Die Kunst der Bestimmung. Christine Wunnicke

Die Kunst der Bestimmung - Christine Wunnicke


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zu Tal, das Gefangene ging frei davon und musste nicht mehr drücken. Lucy legte den Kopf schief und sah seinem Blut zu, wie es in die Küvette floss, gleichmäßig und friedlich und ohne einen Laut. Er wurde matt und weich. Der Druck schwand, und die Träume der Nacht und der Wunsch nach der schwarzen Pest. Er ließ sich gründlich zur Ader. Bald fielen seine Augen zu. Er sah Sir Lancelot reiten, er sah grüne Wiesen, er hörte den Schweden, Lucy, du bist ein gutes Kind, und dann sah er den Schweden, seine Hände so freundlich in Lucys Haar, und er hörte ihn wiederum reden, du hast einen Wirrkopf, mein Kind, und abermals, ganz leise, Missgeburt, Wechselbalg, Monstrum, und all dies waren nur Kosenamen, wenn das Blut so tröstlich floss, und Sir Lancelot ritt, eine Dame vor sich im Sattel, Ihr entflammt mein Herz, schöne Lady, sagte Sir Lancelot und ritt über die Wiesen von Cheshire.

      Irgendwann griff Lucy traumverloren in seine Wunde und drückte die Ader ab. Dann nahm er den linken Strumpf und verband sich. Einen Augenblick gab er sich noch, still in die Ecke geschmiegt; dann zog er das Hemd an und den rechten Strumpf aus, nahm den Dolch und stand auf. Ihm wurde schwarz vor Augen. Er hielt sich an der Wand. Der Dolch war blutig, er wischte ihn ab, er wollte ihn behalten.

      «In guardia», flüsterte Lucy. Lord Fearnall begann seinen Tag und schrie aus vollem Hals nach seinen Dienern.

      Lucius Lawes trank eine Tasse Schokolade und ein Glas Brandy, dann legte er sein Muttergottesamulett um, schwärzte seine Brauen mit Kohle, wählte eine dunkle Perücke und einen altmodischen schwarzen Rock von annähernd spanischer Machart und fuhr, wie jeden Sonntag, mit der Mietkutsche zur katholischen Messe.

      Erst vor kurzem, als in London die Rede ging, die Jesuiten wollten dem König ans Leben, war Lord Fearnall heimlich konvertiert. Nun war er Papist und schloss in der Kutsche eigenhändig die Fensterläden, wie es sich schickte für eine solche Reise. Sein Ziel lag in Southwark, jenseits der Themse. Dort sah es aus, als wüte noch immer die Pest. Es gab genügend katholische Messen in London, aber keine schätzte Lucius so wie diese. Sie erinnerte ihn an das Schafott, das die Whigs wohl in Kürze für die Papisten aufrichten würden, einen riesigen Galgen mitten im Tower, wo die Verurteilten störrisch das Sanctus sängen, bis ihnen der Strick den Atem nahm. Lucius mochte diese Vorstellung und schmückte sie immer weiter aus. Damit vertrieb er sich die Zeit, wenn er im spanischen Wams nach Southwark fuhr, die silberne Schmerzensmutter kühl auf der bloßen Haut.

      Bis zur London Bridge träumte er vom Martertod. Über dem Wasser verblasste dieses Bild. Am Südufer stimmte er sich ein auf die Pracht des Christe eleison, während der Kutscher, wie geheißen, die düstersten Gassen nahm. Als Lucius schließlich ausstieg, war er heilig und kalt und verworfen wie das ewige Rom und der Papst höchstselbst, der die Frevler ins Feuer stößt wie einst Kaiser Nero die Christen.

      Die Katholiken von Southwark trafen sich in einem Hinterhaus, grimmige Menschen, die in einer klammen Kapelle einem irischen Priester lauschten, der auf Lateinisch lamentierte. Lucius hieß Don Hieronimo in diesem Kreis. Niemand glaubte es ihm, aber man schätzte seinen Beitrag zur Kollekte. Don Hieronimo nahm Weihwasser. Er küsste seine Fingerspitzen und schlug einige vertrackte Kreuze, wie dies die Sitte war in seiner spanischen Heimat. Asperges me, Domine, hyssopo, et mundabor. Ein Zauberspruch.

      Lucius’ Latein war nicht das beste. Er zählte die Bekreuzungen des Priesters. Zweiundfünfzig würden es sein, bis die Messe vorüber war, wenn er nichts versäumte. Lucius fiel auf die Knie und verharrte so, als Einziger. Et clamor meus ad te veniat, Domine. Don Hieronimo verbarg das Gesicht in den Händen und vergoss ein paar Tränen, vielleicht für seine untreue Frau in Kastilien, die er eigenhändig erstochen hatte, vielleicht für seine Brüder und Vettern, die am fernen Amazonas den Pfeilen der Wilden erlagen, vielleicht auch für einen verbläuten Professor und die vielen Sünden des Lucius Lawes. Er tupfte vorsichtig seine Augen, um den Kohlestift nicht zu verschmieren, dann blickte er auf und wartete auf die Wandlung.

