Frau ohne Welt. Teil 3: Der Krieg gegen die Zukunft. Bernhard Lassahn

Frau ohne Welt. Teil 3: Der Krieg gegen die Zukunft - Bernhard Lassahn


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flüchtigen Begegnung liegt, bei der ihr Geliebter sie so sehen kann wie sonst niemand.

      Zwischen der verzweifelten Nacktheit von Wally und der von den Modellen auf einem Peep-Show-Karussell, die nur noch in ein Gewand aus Popmusik gehüllt sind, liegt mehr als ein Jahrhundert. Die neue Nacktheit hatte keine Bedeutung mehr – einen Preis, aber keinen Wert. Sie war aller Zusammenhänge entkleidet. Es fehlte nicht nur die Wäsche und die Unterwäsche, es fehlte die Möglichkeit einer Beziehung, einer Verbindung, einer Sinnstiftung. Sie hatte keine Aussage mehr, kein Versprechen, keine Tragik, sie hatte nicht einmal einen Kunstwert. Sie war Betrug. Eine Bettelei um Kleingeld: Haste mal ne Mark?

      Eines der charakteristischen Modeworte der frühen siebziger Jahre, als es noch keine Bio-Läden – nur Reformhäuser – gab, war ein inflationär gebrauchtes Füllsel, mit dem das grün-alternative Lebensgefühl eingeläutet wurde: das lässige »echt«, das schnell zu seiner eigenen Parodie wurde. Zigarettenwerbung war noch selbstverständlich, da hieß es: »Für das Echte gibt es keinen Ersatz«. Es sollte echt sein. Unverfälscht. Ohne Zusatzstoffe. Die Beschwörung des Echten ging dem Gütesigel »Bio« voraus, das sich wenig später durchsetzen sollte.

      Nackte Tatsachen gelten als wahr. Sandro Botticelli stellte sie um 1490 allegorisch dar: Wir sehen auf seinem Gemälde Die Verleumdung des Appelles eine nackte Frau, die mit einer Hand lässig ihre Scham bedeckt und die andere hochhält und mit ausgestrecktem Finger in den Himmel zeigt, als würde sie einen Schwur leisten. So wurde seinerzeit die »nackte Wahrheit« gesehen und auch verstanden. Sie war nicht nur unbekleidet, was bedeuten sollte, dass sie nichts zu verbergen hatte, sie verwies auch auf etwas Höheres, sie stand nicht für sich allein. Dagegen symbolisierte ein Modell in einer Peep-Show die »nackte Unwahrheit«. Wenn sich heute Femen, nackte Demonstranten von Extinction Rebellion, barbusige Radlerinnen, die für bessere Verkehrswege in die Pedale treten oder Teilnehmerinnen auf Schlampen-Paraden Sprüche auf die nackte Haut malen, dann vermittelt sie damit stets eine zusätzliche Botschaft. Auf der nackten Haut von solchen Frauen steht mit unsichtbarer Schrift geschrieben: Wer hier hinguckt, ist ein Sexist und hat sich mit seinem Blick bereits strafbar gemacht.

      Wie echt sind Pornofilme? Wie wahr? Gerade bei den billigen Streifen, bei denen es keinerlei Drumherum gibt, kann man nicht sagen, dass die Darsteller einem etwas vorgaukeln. Die Darsteller geben nicht bloß vor, den Geschlechtsakt zu vollziehen – sie tun es wirklich. Trotzdem ist es nicht echt. Sie sind auch keine Darsteller im herkömmlichen Sinne, sie stellen etwas dar, indem sie es tatsächlich tun. Deshalb stellt sich auch die Frage nicht, ob sie gute, mittelmäßige oder schlechte Schauspieler sind. Sie sind gar keine. Im dekadenten Rom gab es Aufführungen, bei denen auf der Bühne jemand umgebracht wurde (die Rolle musste jedes Mal neu besetzt werden), so dass der bedauernswerte Sklave, der die Rolle zugewiesen kriegte, einen »nur gespielten«, aber zugleich »echten« Tod starb. Wie bei Pornofilmen: Sie »spielen« einerseits »nur«, sie »tun« es andererseits »wirklich«, sie begehen einen nur gespielten und gleichzeitig echten Verrat – an wem auch immer (Sie werden schon im stillen Kämmerlein ihres Gemüts wissen, an wem). Sie teilen intime Momente nicht mit Menschen, die ihnen lieb sind, sie tun es demonstrativ für ein anonymes Publikum, das ihnen gleichgültig ist oder das sie sogar verachten. Sie praktizieren ein Liebesspiel, das nicht zur Liebe führen soll, sondern für ein Publikum gedacht ist, das ausgeschlossen ist von richtiger Liebe und auch von einem Liebesspiel.

      Das Unbehagen, das ich bei der Pornographie spüre, erlebe ich auch bei anderen Gelegenheiten, bei denen kein Unterschied gemacht wird zwischen »echt« und »nur gespielt«, zwischen »aufrichtig« und »vorgetäuscht«, etwa bei der Ausstellung »Körperwelten« von Gunther von Hagens, bekannt als Doktor Tod, bei der ich »echte« Leichen sehen kann, die gleichzeitig »nur« Ausstellungsstücke sein sollen und mit denen nicht mehr so umgegangen wird, wie man normalerweise mit Toten umgeht. Wenn wir aber nicht zwischen den verschiedenen Sphären unterscheiden, dann kommt es auch nicht darauf an, ob jemand wirklich eine Frau »ist« oder nur eine »spielt«, dann sind Wesen und Erscheinung deckungsgleich, die Form wird dann zum Inhalt.

