Die Kunst der Bestimmung. Christine Wunnicke

Die Kunst der Bestimmung - Christine Wunnicke


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wir wieder bei Mutter Bushell einkehren, Sie mit erlogenem Kleinod und wir mit wahrhaftigen Fäusten!»

      Lucius drehte langsam den Kopf. Der Sohn des Lord Stretton, wie meist in Maron.

      «Allzeit à votre service!» Der Sohn des Lord Stretton lachte.

      Lucius stand auf. Er schlich durch die ganze Kirche, auf Zehenspitzen, damit seine Absätze keinen Lärm machten. Leute blickten sich um. Eine Missgeburt. Ein Monstrum. Verflucht sollst du sein. Lucius verließ die Kapelle. Er folgte dem Flur, den Zimmerfluchten, passierte Diener, Wachen und den Lord Chamberlain, eine unruhige Dame ohne Geleit und einen verirrten Menschen mit sechs Otterhunden. Dann trat er ins Freie. Er suchte seinen Diener und fand ihn nicht, er fand seine Kutsche, nicht den Kutscher. Lucius verspürte das dringende Bedürfnis, sich auszuziehen. Er musste fest die Arme kreuzen, um sich daran zu hindern. Endlich kamen seine Leute zurück. Lucius befahl die Heimfahrt.

      Er ertrug das Schweigen nicht. Er wollte auch nicht nach Hause. Mitten auf der Pall Mall ließ er halten und stieg aus. Er blickte die Männer an, den Diener auf dem Tritt, den Kutscher auf dem Bock, er kannte sie gut, er wusste nicht, wie sie hießen. Vielleicht hieß der Kutscher John.

      «John?», fragte Lucius.

      «Jawohl, Mylord?»

      «Heißt du John?»

      «Nein, Mylord.»

      «Pardon», sagte Lucius. «Ich möchte trotzdem bei dir sitzen.»

      Ein verblüffter Blick, aber der Kutscher rückte zur Seite. Lucius kletterte auf den Bock. Er saß unbequem auf seinen steifen Rockschößen.

      «Fahr nach Smithfield», sagte Lucius, «und wieder zurück.»

      Der Kutscher, der nicht John hieß, trieb die Pferde an. Der Nebel machte sich an Lucius’ Haar zu schaffen und an den Federn auf seinem Hut. Lucius wischte die Feuchtigkeit von seinen Wangen. Er wollte nicht nach Smithfield und auch nicht wieder zurück.

      «Vor einigen Jahren», sagte Lucius, «war im Hatton Garden ein Mann, der das Paradies ausstellte. Hast du das gesehen?»

      «Zu Diensten, Mylord.» Der Kutscher räusperte sich. Er gab keine Antwort auf Lucius’ Frage.

      «Das Paradies», fuhr Lucius fort, «war ein Pavillon, ein Zelt, grüne Leinwand. Der Eintritt kostete fünfzehn Penny. Tiere, Vögel, Pflanzen und Gestein, alles war auf Holz oder Stoff gemalt und dann ausgesägt oder aufgespannt, jedes Tier, wie es stand oder lief oder kroch oder lag, und jeder Vogel, wie er saß oder flog, und dazwischen Bäume und Büsche und Felsbrocken, auf denen wiederum Tiere standen oder saßen, Affen zum Beispiel, ich erinnere mich an die Affen, sie waren lustig. Ich war damals noch ein Knabe, die Schwestern führten mich hin. Der Besitzer des Paradieses ging darinnen umher und sagte Gedichte zu jedem Tier und jeder Pflanze und wie sie miteinander lebten und wie sie fruchtbar waren und sich mehrten, und wie Gott sah, dass es gut war etcetera, alles in Reimen. Dann ahmte er die Rufe der Tiere nach, wie die Vögel singen und die Affen schreien, und dann ahmte er das Geräusch der Blätter im Wind nach und sogar das Trippeln der kleinen Füße der Eidechsen auf dem Fels. Es war nur ein einziger Mann. Er konnte das alles zur selben Zeit. Sicherlich hatte er auch die Figuren gemalt und gesägt und geschnitten und hingestellt. Das Zelt platzte schier aus den Nähten. Es war ein großes Durcheinander im Paradies. Maudlin spottete darüber, und der Mann sagte ein Gedicht auf sie, das ging ungefähr so: Die Dame spare das Geplärr / zusammen reimt sich’s Gott der Herr. Maudlin war beleidigt und wir mussten gehen. In der Woche darauf war das Paradies verschwunden. Übrig blieb nur ein runder Fleck auf dem Rasen. Ich erinnere mich an die Affen. Sie waren lustig.»

      «Hat Mylord in Smithfield Geschäfte?», fragte der Kutscher.

