Nackter Glaube. Stuart Murray
zu vernehmen ist, die den verlorenen Einfluss des Christentums zurückbringen mögen. Stuart Murray zählt nicht zu jenen Stimmen. Im Gegenteil. Den Niedergang der christlichen Vorherrschaft hält er für eine begrüßenswerte Entwicklung. Natürlich freut er sich nicht darüber, dass viele Menschen dem christlichen Glauben wenig Sinn und Orientierung für das eigene Leben abgewinnen können. Aber im Verlust der gesellschaftlichen Machtposition sieht er die Möglichkeit, dass Christsein wieder „jesusähnlicher“ werden kann. Die gegenwärtige Nacktheit der Kirche ist demnach nicht zwingend eine Demütigung, sondern verweist Christen gerade auf ihre ursprüngliche Bestimmung. Denn die Kraft des christlichen Glaubens ortet Stuart Murray nicht in der im Christentum üblichen Allianz von Kirche und politischer Elite, sondern in einem mutigen und doch verletzlichen Christsein, das sich konsequent am Leben Jesu orientiert.
Wer sich heutzutage mit kirchenkritischen Menschen unterhält, merkt jedoch schnell: Die Schatten des Christentums sind noch immer lang. Die Gleichsetzung der Kirche mit Gewalt, Reichtum und Macht ist weit verbreitet und vielfach ein Argument gegen jegliche ernsthafte Auseinandersetzung mit dem christlichen Glauben. Stuart Murray nimmt dies ernst und will zeigen, dass Kirche anders sein kann – ja, anders sein muss. Als Inspirationsquelle und Gesprächspartner dient ihm dabei die täuferisch-mennonitische Tradition, die ihren Ursprung in der Reformationsbewegung des 16. Jahrhunderts hat. Einige Weggefährten des Zürcher Reformators Huldrych Zwingli kritisierten bereits damals die in ihren Augen unheilvolle Allianz von Kirche und Obrigkeit. Mit ihrem Pochen auf eine freiwillige Kirchenmitgliedschaft, ihrem Streben nach einer macht- und gewaltlosen Kirche sowie ihrer Verweigerung von Eid und Kriegsdienst provozierten sie einst den Zorn der Mächtigen. Was damals harte Repressionen durch Kirche und Staat nach sich zog, ist nun nach Stuart Murray auch für das Christsein in einer nachchristlichen Welt geboten. Dass er just in der täuferisch-mennonitischen Bewegung wegweisende Impulse findet, ist dabei alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Zum einen spielt sich das Täufertum am Rande der kirchengeschichtlichen Hauptstränge ab und fristet dort ein oft derart unbekanntes Dasein, dass es sich bestenfalls als interessantes Forschungsobjekt für Historiker und Theologen eignet. Zum anderen ist Stuart Murray selbst kein Mennonit, sondern hatte als Baptist lange Zeit keinerlei Berührungspunkte mit der täuferisch-mennonitischen Tradition.
Wenn er in diesem Buch von der bleibenden Bedeutung dieser Art des Christseins schreibt, tut er dies daher nicht mit der Absicht, seine Leserinnen und Leser von der Richtigkeit oder gar der Überlegenheit seiner Glaubenstradition zu überzeugen. Wie er mit dem englischen Originaltitel des Buches – The Naked Anabaptist – andeutet, geht es ihm um freigelegte Glaubensinhalte jenseits bestimmter traditioneller und konfessioneller Formen. Er betreibt denn auch nicht eine Glorifizierung des historischen Täufertums, wenngleich das Buch diesbezüglich an manchen Stellen etwas idealisierend wirkt. Vielmehr versucht der Autor aus einer täuferischen Perspektive den nackten Kern des Christseins zu beschreiben und damit zu zeigen, was diese Überzeugungen für den Glauben heute bedeuten – ganz gleich, in welchem Kontext. Dieses Anliegen teilt Stuart Murray in Großbritannien seit einigen Jahren mit Christen, die unterschiedlichen Denominationen angehören und sich im Anabaptist Network (www.anabaptistnetwork.com) zusammengefunden haben. Das Buch ist denn auch ein Resultat der gemeinsamen theologischen Reflexion innerhalb dieses Netzwerkes und erläutert im Wesentlichen sieben daraus hervorgegangene Grundüberzeugungen für ein Christsein in einer nachchristlichen Welt.
