Paul Janes und die Fliege am Torpfosten. Michael Bolten
von Friedrich Dörfel und Albert Sing zum 5:3-Endstand. Nach 90 Minuten gingen die deutschen Fußballer erschöpft, aber siegreich vom Platz. Vielmehr wurden sie getragen, denn die im Stadion anwesenden deutschen Soldaten trugen sie auf ihren Schultern vom Platz.
Für den „Kicker“ waren Torwart Helmut Jahn und Hans Rohde die beiden besten deutschen Spieler auf dem Platz gewesen. In der Kritik zu Paul Janes hieß es: „Janes gab uns große Rätsel auf. Vor der Pause schien er oft von allen guten Geistern verlassen. Er selbst bekannte uns, dass es ihm schwergefallen sei, auf das unerhört schnelle und variantenreiche Spiel des linken ungarischen Flügels Einstellung zu finden. Sein schwerer Fehler in der ersten Minute mag ihm auch die innere Sicherheit genommen haben. Nach der Pause war er wie umgewandelt. Da spielte wieder der alte Janes in unübertrefflicher Klasse, unüberwindlich im Nahkampf und großartig vor allem im Abspiel.“3
Paul Janes bei der Platzwahl vor seinem schönsten Spiel. Ungarn - Deutschland 3:5 am 3. Mai 1942 in Budapest.
Im Alter von 20 Jahren, im Oktober 1932, hatte der in Küppersteg geborene und für Fortuna Düsseldorf spielende Paul Janes seine Länderspielkarriere mit einer 1:2-Niederlage in Budapest begonnen. Bei dieser Premiere konnte er seine Kritiker nicht von sich überzeugen, so dass er auf seinen nächsten Länderspieleinsatz ziemlich genau ein Jahr warten musste. Fortan lief er regelmäßig im Nationaldress auf und brachte es schließlich auf 71 Länderspieleinsätze.
Für sein im Jahr 1955 veröffentlichtes Buch „Spiele, die ich nie vergessen werde“ bat Fritz Walter namhafte Spieler und Trainer um kurze Gastbeiträge. Die kurzen Statements präsentierte Walter als Prolog unter der Überschrift „Spiele, die sie nie vergessen“. Nachgekommen waren dieser Bitte unter anderem der Schweizer Alfred Bickel, Juan Schiaffino, der für Uruguay und Italien international aktiv war, und Zlatko „Tschik“ Cajkovski. Neben Sepp Herberger war als einziger deutscher Fußballer Paul Janes in Walters Ehrengalerie vertreten. Er war zu diesem Zeitpunkt Deutschlands Rekordnationalspieler. Die Frage nach seinem unvergesslichsten Spiel beantwortete Janes folgendermaßen: „Das war der Länderkampf Deutschland – Ungarn am 3. Mai 1942 in Budapest. Noch nie war dort eine deutsche Mannschaft siegreich gewesen. Auch ich hatte mehrere Male in Budapest gespielt, aber nie reichte es zu einem Sieg. Auch in diesem Spiel sah es in der Halbzeit nicht danach aus, denn wir mussten mit einem Rückstand von 1:3 in die Kabinen gehen. Nach der Pause kam der große Umschwung. Ein von mir verwandelter Freistoß gab der Mannschaft neuen Auftrieb. Uns gelang nicht nur der Ausgleich, sondern auch noch der Sieg. So wurde meine fünfte Fahrt nach Budapest, der Stadt, in der ich einst als Nationalspieler begann, meine unvergesslichste.“4
Nur wenige Monate später, genauer gesagt am 22. November 1942, gastierte die deutsche Mannschaft in Bratislava zur Partie gegen die Slowakei. Bis zu diesem Tag waren allein im Jahr 1942 knapp 58.000 Juden aus der Slowakei in Vernichtungslager der Nazis deportiert worden. Von den ursprünglich 89.000 Menschen jüdischen Glaubens, die in der Slowakei lebten, überlebten noch nicht einmal 10.000 den Holocaust.5
Vor diesem Hintergrund absolvierte Paul Janes sein 71. und gleichzeitig letztes Länderspiel. Die deutsche Mannschaft siegte mit 5:2 und holte damit den 100. Sieg ihrer Länderspielgeschichte. Die Lust zu feiern war den Spielern allerdings schon während des Spiels vergangen. Die slowakischen Zuschauer beschimpften die deutschen Spieler während der gesamten 90 Minuten. Sie hatten genug von den Deutschen, selbst wenn sie in kurzen Hosen daherkamen. Paul Janes kommentierte das Geschehen auf seine unnachahmliche Art mit den Worten: „Schön ist anders.“6
Für genau acht Jahre, nämlich bis zum 22. November 1950, gab es kein weiteres Fußballländerspiel mit deutscher Beteiligung mehr. Der Propagandafeldzug der deutschen Fußballer durch Europa war im November 1942 endgültig beendet. Die für 1943 bereits vereinbarten Länderspiele fanden nicht mehr statt. Am 22. November 1942 endete im Übrigen auch der Vormarsch der deutschen Wehrmacht im Osten, denn exakt an diesem Tag wurde Generalmajor Friedrich Paulus zusammen mit rund 280.000 Soldaten vollständig von sowjetischen Truppen eingekesselt. Der inzwischen zum Marineartillerieobergefreiten der Reserve beförderte Janes machte sich nach dem Länderspiel wieder auf den Weg von Bratislava zu seiner Marineflakabteilung bei Brunsbüttel. Er überlebte den Zweiten Weltkrieg unverletzt und wurde Anfang August 1945 aus englischer Gefangenschaft entlassen. Zu weiteren Länderspielen langte seine Form nicht mehr. Mit seinen 71 internationalen Einsätzen blieb er über Jahrzehnte Rekordhalter im deutschen Fußball. Erst 1970 wurde er von Uwe Seeler abgelöst. Am 11. März 2012 wäre Paul Janes 100 Jahre alt geworden.
