Paul Janes und die Fliege am Torpfosten. Michael Bolten
einem kleinen zweistöckigen Haus mit der Adresse Bahnhofstraße 36 (seit 1975 Küppersteger Straße) ihr neues Domizil. Heute erinnert noch die Straße „Am alten Schafstall“ in Leverkusen-Küppersteg an die alte Arbeitersiedlung.
Paul Janes wurde also im März 1912 in bescheidene, aber anscheinend stabile ländliche und sehr sportbegeisterte Verhältnisse geboren, denn alle Brüder spielten Fußball. Mit Beginn des Ersten Weltkrieges verbesserte sich kurzfristig die allgemeine Situation in den Gemeinden rund um den Bahnhof Küppersteg. Die Arbeitslosigkeit war gering, und der harte „Steckrübenwinter“ 1916/17 konnte vergleichsweise gut überstanden werden. Doch gegen Ende des Krieges kam es auch rund um Küppersteg zu erheblichen Versorgungsengpässen, Unterernährung und Todesfällen. Die nach Kriegsende gebildeten Arbeiter- und Soldatenräte verbreiteten wenig revolutionären Elan, und es blieb in Küppersteg und Umgebung verhältnismäßig ruhig. Auch die sich kurz darauf anschließende Besatzung durch alliierte Soldaten (zunächst überwiegend Schotten und Neuseeländer, später Engländer) verlief ohne großes Aufsehen. Vereinzelte Probleme gab es im Laufe der Besatzungszeit, wenn die Alliierten Wohnungen für ihre Offiziere requirierten. Negativ für die lokale Wirtschaft wirkten sich in der Nachkriegszeit Handelsbeschränkungen, die Kappung wichtiger ökonomischer Verbindungen mit den linksrheinischen Gebieten und Wiedergutmachungsbestimmungen aus.
ERSTE SPORTLICHE ERFOLGE UND EIN MÄSSIGER SCHULABSCHLUSS
Vor diesem Hintergrund begann im Jahre 1918 Paul Janes’ Schulzeit an der „Katholischen Schule zu Küppersteg“ an der Düsseldorfer Straße (die heute in diesem Bereich Hardenbergstraße heißt). Die Rahmenbedingungen, unter denen der junge Paul aufwuchs, spielten keine nennenswerte Rolle in der von Janes verfassten Autobiografie, so dass über sein Leben in jener Zeit kaum etwas bekannt ist. Laut eigener Aussage bestand damals das größte Problem seiner Eltern darin, die von allen Jungen benötigte Sportkleidung und vor allem Sportschuhe zu beschaffen. Das klappte schon aus ökonomischen Gründen nicht immer, so dass der spätere Rekordnationalspieler Janes wie so viele Fußballer seiner Generation „die ersten ‚Gehversuche‘ als Fußballer (…) nicht in richtigen Fußballschuhen“ unternehmen konnte. Es mussten ersatzweise „Holzpantinen oder Zellstoffschuhe her“, oder es wurde zum Leidwesen seiner Mutter gleich in Straßenschuhen gekickt. Weil sich die Familie für Fußball begeisterte, was in jenen Jahren eher ungewöhnlich war, wurde er frühzeitig beim Sportverein Jahn Küppersteg in der Schülermannschaft angemeldet. In dem 1914 gegründeten Verein (er fusionierte 1950 mit dem TuS Manfort 1904 zum VfL Leverkusen) kickten seine Brüder, und Willi Janes gehörte zu den Gründungsmitgliedern und ersten Fußballern des Vereins. Er war es auch, der seinem jüngsten Bruder zu Weihnachten ein paar Fußballschuhe schenkte und Paul nach eigener Aussage somit zum glücklichsten Jungen der Welt machte.
Als ob damit ein Schalter bei ihm umgelegt worden sei, widmete sich Paul Janes von da an voll und ganz dem Fußballspiel. Er spricht in seiner Biografie von einer „seltenen Spielleidenschaft“, die ihn packte.8 Dieser Leidenschaft ging er in jeder freien Minute nach. Dies wirkte sich allerdings zum Bedauern seiner Mutter nachteilig auf seine schulischen Leistungen aus. Letztendlich absolvierte er bis zu seinem 14. Lebensjahr insgesamt acht Schuljahre. Ostern 1926 endete mit dem Abschluss des 6. Schuljahres seine Schulzeit. Paul Janes erhielt in seinem Abschlusszeugnis folgende Noten:
„Betragen – gut
Aufmerksamkeit und Fleiß – befriedigend
Religion (a. Biblische Geschichte, b. Katechismus, c. Kirchenlied) – gd.
[genügend, M.B.]
Deutsch (a. Lesen, b. Sprachl., c. Aufsatz einschl. Rechtschreiben) – gd.
a. Rechnen, b. Raumlehre, c. Geschichte – gd.
a. Erdkunde, b. Naturbeschreibung, c. Naturlehre – gd.
a. Schönschreiben, b. Zeichnen, c. Gesang – gd.
Turnen bzw. weibliche Handarbeit – recht gut
Schulbesuch – r. [regelmäßig, M.B.]“9
Turnen: Recht gut.