Auch wenn die Begriffe „Täufer“ oder „täuferisch-mennonitisch“ in Kontinentaleuropa längst nicht so positiv besetzt sind, wie etwa das englische „anabaptist“ im angelsächsischen Raum, rückt das theologische Erbe dieser Tradition auch hier bei uns verstärkt ins Bewusstsein. Dazu beigetragen haben in den vergangenen Jahren sicherlich die vielen Versöhnungsfeiern und Dialoge zwischen Mennoniten und unterschiedlichsten Konfessionen. Weiter folgte der Ökumenische Rat der Kirchen (ÖRK) mit der Dekade zur Überwindung von Gewalt (2001 – 2010) einer mennonitischen Initiative und auch im gegenwärtigen Diskurs rund um eine missionale Theologie und Praxis werden täuferische Anliegen verstärkt aufgegriffen. Kurz: Kaum je zuvor wurden diese theologischen Überzeugungen an so unterschiedlichen Orten konstruktiv aufgegriffen und verarbeitet. Die Zeit scheint dafür reif zu sein.
Als Theologisches Seminar Bienenberg fördern wir diese Auseinandersetzung mit der Geschichte und Theologie des Täufertums und freuen uns daher über dieses Buch. Die Lektüre sei einerseits Mitgliedern täuferisch-mennonitischer Gemeinden empfohlen, die ihre Gemeinderealität mitunter eher als verstaubt und traditionalistisch empfinden. Nackter Glaube verweist sie in einer frischen Sprache auf die innovative und dynamische Kraft, die ihrer eigenen Tradition innewohnt und vermag hoffentlich die mancherorts unter der Asche glimmende Glut für ein mutiges Christsein in einer nachchristlichen Welt neu zu entfachen. Andererseits dürfen hier aber auch nicht-mennonitische Leserinnen und Leser inspirierende Gedanken erwarten, wie die folgenden Zeilen von Shane Claiborne zu diesem Buch deutlich machen: „In einer Welt, die sich der Leere des Materialismus und der Hässlichkeit des Militarismus zunehmend bewusst wird, beginnen die Täufer immer interessanter zu werden. Täuferische Logik wurzelt in der Weisheit vom Kreuz Jesu, die die Weisheit der Welt infrage stellt. Es scheint, die Welt ist bereit für eine neue täuferische Bewegung, und Nackter Glaube könnte der Funke sein, dieses Feuer zu entzünden.“
Unser aufrichtiger Dank geht an alle, die das Erscheinen des Buches in der Edition Bienenberg ermöglicht haben. Möge es dazu dienen, den Niedergang des Christentums nicht als Katastrophe, sondern als neue Chance für ein glaubwürdiges Christsein in dieser Welt zu verstehen.
Lukas Amstutz
Theologisches Seminar Bienenberg
KAPITEL 1
Das Täufertum – eine Bewegung, deren Zeit gekommen ist?
Wachsendes Interesse
„Die Täufer sind zurück!“, ließ ein amerikanischer Autor vor einigen Jahren in einem gleichnamigen Buch verlauten.1 Er war von dem wachsenden Interesse an der täuferisch-mennonitischen Tradition in Nordamerika fasziniert. Zwanzig Jahre später scheint sich überraschenderweise etwas Ähnliches in anderen Ländern zu ereignen, in denen die Täufer nur eine geringe oder gar keine Wirkungsgeschichte hatten. Christen aus verschiedenen Denominationen und Traditionen – Evangelikale, Liberale, Charismatiker, Protestanten, Katholiken und Pfingstler – sie alle beschäftigen sich intensiver mit der Täuferbewegung und viele unter ihnen greifen deren Vision auf. Dieses Buch versucht, das wachsende Interesse an einer Tradition zu erklären, die lange als unbedeutend, häretisch oder auch als beides abgelehnt wurde. Es bietet eine einfache Einführung in die täuferische Bewegung und es untersucht dessen gegenwärtige Bedeutung.
Ein schlüssiger Rahmen für meine Überzeugungen
Meine ersten Begegnungen mit der täuferischen Tradition hatte ich in den frühen 1980er-Jahren als junger Gemeindegründer im östlichen Teil von London. Ich lebte in einer der ärmsten städtischen Gemeinden in England und machte mich auf die Suche nach Ressourcen, die mir dabei helfen sollten, die Armut, Ungerechtigkeit, Entbehrung und die vielen unterschiedlichen Glaubensgemeinschaften in meiner Nachbarschaft zu verstehen und mich entsprechend zu engagieren. Und ich suchte nach neuen Perspektiven für die Jesusnachfolge, die Gemeinschaft, die Kirche und die Mission.
Ich las verschiedenste Bücher und fand heraus, dass einige der hilfreichsten von Mennoniten verfasst worden waren. Von diesen Leuten hatte ich noch nie gehört, aber ihre Werte fanden bei mir einen Widerhall und ich schätzte ihre Einsichten. Fasziniert verfolgte ich ihre Geschichte zurück bis in das 16. Jahrhundert und entdeckte dabei, dass sie Nachkommen der sogenannten Täufer waren. Ich erinnerte mich vage an Hinweise auf die Täufer in Büchern über die Kirchengeschichte (viele davon abwertend oder kritisch), aber ich wusste nur wenig darüber, wer sie waren oder was sie glaubten.
Je mehr ich aber über die Täuferbewegung las, desto mehr