrem Lieblingsschnaps, zur Philosophin mutierte: »Es gibt solche Lebewesen, Liebling, bei denen alles Honig, Freude und Ruhe ist. Sie kennen die Wege der Vollkommenheit, die sie ein ganzes Leben lang eingeschlagen haben, bis sie die Erleuchtung der Auserwählten erreichten. An der Oberfläche ihres Wesens tritt eine Seele von solch verlockender Klarheit zutage, dass es entzückend ist, darin zu versinken … Dein Grossvater ist ein solcher Mensch. Genau wie es andere gibt, die nur aus Brennnesseln, Dornen und Finsternis bestehen, eine Brut, die in den Abgründen unserer Bestialität lebt und deren schwarze Seele ihr unheilverkündendes Äusseres prägt …«
Wenn sie betrunken war, sprach Mamyta wie Zahia, ihre lebenslange Freundin, die Karten legte und in der Rue du Pardon regelmässig der Hexerei bezichtigt wurde. Doch irgendwie klopften die Frauen aus dem Viertel am Ende immer diskret an ihre Tür, um sich Rat zu holen. Zahia und Mamyta lachten darüber. Die eine wie die andere wurde aus verschiedensten Gründen zugleich verschmäht und geliebt. Doch in Wahrheit waren sie vor allem gefürchtet; Mamyta wegen ihrer scharfen Zunge, die den schlimmsten Klatsch von Fest zu Fest verbreiten konnte, und Zahia wegen ihrer unheilvollen Amulette, deren verheerende Folgen überall bekannt waren.
In Wahrheit war Grossvater nicht wirklich mein Vorfahre. In einem früheren Leben war er, auch wenn das kaum zu glauben ist, Mamytas Ehemann gewesen. Ja, Sie haben richtig gehört! Monsieur Omar, der Portier des Palace, und Serghinia, die junge Tänzerin, waren Mann und Frau gewesen, die in der Rue du Pardon unter einem Dach lebten. Sie hatten keine Kinder; die Zwillinge wurden später in einer zweiten Ehe geboren, die auch auseinanderging. Nun, das sind alles alte Geschichten.
Viel Wasser ist den Bach hinuntergeflossen seit ihrer Trennung, die auf unvereinbare Lebensweisen zurückzuführen ist: Er arbeitete am Tag, sie in der Nacht. Er verbrachte seine Tage ruhig vor einer statischen Tür, die sich nur öffnete, um ein paar unbeschwerte Touristen durchzulassen; sie verbrachte wilde Nächte unter Scheinwerfern inmitten von Anmut, Verlangen und Raserei. Zwei entgegengesetzte Welten, die aber in gewisser Weise komplementär sein konnten. Das Abenteuer dauerte nur drei Jahre, sicher die schönsten, die unheimlichsten, die flammendsten in Grossvaters Leben. Sie wurden jedoch im Gegensatz zu vielen geschiedenen Paaren nicht zu Feinden. Sie hatten sich nicht heillos zerstritten, sie hatten es nicht zugelassen, dass der Hass ihre Herzen vergiftete. Im Gegenteil, im Lauf der Jahre war ihre Bindung stärker geworden. Es gab nicht einen Tag, an dem Monsieur Omar versäumte, bei Serghinia vorbeizuschauen, um sie zu grüssen und sich zu erkundigen, ob sie etwas für den Haushalt brauche: eine Besorgung auf dem Markt hier, das Auswechseln einer Glühbirne da oder die Reinigung eines verstopften Waschbeckens … er war der König der Heimwerker.
Tatsächlich legte er es einzig und allein darauf an, weiter im Schatten seiner Diva zu leben. Ich sah es an den glückseligen Blicken, die er ihr zuwarf, an der Beflissenheit, mit der er ihre langen amerikanischen Zigaretten mit den vergoldeten Filtern anzündete; er, der nicht rauchte und nur zu diesem Zweck ein Feuerzeug bei sich trug. Mamyta war sich dessen voll und ganz bewusst, und deshalb griff sie sehr häufig auf seine wertvolle Unterstützung zurück. »Was wäre ich ohne dich, Sidi Omar?«, rief sie aus. »Gott der Allmächtige hat dich zu mir geführt …«
Grossvater war begeistert! Er lieh sich eine Schubkarre aus und transportierte eifrig den Weizen zur Mühle; er überwachte aufmerksam das Mahlen und brachte das