Nackter Glaube. Stuart Murray
Überzeugungen. Für meine Sehnsucht nach authentischer Gemeinschaft und ganzheitlicher Nachfolge bot sie herausfordernde Beispiele und praktische Weisheit. Überzeugt von dem, was ich erst später als „viel-stimmige Gemeinde“ bezeichnen sollte, entdeckte ich im frühen Täufertum Gemeinschaften, die genau dies praktizierten. Und ich war aufgewachsen in einem kirchlichen Umfeld, in dem die Briefe des Neuen Testaments im Allgemeinen über die Evangelien gestellt wurden. Die täuferische Bewegung forderte mich heraus, stärker christozentrisch zu werden, und das Leben und die Lehre Jesu wesentlich ernster zu nehmen.
Vielleicht das Spannendste in meiner Situation als Gemeindegründer war jedoch, dass die Täufer leidenschaftliche Missionare waren. Sie lebten ihren Glauben auch gegen die herrschende Kultur konsequent aus. Und begeistert teilten sie ihre Glaubensüberzeugungen mit anderen. Viele von ihnen waren Gemeindegründer. War es wirklich möglich, beidem verpflichtet zu sein, dem Frieden und der Evangelisation, der Verkündigung und dem Streben nach Gerechtigkeit? Dieser ganzheitliche Missionsansatz überzeugte mich davon, dass ich, auch ohne mennonitisch aufgewachsen zu sein, doch ein überzeugter Täufer war.
Bald danach, in einer kleinen Arbeitsgruppe mit einigen anderen, die mein Interesse an den Täufern teilten, begann ich zu realisieren, wie viel diese alte Bewegung den Christen im Westen an der Schwelle zum Post-Christentum zu bieten hatte.
Wir sind Teil einer sich verändernden Kultur, in der alle Christen eher am Rand der Gesellschaft leben. Die an sich eher marginale missionarische Täuferbewegung schien uns ungewöhnlich gut dafür geeignet, folgendes zu klären. Mission muss das gängige Bemühen um die Aufrechterhaltung des kirchlichen Lebens ersetzen. Und was könnte es bedeuten, sich an dieser Mission zu beteiligen? In einer Welt, in der Jesus die Menschen immer noch fasziniert, die Kirche das aber nicht tut, ist der Jesus der Täuferbewegung eine kraftvolle Quelle für die Mission.
Netzwerke entstehen
Aus dieser kleinen Arbeitsgruppe entstand dann im Jahr 1991 das Anabaptist Network. Es dient Christen aus vielen Gemeinden und Denominationen in England, die über das Täufertum gestolpert waren und jetzt nach weiteren Ressourcen und Möglichkeiten suchten, gemeinsam zu lernen. In den letzten zwanzig Jahren sind täuferische Netzwerke auch in anderen Ländern aus dem Boden geschossen – Australien und Neuseeland, Südafrika, Korea, China, Kanada, den Vereinigten Staaten und – in allerjüngster Zeit – Skandinavien. In den meisten dieser Länder gab es historisch gesehen, nahezu keine Täufer, und die Mehrzahl derjenigen, die sich an diesen Netzwerken beteiligen, kommt nicht aus den historischen Denominationen der Täufer. Aber sie werden von der Vision der Täufer angezogen und hungern nach ihren Ressourcen.
Das ist ein überraschendes Phänomen und scheint sich immer mehr zu beschleunigen. So begannen sich manche von uns zu fragen, ob das Täufertum nach beinahe fünf Jahrhunderten der Marginalisierung und der nicht gerade geringen Feindseligkeit, eine Bewegung sein könnte, deren Zeit gekommen ist. Wer mit dem Täufertum nicht vertraut ist, findet in Kapitel 6 einen kurzen historischen Abriss von dessen Anfängen im 16. Jahrhundert bis in die heutige Zeit. Doch das Anliegen dieses Buches konzentriert sich vor allem auf die gegenwärtige Bedeutung der Tradition, die sich aus dieser Bewegung heraus entwickelt hat.
Grundüberzeugungen
Vor einigen Jahren stellten Mitglieder des Anabaptist Network in England und Irland sieben „core convictions“ (Grundüberzeugungen) zusammen. Sie sind unser Versuch, das Wesen der Täuferbewegung herauszudestillieren. Jede dieser Grundüberzeugungen drückt etwas von dem aus, was wir glauben und beschreibt dann die Konsequenz, zu der dieser Glaube führt. Diese Überzeugungen wurden bereits von einigen täuferischen Netzwerken in anderen Ländern übernommen. Wir hoffen, dass viele Leser sie ebenso inspirierend und herausfordernd empfinden wie wir. Bevor wir uns den einzelnen Grundüberzeugungen zuwenden, einige wichtige Vorbemerkungen:
Erstens: Diese Überzeugungen stellen einen Versuch dar, aus der täuferischen Tradition zu lernen und ihre Einsichten auf aktuelle Zeitfragen anzuwenden. Sie sind keine Update-Version historischer Täufer-Dokumente, und sie behandeln einige Themen, mit denen sich frühere Generationen nicht so intensiv beschäftigt haben.