      «Wenn du an das Paradies denkst: Glaubst du, es ist vollgestopft mit Tieren und ohne Sinn und Verstand?», fragte Lucius.

      «Möchte Mylord in Smithfield halten oder gleich umkehren, wie befohlen?»

      «Umkehren. Denkst du von Zeit zu Zeit an das Paradies?»

      Der Kutscher wendete am Marktplatz.

      «Gibst du mir bitte eine Antwort?», sagte Lucius.

      Der Kutscher zog erschrocken den Kopf ein. «Ich denke, wenn belieben, nicht ans Paradies, Euer Ehren.»

      «Und wenn du daran dächtest: Wie dächtest du es dir? Geordnet?»

      «Zu Diensten, Euer Ehren, ich weiß nicht.»

      «Ich glaube, es ist ohne Sinn und Verstand», sagte Lucius, «und grün, und durcheinander, und voller Tiere und Vögel und Pflanzen und Gestein. Und besonders voller Affen. Das glaube ich. Du hast etwas versäumt im Hatton Garden.»

      «Wie Mylord befiehlt», murmelte der Kutscher.

      Lucius ließ halten. Er stieg vom Bock und in die Chaise. Wieder einmal versuchte er zu verschwinden und wieder einmal gelang es ihm nicht, sich auch nur eines einzigen Zolls seiner sperrigen Person zu entledigen.

      Zu Hause schickte Lord Fearnall nach einem Arzt. Als er kam, empfing er ihn nicht. Er schrie nach dem Mittagessen, nach dem Hausmantel, nach Briefpapier, Brandy und der Badewanne. Alles bekam er und nichts wollte er haben. Lucius schrie nach seinem Papagei. Man brachte ihn ins Zimmer. Der Papagei hörte auf den Namen Lauderdale, wegen seiner blassen Augen und der Form des leicht vermorschten Schnabels. Lucius schickte die Diener fort. Lauderdale kratzte sich.

      «Ich will wissen», sagte Lucius, «wie er heißt.»

      Lauderdale biss in seine Stange, den Kopf zwischen den Füßen.

      «Gibt es einen schwedischen Gesandten in London?»

      Lauderdale versuchte einen Überschlag und verhedderte sich in seiner Kette.

      «Ich versprach, ich besuche ihn. Ich möchte ihn noch immer besuchen. Ich kann ihn gut leiden. Ich möchte sehen, was er tut. Und warum. Ich möchte ...»

      «Rää», sagte Lauderdale.

      «Ich möchte», begann Lucius wieder, «ich möchte, zum Teufel, ich will ...»

      «Rää», wiederholte Lauderdale. Er kniff die Augen zu.

      «Er sagte, ich sei leicht zu bestimmen.»

      Lauderdale lachte.

      «Dann sagte er, ich sei eine Missgeburt. Er ist ein Scheusal. Ich mag ihn nicht. Ich will wissen, wo er wohnt. Ich will ihn besuchen. Ich werde etwas finden, um es anzuziehen. Er wird verstehen, dass ich nicht stets die femme de plaisir sein kann, er wird mich auch anders empfangen.»

      Lauderdale lachte heiser. Lucius trat gegen den Pfosten, der seine Stange hielt. Lauderdale hustete und klammerte sich fest.

      «Gibt es eine Behörde», fragte Lucius, «in der man die Ankunft von Fremden notiert? Gibt es ein Amt für Schweden? Er ist Professor. Wer ist unterrichtet über Professoren aus Schweden?»

      «Rää! Rää!», rief Lauderdale.

      Lucius lächelte. Er kraulte Lauderdales Bauch.

      «Danke. Die Royal Society. Das ist eine gute Idee.»

      Da Mr. Hooke ausgegangen war, holte Lucius’ Diener kurzerhand Josiah Blane. Er saß in der schwarzen Kutsche, bevor er wusste, wie ihm geschah, ohne Anhaltspunkt, ohne Hut und in den Schuhen fürs Haus. Josiah versuchte sich geehrt zu fühlen. Stattdessen fürchtete er nur um sein Augenlicht.

      Josiah kannte den jungen Earl. Er hatte ihn oft schon gezeichnet. Wenn er teilnahm an einer Sitzung der Royal Society – er war Mitglied ehrenhalber, wie alle Herren von Stand –, gab es meist wenig zu protokollieren. Niemand begriff seine Experimente. Sie waren laut und feurig und nicht geeignet für geschlossene Räume. Niemand wagte, den Earl in den Hof zu schicken, da er hoch in der Gunst des Königs stand. So führte er denn im Sitzungssaal vor, was gewisse Substanzen vermochten, wenn man sie mit Schwung zusammengab. Sie vermochten Erstaunliches. Sie schwärzten die Hände des Earls, den Tisch und oft auch die Decke. Zuweilen ließ sich eine Detonation nicht gut an. Dann half Lord Fearnall


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