Der Ball – Mittelpunkt seines Lebens.
KINDHEIT UND JUGEND IN KÜPPERSTEG
KINDHEIT IM „SCHAFSTALL“
Als Paul Hubert Janes am 11. März 1912 zur Welt kam, hatte er sieben ältere Geschwister. Da waren zunächst Wilhelm, genannt Willi (geboren 1897), Johann (1898), Peter (1900), Josef (1903) und Hubert (1904), die allesamt in Hitdorf geboren wurden. Es folgten der Umzug nach Küppersteg und die Kinder sechs bis acht, nämlich Heinrich (1907), Maria (1908) und Paul. Heute gehören die Gemeinden Hitdorf und Küppersteg zur Stadt Leverkusen, damals aber war die Region noch ganz durch ihre ländliche Struktur geprägt. Bei Hitdorf handelte es sich um eine kleine selbstständige Gemeinde mit rund 2.000 Einwohnern und bei Küppersteg in erster Linie um eine Bahnstation gleichen Namens. In der Umgebung waren mehr Schafe als Menschen anzutreffen.
Bereits seit Dezember 1845 gab es einen Bahnhof an der Strecke der Cöln-Mindener Eisenbahn mit der Bezeichnung Küppersteg, der nach der gleichnamigen Poststation benannt wurde. Für 22 Jahre war Küppersteg damit in der näheren Umgebung konkurrenzlos. Dennoch kam es erst im Jahre 1889 zur Bildung der Bürgermeisterei Küppersteg durch die beiden Gemeinden Wiesdorf und Bürrig. Die ersten amtierenden Bürgermeister besaßen keinen guten Ruf und galten als inkompetent.7 Erst 1906 mit dem Amtsantritt von Franz Pauly setzte eine positive Entwicklung der Gemeinde ein. 1930 verschmolz Küppersteg mit Hitdorf und weiteren Gemeinden zur Stadt Leverkusen.
Schon Paul Janes’ Großeltern kamen aus dieser Gegend. Die Eltern seines Vaters Anton, Wilhelm und Anna Katharina Janes, wurden 1843 in Hitdorf (Wilhelm) bzw. 1833 in Worringen (Anna Katharina) geboren; Worringen gehört seit 1922 zu Köln. Seine Großeltern mütterlicherseits, Peter und Elisabeth Greis, stammten beide aus Hitdorf, wo sie im Jahre 1834 auf die Welt kamen. Alle vier waren römisch-katholischen Glaubens, und die beiden Großväter verdienten ihr Geld jeweils als Tagelöhner. Sie wiesen damit eine für die Gegend typische Biografie und Religionszugehörigkeit aus. Der Rheinhafen in Hitdorf als hauptsächliche Beschäftigungsmöglichkeit konnte für keine dauerhaft bezahlte Arbeit sorgen, so dass sich viele Männer als Tagelöhner, z.B. in der Produktion von Zündhölzchen, verdingten. Nicht selten arbeiteten die Familienangehörigen mit, damit der Lebensunterhalt gesichert werden konnte. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts erlebten Küppersteg und Umgebung einen kleinen wirtschaftlichen Aufstieg: Es entstanden etliche Ziegeleien und Produktionsstätten für Schwefel- und Salpetersäure. Außerdem entwickelte sich eine fabrikmäßige Zündholzproduktion, und es entstand auf der Bürriger Heide die „Rheinische Dynamitfabrik Opladen“. Die Fabrikarbeit war oft gefährlich, aber auch verhältnismäßig gut bezahlt. Im Jahre 1891 wurde in Wiesdorf die spätere Bayer AG gegründet.
Auch Janes’ Eltern wurden in Hitdorf geboren, Anton im Jahre 1871 und Katharina zwei Jahre später, und waren ebenfalls katholisch. Sie heirateten am 2. Mai 1896. Anton Janes war Fabrikarbeiter und versorgte so die wachsende Familie. Zwischen September 1904 und Mai 1907 wagte die in Hitdorf ansässige Familie mit ihrem Umzug in den Nachbarort Küppersteg den Schritt in eine neue Zukunft. Dabei hatte Küppersteg nach wie vor wenig mehr zu bieten als einen regional wichtigen Personen- und Güterbahnhof. Bis zum späteren Bayerwerk in Wiesdorf betrug die Entfernung rund fünf Kilometer, eine Distanz, die selbst in jenen Jahren recht gut zurückzulegen war. Am 1. Dezember 1900 wies die Gemeinde Bürrig, zu der Küppersteg gehörte, eine Einwohnerzahl von 2.337 aus. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts setzte in der Umgebung des Küppersteger