      Seit er den Katholiken von Southwark eine Dose Weihrauch geschenkt hatte, beglückte ihn das Opfer besonders. Während der Priester Wasser und Wein vermischte, mischte Lucius Spanien mit dem Rom der Alten. Bald sah er sich im Morgennebel auf dem Kapitol der Venus Genetrix opfern, Lucius Sulla in jungen Jahren, als er noch wild war und sittenlos, mit blauen Augen und so vielen Sommersprossen, dass die Spötter den Vers auf ihn machten, «Sulla ist gesprenkelt gleich einer mehlbestäubten Maulbeere», wie Plutarch erzählt. Sic fiat sacrificium nostrum, sagte der Priester zu Gott und Lucius zur schaumgeborenen Venus, und er opferte ihr, statt der Hostie, einen Granatapfel und eine Taube und bat um Glück in der Liebe, mit der Dame Nicopolis und dem Knaben Metrobius, die ihm beide gewogen waren; denn auch dies verschwieg Plutarch nicht. Erst beim Sanctus verblasste das Kapitol. Lucius rückte seine Toga zurecht und sprach ein stilles Gebet für Gott den Allmächtigen. Er bat um Vergebung. Gott vergab ihm. Ich schuf dich mit schwärmendem Geist, sprach Gott, sei ohne Sorge, Lucy mein Sohn. Lord Fearnall verbeugte sich tief vor dem Altar. Dann verließ er eilig die Kapelle und sprang in die Kutsche, denn sein Zeitplan war, wie immer, äußerst gedrängt.

      Als er nach Hause kam, warteten schon zwei Diener darauf, ihn umzukleiden. Die Hoftracht war steif und schwer. Lucius stand wie eine Puppe, die Beine gespreizt, die Arme ausgestreckt, dass man auch alles recht in Form bringen konnte. Er trug Pfirsich und Ocker an diesem Sonntag und venetianerrote Borten, die Spitzen in Creme, Bänder und Rosetten schwarz wie die Nacht, dazu die braune Perücke, den hübschen Degen, der nichts taugte, und den Hut mit den blassgelben Flaumfedern eines Riesenvogels aus Übersee. Don Hieronimos Augenbrauen wurden abgewischt. Lucius trank ein Glas Brandy, ließ sich die Wangen pudern, dann stieg er in die Schuhe und in seine eigene Kutsche, vierspännig, mit Glasfenstern, schwarz wie ein Leichenwagen. Er saß gebückt bis Whitehall, um die Federn auf seinem Hut nicht zu stauchen.

      Lord Fearnall wartete dem König in dessen privaten Gemächern auf. Er teilte dieses Amt mit mehreren Dutzend Damen und Herren. «Nun, Lucius?», fragte der König. Lucius verneigte sich. Er stand in der Gunst des Königs dank Vaters Heldentaten. Einst war Vater ein einfacher Soldat gewesen. Dann wurde er General. Er schlug die Feinde der Krone aufs Haupt, Schotten, Rundköpfe, Holländer und was sich sonst noch tummelte an bösartigem Gesindel. So wurde George Lawes der erste Earl of Fearnall. Dann starb er. So wurde Lucius der zweite Earl, fünfzehnjährig, wortkarg, der beste Fechter von Cheshire. Der König hatte George Lawes’ drei Waisen damals nach Whitehall geholt, um die Töchter alles und den Sohn noch etwas anderes als den Umgang mit dem Rapier zu lehren, und seit dieser Zeit betrachtete er Lucius, der nun volljährig war und Mitglied des House of Lords, stets mit freundlichem Interesse.

      Lucius erhob sich geschmeidig aus der Reverenz. Er wartete, welches Spiel Charles II. befehlen würde. Manchmal wollte er, dass Lucius den Prüfling spielte: ob die Erziehung in Whitehall auch schöne Früchte trug. Manchmal wünschte er Unterhaltung, ernste, schlüpfrige, alberne, chemische, je nach Laune und Augenblick. Zuweilen wollte er Lucius als Knaben sehen. Zuweilen als Gentleman. Zuweilen als jungen Politiker, der stets die richtigen Dinge sagt. Mitunter durfte Lucius auch den Narren spielen, fahrig, geniert und niemals nüchtern, der seine Beine verhaspelt bei der banalsten Courante und nach der Duchess of Cleveland seufzt, als sei sie eine ehrbare Frau.

      Lucius Lawes stand in seinen Kleidern wie in den Kulissen eines Theaters und wartete, dass ihm der König das Textbuch reiche für seinen Auftritt. Doch der König wollte heute nicht spielen mit dem Earl of Fearnall. Er wiederholte, «nun, Lucius?», dann besprach er sich mit dem Duke of Lauderdale über schottische Angelegenheiten. Der Duke of Lauderdale hatte eine lange Oberlippe, die oft zwischen die Zähne geriet. Die Zähne waren grau, die lange Lippe beim Sprechen voll Schaum. Der Duke of Lauderdale war der Diktator von Schottland und auch sonst ein Herr von Gewicht. Lucius verneigte sich wieder, im Stil des Soldaten nun, seine Absätze klackten.

      Er folgte dem Hof in die Kapelle. Längst spürte er wieder den Druck im Inneren. Längst wünschte er sich wieder Brandy. Er sah die Schwestern, Barbara und Maudlin, beide im Gefolge der Duchess of York. Vielleicht würden sie mit Lucy spielen. Vielleicht würden sie «Kleiner Bruder in Nöten» mit ihm spielen. Aber sie waren zu weit entfernt und Lucius hatte nicht die Kraft, sich durch die Menge zu drängen. Man las Jesaja zum Morgengebet. Höret des Herrn Wort, ihr Fürsten von Sodom. Wie geht das zu, dass die fromme Stadt zur Hure wurde? Es gab keinen Weihrauch. Es gab kein Latein. Es gab weder Spanien


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