      Robert Merle hatte lange vor Ronald Reagan in einem Science-Fiction-Roman vorausgesehen, dass in Amerika eines Tages ein Schauspieler Präsident werden würde. Seit John F. Kennedy hatte sich eine Entwicklung in diese Richtung angedeutet: die Grenzen zwischen echt und gespielt wurden dünner. Schon die Bezeichnung »Atomtests« war irreführend; denn solche Tests waren nicht etwa Versuche, bei denen etwas ausprobiert wurde, so wie man eine Testfahrt mit einem Auto unternimmt, um zu sehen, ob man es kaufen will oder nicht. Atomtests waren Ernstfälle, die schwere Schäden anrichteten. Man durfte sich nicht täuschen: Man konnte auch bei einer Probefahrt einen Unfall haben. Verletzungen, die man sich dabei zuziehen würde, wären nicht weniger schmerzhaft, weil es nur eine Probefahrt war. Das Handbuch der Extinction Rebellion heißt ausdrücklich This Is Not a Drill: dies ist keine Übung, es gilt.

      Als meine Tochter etwa acht war, von einer Tyrannosaurus Rex-Ausstellung hörte und nicht sicher war, ob diese Urviecher wirklich ausgestorben waren, fragte sie sicherheitshalber nach, ob die Saurier »in echt« wären oder »mit Batterie«. Diese – zugegeben – vorläufige Einteilung nutze ich immer noch. Bei vielen Erscheinungen habe ich den Eindruck, dass sie gar nicht »in echt« sind, sondern nur »mit Batterie«.

       Eine Rose ist eine Rose ist eine Rose

      Wir versuchen, so gut es geht, Distanz zu signalisieren, wenn wir Abstand halten wollen – es geht nicht immer gut. Für viele war die Deutsche Demokratische Republik nicht echt, nicht gültig; manche taten so, als gäbe es sie gar nicht. Sie war nur eine sich fälschlicherweise selbst so bezeichnende »Demokratie«, deshalb wurde DDR bei der Bild-Zeitung in Anführungsstriche gesetzt. Solche Gänsefüße, wie Jean-Paul sie nannte, waren schon im Dritten Reich als ironisierende Anführungsstriche ein verbreitetes propagandistisches Stilmittel. Victor Klemperer erklärt das ausführlich in seinen Tagebüchern und Untersuchungen zur LTI Lingua Tertii Imperii, der Sprache des Dritten Reiches: jüdische »Rechtsanwälte« wurden durch solche Anführungszeichen heruntergestuft zu so genannten Rechtsanwälten; sie waren also keine wirklichen Anwälte, sie wurden nur so genannt.

      Heute schreibt man »besorgte Bürger« in Anführungsstrichen, um deutlich zu machen, dass man ihnen die Sorgen nicht abnimmt. Die Tüttelchen sind inzwischen wieder inflationär verbreitet, sie werden sogar pantomimisch eingesetzt, als hätten unsere Gespräche neuerdings Untertitel, die man durch nervöse Fingerzeichen ergänzen muss, um anzuzeigen, dass alles gar nicht so gemeint ist. Wir reden wie listige Kinder mit schlechtem Gewissen, die hinter dem Rücken die Finger kreuzen.

      Im Jahr 2012 wurde im Auftrag der Heinrich-Böll-Stiftung eine Studie erstellt, in der die so genannte antifeministische Männerrechtsbewegung untersucht und als besonders gefährlich präsentiert wird. Diese »Studie« (um auch mal solche Zeichen zu verwenden) ist wissenschaftlich ohne jeden Wert, sie wurde nichtsdestoweniger durch den Lehrstuhl für Soziologie, Soziale Ungleichheit und Geschlecht, den Ilse Lenz innehatte, abgesegnet. Wir erfahren nicht, was es mit diesen Männerrechtlern tatsächlich auf sich hat, wir lernen aber, welche Vorwürfe man ihnen macht: Sie denken essentialistisch, also wesentlich. Hinrich Rosenbrock, der Verfasser dieser »Studie«, tut so, als wäre es neuerdings verboten, wesentlich zu sein und als hätte er da einen Verein entdeckt, der sich das berühmte Zitat von Angelus Silesius – »Mensch werde wesentlich« – in die Satzung geschrieben hat. Rosenbrock zeigt auf, dass die von ihm untersuchten Männer ihr Weltbild »essentialistisch« begründen und dass sie »essentialistische Geschlechtsvorstellungen« teilen, sie lassen auch einen »essentialistischen Geschlechterdualismus« erkennen oder sogar »essentialistische Familienvorstellungen«. »Essentialistisch« kommt dermaßen oft vor, dass man den Text gut als Sprachübung für Leute mit einem S-Fehler nutzen könnte. Man fragt sich allerdings, was so »gefährlich« daran sein soll, wenn jemand wesentlich sein will. Das wird nicht zur Diskussion gestellt, es ist vorausgesetzt. Selbstreflexion darf man bei so einer »Studie« nicht erwarten; der theoretische Tiefgang entspricht dem künstlerischen Niveau, das für Bilder gilt, die nach der Methode »Malen nach Zahlen« gefertigt werden.

      Warum aber wird ein Essentialismus abgelehnt? Weil jemand, der wesentlich sein will, nicht so


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