Die Kunst der Bestimmung. Christine Wunnicke
einen Traum.
«Es ist nicht gut hier», sagte sie leise. «Ich komme mit Euch. Nicht jetzt. Ich lass Euch fort, und dann komme ich in Euer Haus, wann Ihr wollt, wann Ihr befehlt. Ich will auch schweigen. Ich will auch tun, was die Huren tun. Ich will auch bei Euch bleiben, wenn Euch das gefällt. Es ist nicht gut hier. Glaubt mir, lieber Herr. Geht jetzt fort. Dann ruft mich. Dann komm ich.»
Chrysander schwieg. Auch er war aufgestanden. Er stand nahe vor Lucy. Sie neigte höflich den Kopf, um ihren Gast nicht allzu sehr zu überragen. Chrysander spürte ihren Atem und roch ihre Haut.
Simon Chrysander besuchte Bordelle seit bald zwei Jahrzehnten. Er hatte die Mädchen von Svartbäcken bezahlt, junge Dinger mit eckigen Hüften, auch Weiber jenseits der Blüte, deren dienstfertige Haut schon abgenutzt war, und auch zuweilen eine verirrte Schöne, deren Bild ihm im Kopf blieb für eine oder anderthalb Stunden. Er hatte Mädchen von der Straße bezahlt und die Ware im Hausgang genommen, auch die Töchter der Lappen kannte er, die sich nicht hinlegen mochten, weil sie sagten, so täte man es nur mit dem Liebsten. Seit zwanzig Jahren kannte Simon Chrysander die schlichte Formel der Hurerei, und nie war es ihm eingefallen, ein Mädchen zu sich zu nehmen, und sei es auch nur für einen einzigen Tag.
«Wollt Ihr, guter Herr?», fragte Lucy.
Chrysander wandte sich ab. Er ging zum Fenster. Er studierte den stockfleckigen Stich aus dem Aretin. Er konnte die Worte nicht sagen, nein, mein Kind, du bist nicht bei Sinnen. Chrysander schwieg und starrte auf das Bett, das zu kurz schien für Lucys langen Körper.
«Geht fort», sagte Lucy. Sie hatte sich angeschlichen. «Geht fort, lieber Herr. Es ist nicht gut. Wenn Ihr bleibt ...»
Chrysander drehte sich um. Lucy war tief errötet.
«Wenn Ihr bleibt, entflammt Ihr ganz mein Herz, so sagt man doch in den Romanen?»
Chrysander wich zurück. Er floh zu dem Stuhl und hielt sich an dessen Lehne.
«Sagt man so?», fragte Lucy. «Sagen dies die Ritter zu ihren Damen?»
«Schweig still», sagte Chrysander mühsam. «Ich habe für dich bezahlt.»
«Ihr wollt nicht fort?»
«Nein», sagte Chrysander.
«Geht», sagte Lucy.
«Nein», wiederholte Chrysander.
«So bleibt denn.» Lucy seufzte. «Und ich will unschuldig sein an allem.»
Chrysander setzte sich. Man würde das Geschäft nun abwickeln. Alles wäre dann an seinem Platz. Nichts wäre geschehen, mit Lucy, mit Chrysander, wenn sie miteinander handelten, wie es der Sitte entsprach.
«Komm», bat Chrysander, «komm her.»
Lucy kam folgsam näher. Auf halbem Weg blieb sie stehen und kratzte ihre linke Wade mit der Spitze des rechten Pantoffels.
«Ihr habt nicht viel Zeit? Ihr wollt Euch schnell erfreuen, und dann fort, und wieder ordnen, nicht wahr?»
Chrysander nickte dankbar.
«Ich bin Jungfrau», sagte Lucy. «Hat Euch Mutter Bushell unterrichtet?»
Chrysander schüttelte den Kopf.
«Sie ist tölpisch. Alles überlässt sie den Mädchen. Aber sorgt Euch nicht. Ich bin geschickt. Ich will knien und von der Pumpe trinken.»
«Nein!», rief Chrysander.
«Doch wohl! Hab ich’s nicht schön gesagt?»
Lucy schürzte ihre Röcke und ging vor Chrysander in die Knie. Sie strich über seine Schenkel. Sie öffneten sich fügsam. Chrysander legte eine Hand in Lucys Nacken, fand den Weg unter die Haare, fand ihren Hals. Lucy schauderte, denn Chrysanders Hand war kalt. Sie nahm die zweite und wärmte sie zwischen den ihren. Dann rückte sie näher, schlug seinen Rock zurück und öffnete langsam die unteren Knöpfe der Weste. Sie fand seinen Hosenlatz. Sie öffnete auch diesen.
«Das ist ungezogen», sagte Lucy, «Ihr werdet es mögen.»
Das Ding befreite sich selbst. Es lauerte schon länger. Lucy lächelte, als sei es hübsch anzusehen. Sie schloss drei Finger darum, behutsam und linkisch. Chrysander atmete auf. Dieses Bild war bekannt. Die dienstwillige Hand der Hure, das blödsinnig entzückte Ding. Die Hure beugte sich vor, einige rote Strähnen fielen ihr übers Gesicht.
