Paul Janes und die Fliege am Torpfosten. Michael Bolten
‚Astoria‘ abgestiegen. Zum ersten Male stand ich zwischen den alten Stammspielern der Nationalmannschaft.“ Gemeinsam mit Hans Jakob, dem zweiten Ersatzspieler, musste Janes die klare 0:5-Niederlage gegen die Elf um den Wiener Stürmerstar Matthias Sindelar, der drei Treffer erzielte, allerdings von außen miterleben. Nur zwei Wochen später, am 27. September, lief es für die deutsche Mannschaft besser. In Hannover schlug sie die Dänen mit 4:2, nur Janes war frustriert. Er stand erneut voller Ungeduld als Ersatzspieler am Seitenrand, denn er fühlte sich eindeutig „länderspielreif“.46 Nerz war jedoch anderer Auffassung, und Paul Janes musste sich bis zu seinem ersten Einsatz in der A-Nationalmannschaft noch ein gutes Jahr gedulden.
Erste Repräsentativeinsätze im Dress des Westdeutschen Spielverbands. Hinten links Janes, hinten rechts Kobierski. Vorne von links Albrecht, NN, Bender, Hochgesang.
Ein wesentlicher Grund dürfte darin gelegen haben, dass für Janes noch nicht die ideale Position gefunden worden war. Er wurde häufig als Läufer eingesetzt und hatte auf dieser Position mit dem Frankfurter Rudi Gramlich einen mindestens gleichwertigen Konkurrenten. Auch bei der Fortuna wurde er auf unterschiedlichen Positionen eingesetzt. So spielte er beispielsweise beim Neujahrskick in Bonn als Stürmer. Die Kritik des anwesenden „Fußball“-Reporters war wenig schmeichelhaft, denn Janes’ Leistung fiel bei ihm glatt durch.47 Als Stürmer war Janes anscheinend nicht zu gebrauchen. Als im März 1932 Hertha BSC zu einem Freundschaftsspiel nach Düsseldorf kam, setzte ihn Trainer Körner als Mittelstürmer ein. Das Ergebnis wurde im Fachblatt „Fußball“ als Katastrophe bezeichnet.48 Überhaupt ist auffällig, dass die Leistungen des jungen Fortunen zu Beginn seiner Karriere wiederholt zurückhaltend bewertet wurden. Selbstverständlich kamen auch sehr gute Kritiken vor, so hieß es beispielsweise nach dem Spiel der WSV-Elf in Belgien im Mai 1932, dass er als Läufer eine hervorragende Leistung zeigte.49 Wahrscheinlich beschrieb der „Fußball“ das damalige Leistungsvermögen des „kleine[n], junge[n], zierliche[n] Techniker[s]“ sehr zutreffend: „Janes ist ein guter Spieler, aber doch kein Wundertier. So oft ich ihn wenigstens sah, hatte er jedes Mal auch Schwächen (etwa 30 nicht gelungene Aktionen bei 100 Aktionen insgesamt).“50
Paul Janes zählte inzwischen zu den Stammspielern der Fortuna, aber noch lange nicht zu den Stars der Elf. Das waren immer noch Willy Pesch, Ernst Albrecht, „Tau“ Kobierski und vor allem „Schorsch“ Hochgesang, der von Heinz Körner auch zum Co-Trainer ernannt wurde. Die Fortuna konnte ihren Erfolg aus dem Vorjahr nicht wiederholen und Paul Janes sich nicht in der Nationalelf durchsetzen. Im März 1932 folgte ein weiterer frustrierender Einsatz als Ersatzspieler, denn Gramlich spielte als rechter Läufer gegen die Schweiz. So musste er sich weiterhin mit Einsätzen in der WSV-Elf begnügen. Als Sepp Herberger am 1. August 1932 als WSV-Verbandstrainer seine Tätigkeit in Duisburg aufnahm, stellte er bald fest, dass die Auswahl der Lehrgangsteilnehmer nicht ausschließlich sportliche Gründe hatte. Doch er zeigte Verständnis dafür, denn durch solche Nominierungen ließen sich einige soziale Härten mildern, denn „wer beim Verband in Duisburg trainierte, war wenigstens von der Straße und hatte zu essen“.51 Dennoch nutzte der Trainer seine Verbandsaufgabe vorrangig dazu, talentierte Spieler zu sichten und zu fördern. Unter Herbergers Anleitung kam Janes im September und Oktober zu zwei weiteren Einsätzen für die Auswahl Westdeutschlands, bevor am 30. Oktober 1932 der ersehnte Traum in Erfüllung ging und er zu seinem ersten Einsatz in der deutschen A-Nationalmannschaft auflief.
MEISTERSCHAFT UND WM-TEILNAHME
DER ERSTE INTERNATIONALE EINSATZ
Ende Oktober 1932 durfte Paul Janes auf seine nächste Länderspielreise. Es ging in die ungarische Hauptstadt Budapest, und hier sollte der junge Fortune zu seinem ersten richtigen internationalen Einsatz kommen. Allerdings waren nicht die Besten aufgeboten, denn von den beiden Finalisten um die Deutsche Meisterschaft 1931/32, Bayern München und Eintracht Frankfurt, stand kein Spieler auf dem Ferencváros-Platz. Deren Internationale kamen Ligaverpflichtungen nach. Die deutsche Elf lockte nur rund 15.000 Zuschauer an jenem 30. Oktober ins Stadion. Paul Janes juckte dies nicht. Er war in freudiger Erwartung auf sein erstes offizielles Länderspiel, das er als eine „Anerkennung der pausenlos-intensiven Trainingsarbeit“ sah. Über Wien ging es im D-Zug in die ungarische Hauptstadt.
