Paul Janes und die Fliege am Torpfosten. Michael Bolten
den besten gehörten. Der „Fußball“ wählte ihn im November 1933 unter anderem wegen seiner herausragenden Ballbehandlung zum besten Spieler bei der Partie gegen Norwegen, Endstand 2:2, in Magdeburg.82 Überhaupt kam Janes beim „Fußball“-Redakteur Friedebert Becker verhältnismäßig gut weg. Für ihn galt der Fortune als die Entdeckung des Jahres 1933, denn seit vielen Jahren wurde „dem deutschen Fußball nicht mehr ein technisch so perfekter hundertprozentiger Fußballkünstler beschert“.83 Doch es gab auch kritische Einschätzungen, so beispielsweise nach der Begegnung Nordfrankreich gegen Westdeutschland am 18. Februar 1934, die 3:3 endete. Denn er verschuldete beim Stand von 2:2 eine Viertelstunde vor Schluss leichtfertig den Führungstreffer der Franzosen: „Janes, der im Strafraum jongliert – da fegt Ignace heran und knallt flach in die Ecke. Janes’ dummes Gesicht half nichts.“84
Für Janes selbst zählten andere Dinge auf der Fahrt nach Lille. Er sah sich im Rückblick tatsächlich als Botschafter eines neuen Deutschlands, das sich mit dem ehemaligen Kriegsgegner versöhnte. 1947 hieß es dazu in seiner Biografie: „Lille! Nordfrankreich – ehemaliges Kampfgebiet. Und gerade hier, wo alte Frontkämpfer auf offizieller französischer Seite sich mit solchen auf westdeutscher Seite trafen, wo die Bevölkerung schwer unter der damaligen Besetzung zu leiden hatte, hier in Lille waren wir deutschen Gäste in einer Weise als Gäste aufgenommen worden, die in ihrer Herzlichkeit ergreifend und frohsinnig zugleich wirkte. (…) Unvergesslich der Augenblick, als wir mit unserer Elf auf das Feld liefen und uns ein Sturm der Begrüßung entgegenraste…“85 Auch WSV-Chef Klein war stolz auf die deutschen Kicker und bedankte sich bei ihnen in einem Grußwort im WSV-Verbandsblatt, indem er das „vorbildliche sportliche und nationalbewusste Verhalten“ lobend erwähnte. Sie hätten in Frankreich ihr Vaterland ehrenhaft und würdig vertreten.86
Janes’ fünftes Länderspiel, das am 11. März 1934 in Luxemburg stattfand, wurde mit 9:1 gewonnen und bedeutete die erfolgreiche Qualifikation zur anstehenden Weltmeisterschaft. Kurios bei dieser Partie war nur das Auswahlverfahren der Spieler. Denn nicht die beste Elf, sondern Spieler mit Erfahrungen gegen die Luxemburger und mit der kürzesten Entfernung zum Austragungsort kamen zum Einsatz.87
Im Mai 1934, parallel zu den Spielen um die Deutsche Meisterschaft, fand der entscheidende Lehrgang der Nationalmannschaft in Duisburg statt. Der Tagesplan sah folgendermaßen aus: zunächst Waldlauf, dann ausgiebiges Konditionstraining, Essen, Mittagsruhe und nachmittags Theorie und Taktik.88 In einem Rückblick für den „Kicker“ nannte Trainer Otto Nerz die im Trainingslager anzutreffende Erziehungsform „sportlich-soldatisch“.89 Wie akribisch das deutsche Team auf diese WM vorbereitet wurde, zeigt, dass insgesamt vier Testspiele gegen die englische Profimannschaft von Derby County absolviert wurden. Gegen die Berufsfußballer von der Insel wollten Nerz und Herberger das W-M-Schema einstudieren. Nach den ersten drei Testspielen hatte Janes seine Fahrkarte nach Italien in der Tasche. Er überzeugte als rechter Läufer im W-M-System des Reichstrainers. Als am 18. Mai das Aufgebot zur WM in Italien veröffentlicht wurde, stand der Name Janes auf der Liste. Er gehörte neben Ernst Albrecht und „Tau“ Kobierski zu den drei Fortunen, die die Fahrt über die Alpen antreten durften.
