Rue du Pardon. Mahi Binebine
Seine grösste Heldentat bestand darin, das Geflügel zu schlachten, das Mamyta auf der Terrasse hielt. Es gab dort einen echten wuseligen Hühnerhof, an dessen Unbilden wir uns am Ende gewöhnt hatten. Das Schlachten jagte mir Angst ein, aber ich nahm dennoch an dem furchtbaren Ereignis teil. Mit weit aufgerissenen Augen beobachteten wir Kinder mit Grauen das Spektakel. In einer von Anfang an verlorenen Schlacht krähte der Hahn, den der alte Mann mit den Füssen festhielt, verzweifelt. Nach einem kurzen Gebet steckte Grossvater seinen Zeigefinger in den Hals des Verurteilten, zog das Messer und liess mit einer schnellen, präzisen Handbewegung das Blut auf unsere Plastiksandalen spritzen. Ich floh, sobald das Tier von den Toten auferstand. In einem letzten Anflug von Stolz bäumte es sich auf und führte einen makabren Tanz vor. Eine Staubwolke wirbelte auf, während es gegen die Wand oder die Tür der Nachbarn stiess, mit nach hinten herunterhängendem Kopf, der wie die Kapuze eines Burnus aussah.
Grossvater war Chefportier eines Luxushotels in der Neustadt; die Kinder in der Gegend nannten ihn den General wegen seiner granatroten Uniform, seiner mit Fransen besetzten Tressen und seiner kanariengelben Schirmmütze. Er war eine auffallende Erscheinung. Von weitem erkannten wir seinen martialischen Gang, der jedoch durch die Anwesenheit des Pudels, den ihm Madame Lamon oft anvertraute, abgemildert wurde. Sobald ich ihn erblickte, lief ich auf ihn zu. Mit einem Arm fasste er mich und hob mich hoch in den Himmel, mit dem anderen hielt er Pipo an der Leine, dessen wedelnder Schwanz das Glück signalisierte, wieder in die Hektik der Medina einzutauchen. Zum grossen Jammer der neidischen Kinderschar durchquerte er die lange, enge Strasse mit zwei glückseligen Kreaturen an seiner Brust.
Madame Lamon vertraute ihm ihren Pudel an, wenn sie zur Thermalkur nach Moulay Yacoub reiste. Er war der Einzige aus dem Hotelpersonal, dem sie vertraute. Sie wusste, er würde sich während ihrer Abwesenheit gut um ihr Herzchen kümmern; je älter sie wurde, desto öfter fuhr sie weg. Grossvater ging schnell an unserer Sackgasse vorbei, denn Mutter weigerte sich kategorisch, den Köter in die Nähe ihrer Türschwelle zu lassen. Sie behauptete, die Engel flüchteten vor Orten, an denen sich Hunde aufhielten.
Mamyta konnte über solche Eseleien nur lachen; sie nahm Grossvater, Pipo und mich gerne auf. Wir verbrachten wunderbare Nachmittage damit, ihr beim Nähen, Sticken, Tratschen und Rauchen zuzusehen. Die Nachbarinnen und deren Sprösslinge kamen dabei nicht gut weg. Wie durch ein Wunder konnte sie sich in die geheimsten Intimitäten der Leute einmischen. Sie kannte den Namen des Mädchens, das gerade seine Jungfräulichkeit verloren hatte, die Identität des Schuldigen, den Ort und die Stunde des Verbrechens … Sie wusste, wer eine Pleite hingelegt hatte, kannte das Ausmass der Katastrophe und den Namen der Person, die ihn mit einem Fluch belegt hatte; sie wusste, dass ein anderer um einen entfernten Verwandten trauerte … Es hatte nie ein Ende. Grossvater, Pipo und ich hingen an ihren Lippen, schlürften stark gezuckerten Minztee, assen mit Honig umhüllte Mandelkekse, und vor allem genossen wir den pikanten Klatsch, den sie – wie sie uns schwor – aus sicherer Quelle hatte … Pipo bekam seine Schale Milch. Dieser Pudel war ein wahrer Star. Mit seinem nagelbesetzten Lederhalsband, an dem eine kupferne Marke hing, seinen zwei braunen Flecken auf dem Fell und seinen charmanten Locken, hinter denen seine Schnauze verschwand, war er zum Anbeissen.
Madame Lamon hatte recht, ihn Grossvater anzuvertrauen. Er umsorgte ihn wie ein eigenes Kind, das er nie gehabt hatte. Hinter den Mauern, die die Neustadt von der Medina trennten, nahm ihn Grossvater auf den Arm, denn er sagte, dieses zarte Wesen sei nicht gemacht für den Schotter, die riesigen Löcher in den Abflussrinnen, die aufgerissenen Mülltonnen, um die sich nachts Bettler und Strassenkatzen stritten. Der Dreck, die Metallreste und die Glasscherben, die sich in unseren Gassen türmten, könnten seine feinen Pfoten verletzen. Pipo war aristokratischer Abstammung und nur geboren für das Schöne auf der Welt: angenehme Musik, Schmeicheleien, feine Speisen, exquisite Wollteppiche, kostbare Frisuren und vor allem den funkelnden Carrara-Marmor in der grossen Halle des Palace … Gott verzeihe mir, aber ich hätte nur allzu gern mein Leben gegen das seine eingetauscht. Extra nur für mich zubereitetes Essen. Immer und überall mit Lächeln, Streicheln und sanften Worten empfangen werden. Von den Göttern gesegneter Liebling, von morgens bis abends geliebt und verwöhnt werden … Doch nicht jeder kann ein Pipo sein.