Zweitens: Das Anabaptist Network ist eine vielfältige und verstreute Gemeinschaft, für die es keinerlei Mitgliedskriterien gibt. Wir bitten die Beteiligten nicht darum, die Grundüberzeugungen zu unterschreiben. Aber wer sich beteiligt, unterstützt sehr wahrscheinlich zumindest einige dieser Überzeugungen. Sie stellen jedoch keinen ideologischen Filter dar. Die Grundüberzeugungen bringen die Prioritäten, Anliegen und Verpflichtung derer zum Ausdruck, die dieses Netzwerk gegründet haben, und die in den letzten Jahren mitgeholfen haben, es zu formen.
Drittens: Es handelt sich hier um Überzeugungen, nicht um ein Glaubensbekenntnis. Die Täufer waren immer schon skeptisch gegenüber festgelegten Glaubensbekenntnissen, da diese den Eindruck erwecken, es bestünde keine Notwendigkeit mehr auf andere zu hören oder weiterhin mit der Schrift zu ringen. Glaubensbekenntnisse (Credos) befassen sich ausschließlich mit Glaubensinhalten, aber die Täufer sind genauso auch an praktischen Verhaltensweisen interessiert. Und nur allzu oft wurden Bekenntnisse dazu gebraucht, Abweichler zum Schweigen zu bringen, auszuschließen und zu verfolgen, anstatt anhand der Bekenntnisse weiter im Gespräch zu bleiben. Die Täufer haben dagegen Überzeugungen (confessions) formuliert – Aussagen, die nicht darauf angelegt waren, alles umfassend darzustellen, sondern eher charakteristische Glaubenserkenntnisse und Praktiken zu beschreiben. Sie alle sind provisorischer – also vorläufiger – Natur, und offen für Revisionen im Licht neuer Einsichten.
Viertens: Die Verpflichtungen, die in diesen Grundüberzeugungen ausgedrückt werden, sind eher als Ziele zu verstehen und weniger als Errungenschaften. Schon die erste macht deutlich, dass Täufer die Jüngerschaft als „Nachfolge“ interpretieren. Sie sind damit sehr zurückhaltend zu behaupten, sie wären schon „fertig“. Glaubensüberzeugungen brauchen immer ein „und jetzt?“.
Mit diesen Hinweisen im Hinterkopf, folgen jetzt die sieben Grundüberzeugungen (core convictions).
1
Jesus ist unser Vorbild, Lehrer, Freund, Erlöser und Herr. Er ist die Quelle unseres Lebens, der zentrale Bezugspunkt für unseren Glauben und unseren Lebensstil, für unser Verständnis von Kirche und für unser Engagement in der Gesellschaft. Wir sind entschlossen, Jesus nachzufolgen und anzubeten.
2
Jesus ist der Dreh- und Angelpunkt der Offenbarung Gottes. Wir sind einem Jesuszentrierten Zugang zur Bibel verpflichtet. Zugleich ist die Gemeinschaft der Glaubenden unser primärer Kontext, in dem wir die Bibel lesen und über die Konsequenzen für unsere Nachfolge entscheiden.
3
Die westliche Kultur entwächst allmählich einer vom Christentum dominierten Ära, in der Kirche und Staat gemeinsam die Gesellschaft leiteten und die nahezu jeden Menschen als Christ verstand. Ungeachtet seiner positiven Beiträge im Blick auf Werte und Institutionen, hat dieses Christentum das Evangelium verzerrt. Es marginalisierte Jesus und hinterlässt die Kirchen schlecht ausgerüstet für die Mission in einer nachchristlichen Welt. Bewegungen wie die der Täufer haben diese Art Christentum zurückgewiesen und nach alternativen Denkansätzen und Verhaltensweisen gesucht. Unsere Reflexion darüber bewegt uns, von deren Erfahrungen und Perspektiven zu lernen.
4
Die häufige Verbindung der Kirche mit Status, Reichtum und Macht ist der Nachfolge Jesu unangemessen und schadet unserem Zeugnis. Wir verpflichten uns, nach Wegen zu suchen, die für die Armen, Machtlosen und Verfolgten gute Nachricht sind. Wir sind uns bewusst, dass diese Art der Nachfolge Widerspruch auslösen und zum Leiden führen kann, ja manchmal sogar im Martyrium enden könnte.
5
Gemeinden sind dazu berufen, verbindliche Gemeinschaften der Nachfolge und Mission zu sein, Orte der Freundschaft, der gegenseitigen Verantwortlichkeit und eines vielstimmigen Gottesdienstes.