Wie bei Länderspielreisen in jenen Jahren üblich, gab es zunächst ein wohlorganisiertes und umfangreiches Touristikprogramm. Es wurden Kirchen besichtigt, ein Ausflug auf die Margareteninsel und ein Abstecher nach Ofen (ungarisch Buda), einem ehemals selbstständigen Teil der Stadt Budapest, unternommen. Die deutsche Delegation durfte im überaus komfortablen Hotel Gellert residieren. „Dieses Hotel ist wohl das schönste, das ich später auf allen meinen zahlreichen Reisen im In- und Auslande noch kennenzulernen Gelegenheit hatte. Vom Schwimmbad bis zum Massageraum war alles zum Komfort der Gäste eingerichtet“, schwärmte der beeindruckte 20-jährige Fußballer Janes.52 Am Abend vor dem Spiel gab es einen Theaterbesuch, und anschließend war Bettruhe angesagt.
Doch der bevorstehende Länderspieleinsatz gegen die Ungarn mit ihrem herausragenden Stürmer György Sárosi ließ den Neuling Janes kaum zur Ruhe kommen. Er schlief wenig, und auf dem Platz packte selbst den „fischblütigen“ Janes das Lampenfieber. In der ersten Halbzeit „sah er keinen Ball, rutschte auf dem glatten Boden herum“ und gab keine gute Figur ab.53 Sein Düsseldorfer Teamkamerad Ernst Albrecht riet ihm in der Pause: „Paul, du musst wie zu Hause spielen. Du musst einfach glauben, du stehst auf unserem Fortunaplatz in Flingern.“54 Die zweite Halbzeit lief für den Länderspielneuling zwar besser, doch Janes bezeichnete seinen ersten Einsatz für die deutsche Elf, die den Ungarn mit 1:2 unterlag, als nicht unbedingt verheißungsvoll.55 Das Fazit der „Fußball-Woche“ ließ aber auf weitere Einsätze hoffen: „Die Spielbegabung dieses jungen Mannes ist nicht unbeträchtlich, aber er hat noch allerhand zu lernen, auch technisch. Er hat bei seinem ersten Spiel etwas sehr Wesentliches gelernt: gelöst zu spielen, die Fesseln seines natürlichen Phlegmas zu sprengen und ehrgeizig zu kämpfen.“56
Weil die Fortuna nur einen Tag nach diesem Länderspiel eine Freundschaftspartie gegen den amtierenden Deutschen Meister aus München auf dem neuen Rasenplatz am Flinger Broich austrug, setzten sich die drei Düsseldorfer Nationalspieler Janes, Albrecht und Kobierski nach dem abendlichen Bankett in den Nachtzug nach Wien. Von dort ging es mit einem viersitzigen Flugzeug Richtung Düsseldorf zurück. Janes war nicht ganz wohl vor seinem ersten Flug, doch „während die Maschine durch eine Wolkenwand dem Häusermeer Wiens entschwand“, fühlte er sich überglücklich.57 Schließlich hatte er sein erstes richtiges Länderspiel absolviert.
Bis es zum nächsten offiziellen internationalen Einsatz kam, musste sich „Dä Bur“ ein knappes Jahr gedulden. Das fiel ihm nicht leicht, so fußballbesessen, wie er war. Doch die Zwischenzeit nutzte er, indem er mit guten Leistungen bei der Fortuna auf sich aufmerksam machte. Außerdem spielten die Zeit und die Einführung des für deutsche Verhältnisse neuen Spielsystems mit dem Namen „W-M“ für ihn. Es wurde zunächst vom Arsenal-Manager Herbert Chapman konzipiert, als Konsequenz daraus, dass im Jahr 1925 die Abseitsregel verändert worden war. Bis zu diesem Zeitpunkt galt es als Abseits, wenn bei der entscheidenden Ballabgabe weniger als drei gegnerische Spieler zwischen dem angreifenden Spieler und der Torlinie standen. Nach der neuen Regel mussten es weniger als zwei für eine Abseitsstellung sein, zumeist also: nur noch der Torwart. Dies führte zu einem veränderten taktischen Verhalten und einer Betonung der Defensive. Der bislang offensiv eingesetzte Mittelläufer, er fungierte in dem alten 2-3-5-Schema als Bindeglied zwischen Abwehr und Angriff, rückte nach hinten als Stopper in die Deckung. Das von Chapman entwickelte W-M-System sah so aus: Zwei Außenstürmer nebst Mittelstürmer sowie zwei Halbstürmer als Angriffsformation machten das „W“ aus. Die Hintermannschaft wurde um den Stopper in der Mitte gebildet. Die vorderen Punkte des „M“ bildeten die defensiv ausgerichteten Außenläufer, die hinteren die beiden Außenverteidiger. Dies bedeutete eine Spezialisierung für jede einzelne Position und eine klare Manndeckung für die Außenverteidiger.
Nationaltrainer Otto Nerz, der sich wiederholt in England weiterbildete, hatte schon früh die Absicht,