Bei der Note „genügend“ handelte es sich um eine relativ häufig vergebene Note, die in etwa dem Durchschnitt der Schülerleistungen entsprach. Die Benotung seiner turnerischen Fähigkeiten entspricht ungefähr einer Note von Eins minus. Grundsätzlich handelte es sich um ein befriedigendes Abschlusszeugnis, wobei davon ausgegangen werden kann, dass der Schüler Paul Janes während seiner acht Schuljahre zwei Ehrenrunden drehte.
DER LOHN DES TRAININGS
Ganz anders verlief die sportliche Entwicklung des jungen Paul Janes. Im Jahresbericht von Jahn Küppersteg über das Jahr 1926, das als „Schandfleck“ in die Vereinsannalen einging, tauchte sein Name erstmalig auf. Fußballerisch verlief das Jahr für den Küppersteger Klub völlig frustrierend. Zunächst wurden der Gewinn der Gruppenmeisterschaft und der damit verbundene Aufstieg in die erste Bezirksklasse vom Westdeutschen Spiel-Verband (WSV) am „grünen Tisch“ aberkannt. In der als nachträgliche Aufstiegschance zu absolvierenden Trostrunde „konnte unsere Mannschaft nicht mehr bestellen, da sie durch die obige Entscheidung vollständig deprimiert war. Wir erlitten einen starken Rückschlag, der durch die Interessenlosigkeit [sic] der Spieler sich auch auf unser Vereinsleben auswirkte“, hieß es im Jahresbericht. Nur wenige Zeilen darunter, unter der Rubrik Leichtathletik, wurden die Ergebnisse des Kreisjugendfestes bekannt gegeben. Demnach wurde Paul Janes „3. Sieger im Dreikampf d. III.Kl.“. Außerdem nahm Paul am Gaujugendfest teil und erzielte im Ballweitwurf den ersten Platz, im Weitsprung den zweiten, und im 100-m-Lauf wurde er dritter Sieger. Die 135 aktiven Mitglieder, davon 60 Jugendliche, mussten aufgrund der finanziellen Lage des Vereins im Jahre 1926 zwar auf ihr Stiftungsfest verzichten, doch erstmals trat ein 14-jähriger Junge ein wenig in den Vordergrund, auf den der Verein noch Jahrzehnte später sehr stolz war.10
Die wirtschaftliche Situation im Jahre 1926 war angespannt, doch noch verhältnismäßig gut. Ein Jahr zuvor waren unter anderem die Farbenwerke in Wiesdorf unter das Dach der I.G. Farbenindustrie AG geschlüpft. So galt Wiesdorf und Umgebung Mitte der 1920er Jahre als „wirtschaftlich attraktive Stadt“ mit vielen Arbeitsplätzen in der Region.11 Paul Janes landete nach dem Schulabschluss allerdings nicht bei den Farbenwerken, sondern absolvierte bei der in Küppersteg ansässigen Firma Hermann Munkel eine Maurerlehre. Dass die Ausbildung unmittelbar nach Schulabschluss begann, ist wahrscheinlich, jedoch nicht ganz sicher. Dies gilt im Übrigen für viele Angaben zu Janes’ Berufsleben, da er sich selbst wiederholt widersprach. Ziemlich sicher ist, dass er nach Ausbildungsabschluss bei der Firma Munkel bis ins Jahr 1931 arbeitete.
Beinahe ähnlich nebulös, wie seine berufliche Laufbahn sich heute darstellt, verhält es sich mit seiner sportlichen bei Jahn Küppersteg. Der junge Paul begann seine Karriere in der Jahn-Schülermannschaft, als bereits vier ältere Brüder in der ersten Elf des Küppersteger Klubs kickten. Aus den Jahresberichten der zweiten Hälfte der 1920er Jahre geht hervor, dass die Situation der Fußballer sehr unbefriedigend war. Jahr für Jahr wurde vom Aufstieg in die 1. Bezirksklasse geträumt, der Traum ließ sich aber nicht realisieren. So hieß es beispielsweise im Bericht für das Jahr 1928: „Die Hoffnungen, die wir in das vergangene Geschäftsjahr gesetzt haben, blieben leider auch diesmal unerfüllt. In der Meisterschafts-Serie 1927/28 konnte unsere 1. Mannschaft nur den 3. Tabellenplatz erringen, wodurch wir mit dem Aufstieg auf ein weiteres Jahr vertröstet wurden.“12 Zu jenem Zeitpunkt wurde der 16-jährige Paul Janes nach eigener Aussage bereits in der ersten Mannschaft eingesetzt. Allerdings irrte er sich, was die Ligazugehörigkeit (Jahn spielte während der Saison 1927/28 nicht in der 1. Bezirksklasse) und den Tabellenabschlussplatz anging.13
DAS ERSTE LÄNDERSPIEL ALS ZUSCHAUER
Der Jugendliche Paul Janes war sowohl ein begeisterter aktiver Fußballer als auch ein ebensolcher Zuschauer. Er besuchte Spiele und Training der ersten Mannschaft. Das ließ sich gut einrichten, denn die Wege in Küppersteg zwischen heimatlicher Wohnung, Ausbildungsstelle und Sportplatz (der in den 1950er Jahren einem Neubauvorhaben namens Aquilasiedlung weichen musste)