4
Ach, Grossvater! Ohne Mamyta und dich hätte ich das Chaos meiner Kindheit nicht überlebt, nicht die vom Verleugnen erstickten Schreie, nicht die verbotenen Schmerzen, nicht die in der Ferne verhallenden Echos, die in sich die ranzigen Erinnerungen tragen, den stinkenden Atem, den Schaum der schmutzigen Worte und den Schatten der grässlichen Hände, die an deinen Haaren ziehen, die dein Gesicht in das schweissnasse Rosshaarkissen drücken … Gott, wie ich diese Abwässer des Gedächtnisses hasse, in denen sich die Schmach suhlt, diese dunklen Ecken, die sich das Verbrechen als Heimstatt ausgesucht hat … Grossvater, ohne deine Liebe hätte ich mich der Verlockung des Sensenmanns hingegeben, seinen Sirenenrufen, dem sich verstärkenden Gemurmel, sobald ich das Atmen einstellte und es nur noch an mir hing, ob ich jemals wiederkehrte … Von hoch oben aus meiner schwebenden Blase und trotz des Zwielichts erspähte ich einen mageren Körper, der unter einer unförmigen Masse begraben war. Er hatte Angst. Er zitterte. Seine Stimme war erloschen. Seine Schreie waren keine Schreie mehr, sondern kaum hörbares, ohnmächtiges Röcheln. Er ähnelte jenen Spatzen, die wir den ganzen Tag in unseren Kinderhänden gefangen hielten und die, sobald die Nacht anbrach, an Erstickung oder Kummer starben … Ach, Grossvater! Du sollst wissen, dass ich ohne die Arme, die du mir unbewusst entgegenstrecktest, ohne das Gebiss, das dein Lächeln ständig vorzeigte, ohne jenen vor Zärtlichkeit triefenden Blick, den du auf meine Qual richtetest, auf ewig aufgegeben hätte! Ich hätte mich aus meiner Haut verabschiedet; ich hätte meine Träume öffentlich verbrannt. Und um die Flammen herum hätte ich, wie es Mamyta an den in Trance verbrachten Abenden tat, den Boden unter meinen Sohlen und meiner Raserei erzittern lassen; ich hätte getanzt und weitergetanzt, bis meine Beine mich nicht mehr tragen könnten, bis der Sturz mich erlöste. Dann auf dem Boden liegend mit Blick auf die Sterne, hätte ich beobachtet, wie dieser Körper verschwand wie ein Strohhalm im Wirbel der gefallenen Engel, seiner Artgenossen.
Siehst du, Grossvater, nun rede ich schon wie die Griots auf der Grand-Place; jenem magischen Ort, an den ich flüchtete, wenn Mamyta verreist war und die Angst mich wieder ergriff. Ohne euch beide war ich verloren; die Luft wurde stickig und die Rue du Pardon eng und gefährlich. Der Trubel auf der Grand-Place beruhigte mich: der Lärm, die Musik, der Rauch, die Fahrräder, die Kutschen, die Strassenhändler, die Zigarettenverkäufer, die Essbudenbesitzer, die Taschendiebe und die Polizisten, die sie verfolgen … Eine ganze Welt, in der ich mich seltsamerweise sicher fühlte. Ich verbrachte den ganzen Tag dort, schlenderte von einem Schauspiel zum anderen, hingerissen vom Können der Gaukler. Vom Taubendompteur bis zum Insektenarzt, vom Meister der dressierten Affen bis zum Schlangenmenschen, von den Akrobaten bis zu den Schlangenbeschwörern … Allein der Geschichtenerzähler konnte mich stundenlang beschäftigen, denn seine Erzählungen fanden nie ein Ende.
Als ich zehn war, endeten meine einsamen Ausflüge, denn das Schweifen über die Grand-Place wurde gefährlich für junge Mädchen, die den pointeurs zum Opfer fallen konnten; diese Besessenen stehen auf dein Gesäss, sie drücken und reiben ihren steifen Schwanz daran.
Die Sprachgewalt der Erzähler faszinierte mich. Später sollte ich ihre Brüder bei den anonymen Dichtern finden, deren Texte Mamyta sang und deren Sinn, Tiefe und unermessliche verborgene Schätze sie mir Tag um Tag nahebrachte.
Nun bin ich auf dem Friedhof, auf dem du ruhst, Grossvater. Eine traurige, ungepflegte Brache, überladen mit Brombeersträuchern, Verkäufern von Trockenfeigen, nach Wollfett stinkenden Bettlern und Koranlesern, die makabre Suren zum Ende der Welt herunterleiern. Wie Aasgeier fallen sie über die seltenen Besucher her, die geschwächt an den Gräbern ihrer Lieben stehen. Der Schmerz zieht sie an wie das Blut die Vampire. Sie wollen Mittler sein zwischen Ihnen, den Sterblichen, und dem Herrn; deshalb tragen sie – sobald Sie ihnen eine Münze zuwerfen – die Schlüssel zum Paradies zur Schau, die sie zu besitzen glauben. Mir kommen sie nicht nahe. Sie haben mich kennengelernt, seit ich zu deinem Grab komme. Sie wissen, dass sie von mir keinen Centime bekommen. Es widert mich an, wenn jemand die Schwäche der Menschen ausnutzt … Was, du findest mich bösartig? Nein, Grossvater, ich wehre mich nur. Übrigens