«Möchte der Herr mein Haar bitte halten, bis die Pumpe Wasser gibt?»
Mit beiden Händen fasste Chrysander die Strähnen zusammen. Die Hure befeuchtete gewissenhaft ihre geschminkten Lippen. Sie holte tief Luft, als wolle sie tauchen, und sie lächelte dabei noch immer. «Lucy», sagte Chrysander. Er kannte seine Stimme nicht. Lucy neigte den Kopf. Dann zerbarst die Bretterwand, die den Raum vom nächsten trennte.
Chrysander fuhr zurück. Fast wäre er vom Stuhl gefallen. Lucy setzte sich auf die Fersen und drehte sich langsam um. Krach und Geschrei. Die jungen Stutzer aus dem Salon, zwei brachen durch den Verschlag, der dritte riss die Tür auf, sie johlten und lachten, ein Wirbel aus Haaren und Spitze. Auf der Treppe zeterte die Wirtin. Unten kreischten die Mädchen. Der Saphirblaue hatte Chrysander entwaffnet, bevor er sich überhaupt an seinen Dolch erinnerte. Er stieß Chrysander aufs Bett. Der in Maron gab ihm eine Kopfnuss. Der Saphirblaue schrie, «bei allen Teufeln, Herr Jesuit, sie wähnten sich wohl im heiligen Rom!» Chrysander fand keine Worte. Er wollte aufstehen, der Maronbraune stieß ihn zurück. Lucy saß noch immer auf dem Boden, die Röcke hochgerutscht, das Haar im Gesicht, die Miene schläfrig und leer. «Aufwachen, Mylady», rief der Mann in Lavendel. Lucy hob langsam den Kopf. Der Lavendelfarbene griff ihre Hand und zog sie auf die Füße. Er trug Kleider über dem Arm, eine lange Perücke, schweren goldenen Stoff. Chrysander sprang auf. Der Saphirblaue zog den Degen und hielt die Spitze unter sein Kinn. So stand Chrysander, schwankend, den Bettkasten in den Kniekehlen, halb aufrecht, halb sitzend, und sah zu, was mit Lucy geschah.
Zaghaft, mit unbestimmter Miene, zupfte sie an Stoff und Haar auf dem Arm des Lavendelfarbenen. Sie bekam einen Ärmel zu fassen, zog daran, es war ein Hemd, Lucy sah es an, es gefiel ihr nicht, sie ließ es fallen. Der Lavendelfarbene grinste und hielt artig die Garderobe, als sei er ihr Kammerdiener. Lucy befreite den Goldstoff aus dem Wust. Ein Gehrock, schwer brokatiert, eng an eng bedeckt mit Steinen und Perlen. Lucy zog ihn ungeschickt über. Er passte. Sie strich zweifelnd über die Hügel und Täler der glänzenden Stickerei.
Allmählich erwachte sie. Ihr Gesicht veränderte sich. Die Augen wurden schmäler, der Mund breiter, sie versuchte zu lachen, es misslang. «Prost», murmelte Lucy. Der Maronbraune trug eine Weinflasche. Lucy fingerte eine Weile am Korken, dann schlug sie den Hals an der Stuhllehne ab und trank. Der Wein lief ihr übers Kinn.
«Auf Leviticus 20», schrie der Lavendelfarbene, «wer beim Tiere schläft und beim Knaben, dem faule der Sack ab, spricht der Herr, par bonheur!»
Lucy fasste ihr Haar zusammen und drehte einen Knoten, dann nahm sie die Perücke, beugte sich vornüber, ein Griff in die Stirn, ein Griff in den Nacken, sie richtete sich auf und warf die Locken zurück. Sie fielen in Form. Braunes Haar à la mode, kostbar geölt und gekräuselt. Lucy straffte die Schultern. Ein schmaler Junge in fürstlichem Brokat, groß, sehr blass, voller Sommersprossen. «Ihr Wohl, Mylord», rief der Herr in Maron. «Was nun?», fragte der Lavendelfarbene. «Wein!», plärrte der Saphirblaue, der nicht an die Flasche kam, da er Chrysander vor dem Degen hatte. Man gab ihm den Wein. Er trank. Dann schrie er «vive la sodomie», und kippte Chrysander einen guten Schluck ins Gesicht.
Lucys fadenscheinige gelbe Pantoffeln. Das Kleidchen, ein wenig zu klein, schlichtes Leinentuch unter dem Goldstoff. Chrysander blinzelte. Er saß wieder auf dem Bett. Bin ich schwer zu bestimmen.? Oh nein, es ist einfach. Der Wein brannte in Chrysanders Augen.
«Lasst sein», sagte Lucy, «lasst ihn sein, lasst ihn gehen.»
Die Herren lachten. Lucy hielt ein Paar Hosen und Strümpfe in den Händen, drehte und knautschte sie ratlos. Er sah aus, als wolle er weinen. Er machte einen Schritt zum Bett und hielt inne.
«Ich