FUSSBALL-WELTMEISTERSCHAFT 1934 IN ITALIEN
Die WM-Teilnehmer Conen, Jakob und Lehner berichteten im Rahmen ihrer Autobiografien ausführlich über Deutschlands erste WM-Teilnahme. Sie geben gut die damals vorherrschende Stimmung wieder. Die WM-Spieler trafen sich in Singen am Hohentwiel und reisten gemeinsam mit dem Chef d’Équipe Josef Glaser, mit Reichstrainer Otto Nerz, DFB-Pressewart Guido von Mengden, dem Arzt Dr. Hagenmiller sowie Bundessportlehrer Bruno „Tute“ Lehmann – aber ohne Sepp Herberger, der darüber höchst verärgert war – bereits acht Tage vor dem ersten Spiel per Bus an. Ausgestattet waren die Kicker mit einer einheitlichen neuen Uniform, einem braunen Anzug mit einem „silbernen Hoheitszeichen auf der rechten Brustseite“.90
Lehner beschrieb die Stimmung bei der Fahrt als „urlaubsmäßig. Wie konnte es auch anders sein? Junge Menschen zwischen 20 und 30, Sportler aus allen Himmelsrichtungen des Reiches, zu allen Streichen und Untaten aufgelegt, und auf Kosten des freundlichen DFB, der als Gegenleistung nur ein anständiges Fußballspiel von uns verlangte, von der Kette der Alltagsarbeit losgelassen, da musste ja das Herz höher schlagen und das Urlaubsgefühl in den Vordergrund treten.“ Viele Spieler sahen zum ersten Mal die Zentralalpen. Selbst die Passkontrolle war erwähnenswert, da sie von den die italienischen Grenzbeamten hochachtungsvoll behandelt wurden.91 Nicht ganz so urlaubsmäßig las sich das WM-Unternehmen beim damaligen „FuL“-Schriftleiter Lutz Koch. Für ihn ging das WM-Quartier der deutschen Elf in Cernobbio am Comer See „unter dem Namen ‚Konzentrationslager Cernobbio‘ in die Länderspielbeschreibung ein“.92 Die sportliche Vorbereitung auf das Turnier war so, wie die Spieler es von ihrem Trainer gewohnt waren: hart bis unerbittlich und aus heutiger Sicht fragwürdig. Er ließ mitunter in der Mittagshitze trainieren, damit sich die Spieler an die zu erwartenden Spielbedingungen gewöhnen konnten. „Dabei durften wir die durch den ehrlichen Trainingsschweiß vergossene Flüssigkeit nicht einmal durch allzu vieles Trinken ersetzen“, bedauerte Lehner. Verdurstet sei jedoch keiner, und diese Art von Vorbereitung sei in den folgenden Spielen vorteilhaft gewesen.93
Vermutlich irrte sich der NS-Sportjournalist Koch, der bei den Spielern ein „Gefühl der Verpflichtung“ ausmachte.94 Denn von einer Verpflichtung ist in den Erinnerungen der WM-Teilnehmer nichts zu spüren. Für den 22-jährigen Ernst Lehner übertraf die Atmosphäre am Comer See alles, was er bis dahin erlebt hatte: „Wenn man die Augen schloss, hatte man das Gefühl, einmal so richtig wunschlos glücklich zu sein. Alles konnte man hier vergessen, die kleinen Sorgen des Alltags und die größeren um einen zukünftigen Beruf (…). Helle, wohnliche Zimmer, gute Betten, keine Feldlager wie in Duisburg, und ein schöner Strand lassen Cernobbio in der Erinnerung recht angenehm aufleuchten. (…) Schwimmen und Sonnen, letzteres allerdings nur sehr dosiert, Kahnfahren und kleine Ausflüge, die wieder in den kühlen Fluten des Comer Sees endeten, ließen die Stunden, rascher als erwünscht, verrinnen.“95 Für Torwart Hans Jakob lautete das Fazit der Vorbereitungstage: „Cernobbio – sonnige Tage, ausgefüllt mit dummen Streichen einer fidelen, lustigen Bande!“96 Auch Edmund Conen bestätigte, dass viele Faxen gemacht wurden, doch Verstöße wie zum Beispiel Unpünktlichkeit wurden innerhalb der Mannschaft geahndet. Dafür war der „Heilige Geist“ zuständig, der während der WM von „Scharfrichter“ Fritz Szepan verkörpert wurde. Bei der Ausübung der Strafen hieß es: „Hosen runter zum standgerichtlichen Strafvollzug.“97 Lediglich der Bayer Sigmund Haringer schien sich nicht mit der Kasernierung und den Ernährungsvorschriften abzufinden und widersetzte sich Trainer Nerz. Doch seine Spekulation auf eine erzwungene frühere Heimreise ging erst nach dem Halbfinale auf. Bis dahin musste er bleiben.98 Schenkt man den Berichten der Beteiligten Glauben, so dürfte es sich bei den deutschen Kickern in Italien um eine recht vergnügte, zu derben Späßen neigende Männergesellschaft gehandelt haben, die ihren Aufenthalt insgesamt als Urlaub ansah, der von einigen Trainingseinheiten und Länderspielen unterbrochen wurde.
Noch am Vormittag der ersten WM-Partie, die am 27. Mai in Florenz gegen Belgien ausgetragen wurde, gab es für beide Mannschaften einen Empfang im Rathaus und anschließend eine Stadtbesichtigung. Nachteilig war lediglich, dass die deutsche Elf trotz großer Hitze ihren braunen Anzug tragen musste. Die rund 8.000 italienischen Zuschauer im Stadion unterstützten überwiegend die Belgier. Sie schienen nach Ernst Lehners Auffassung den „Deutschen wenig Sympathien entgegenzubringen, ein Eindruck, der sich an den folgenden Spieltagen wesentlich verstärkte“. Die deutsche Elf konnte nicht überzeugen, ihr Spiel galt in der italienischen Presse als eher langweilig und unschön, was Lehner auf das große Lampenfieber der vielen jungen Spieler zurückführte, schließlich betrug das Alter der deutschen Kicker im Durchschnitt 23 Jahre.99 Auf jeden Fall reichte es trotz eines 1:2-Pausenrückstandes noch zum 5:2-Erfolg und damit dem Erreichen der WM-Zwischenrunde. Paul Janes, der als rechter Läufer agierte, blieb in seiner Biografie zu diesem Spiel recht einsilbig. Vielleicht lag es daran, dass er vom „Kicker“ zum schwächsten Spieler der deutschen Elf erkoren wurde. „In Florenz genügte er wirklich nicht“, lautete das ernüchternde Fazit.100
Eine im Spiel gegen