Frau ohne Welt. Teil 3: Der Krieg gegen die Zukunft. Bernhard Lassahn

Frau ohne Welt. Teil 3: Der Krieg gegen die Zukunft - Bernhard Lassahn


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des Begriffs von einem ausschließlichen Besitzrecht des einen Ehegatten an dem anderen – all dies sind Erscheinungen, die die grundlegenden Prinzipien der Ideologie der Arbeiterklasse, der kameradschaftlichen Solidarität zerstören, die die Kette der Klassengemeinschaft zerreißen.« Diese Kette – gemeint ist die der Klassengemeinschaft und die der kameradschaftlichen Solidarität – darf keinesfalls zerrissen werden und so hieß es für die Frau im revolutionären Russland: raus aus den Ketten der Familie, rein in die Ketten der Arbeiterklasse. So wie es für die Frau von heute heißt: raus aus der Abhängigkeit vom ehemals geliebten Ehemann, rein in die Abhängigkeit zum sowieso nicht geliebten Staat. Raus aus den Zwängen der Rollenbilder des Patriarchats, rein in die Zwänge der Rollenbilder des Gender-Mainstream.

      Die Liebe, die zur bürgerlichen Familie gehört, verschwindet bei Kollontai nicht, um durch befreiten Sex von der Pole-Position verdrängt zu werden, vielmehr tritt etwas anderes an die erste Stelle, an der bisher die Liebe zum Partner und zur Familie stand: die Liebe zur Revolution, die Verpflichtung gegenüber der Arbeiterklasse, die Kette der Klassengemeinschaft. Sex blieb untergeordnet und sollte es auch weiterhin bleiben. Die Konflikte zwischen Mann und Frau galten sowieso nur als Nebenwiderspruch. Sex stand nicht an oberster Stelle. Noch nicht. Nicht im Kommunismus. Sex wird erst dann zur wichtigsten Sache, wenn eine Zeit anbricht, die ganz von Sexismus geprägt ist – so wie unsere Zeit; die Epoche, die Illouz beobachtet hat.

      Ich gehöre vermutlich noch zu den letzten Jahrgängen von Männern, die erst eigene Erfahrungen gemacht und danach Filme zu dem Thema gesehen haben. Ich habe erst geküsst. Womöglich ist das heute anders. Heute gibt es für alles, was man anfangen will, ein Video als Tutorial. Man sollte jedoch nicht verkennen, wie lange ein Licht noch leuchtet, wenn ein Stern schon erloschen ist. Das Licht der Liebe – um das Zitat von Illouz weiter zu benutzen – leuchtet immer noch. Liebe ist nach wie vor Trumpf. Auch wenn Sex gelegentlich versucht, sich vorzudrängeln.

      Wenn jemand meint, Sex hätte Vorrang vor der Liebe, kommt es mir vor, als wollte er die Dinge absichtlich auf den Kopf stellen wie in der Redewendung »to put the cart before the horse«. Es würde dann die Karre vor das Pferd gespannt. In Deutschland wurde das tatsächlich ausprobiert. Karl Friedrich Christian Ludwig Freiherr Drais von Sauerbronn, der seinen Adelstitel aus Protest ablegte und unter dem bürgerlichen Namen Karl Drais als Erfinder des Laufrades und der Schreibmaschine bekannt wurde, hatte tatsächlich kurzfristig mit einem Modell experimentiert, bei dem das Pferd schieben sollte und die Karre vor das Pferd gespannt war.

      Es hat sich, wie wir inzwischen wissen, nicht durchgesetzt.

       Die nackte Lüge

      Die Sensation des Jahres 1977 waren die so genannten Peep-Shows, die allerdings nicht überall zugelassen wurden, die Stadt Köln beispielsweise erteilte keine Genehmigung. München schon. Da gab es 1976 die erste, in Hamburg gab es zeitweise sieben. 1982 waren Peep-Shows soweit normalisiert, dass es passend dazu den Trallala-Schlager der Spider Murphy Gang gab Ich schau dich an – Peep, Peep. Im gleichen Jahr erging jedoch ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichtes, das solche Shows verurteilte, weil sie gegen die guten Sitten verstießen.

      Was gab es da zu sehen? Echte Nackte wurden in künstliche Nackte umgewandelt, die natürliche Nacktheit, wie man sie etwa von FKK-Ständen kannte, wurde in einen Zusammenhang gestellt, in dem sie eine neue Wertigkeit erhielt. Frauen mutierten nach Münzeinwurf zu dreidimensionalen Bildern, zu »bewegten Bildern«, wie man in der Stummfilm-Zeit gesagt hätte; sie wurden zu Zwischenwesen im flirrenden Grenzbereich zwischen Menschen und bloßen Abbildungen von Menschen. In den zumeist in Orange gehalten Kabinen – »Nur einzeln eintreten« – boten sich beim Einwurf von 1,- DM Modelle in einem sensationellen Preis-Leistungs-Verhältnis dar. Die Girls zeigten »alles«, wie es reißerisch hieß, was mehr war, als in einem Schulmädchenreport gezeigt wurde, die Show lief »Non Stop«. Im Preis konnte man kaum weiter runtergehen. Es war der Höhepunkt einer Welle, zugleich der Ausverkauf. Aufregung und Gleichgültigkeit lagen direkt nebeneinander.

      Non Stop ist nicht die Ewigkeit. Doch die Formel erinnert daran. Liebe will Dauer, sie will den zauberhaften Rausch des Verweile-doch-Gefühls. Bei einer geglückten Liebe ist man überrumpelt, man ist Teil eines Gesamtgefühls, das größer ist als das Fassungsvermögen eines einzelnen Menschen, weil es die Möglichkeit von einem Kind enthält und man dadurch von einem Hauch von Unsterblichkeit angeweht wird, so dass man meint, einen winzigen Anteil an der Unendlichkeit zu erhaschen.

      Was konnte einem dagegen eine Non-Stop-Show bieten, die nur Sex, Sex, Sex aber keine Liebe versprach? Sex würde es auch nur in kleiner Dosis geben, die sofort als Überdosis wirken würde, als intensives Gefühl, das 100 Sekunden dauerte. Dann war Schluss. Man konnte nachwerfen, dann währte es noch einmal 100 Sekunden, war aber nicht mehr so intensiv und ohne Überraschungseffekt.

      Der Betrachter war einer intimen Begegnung so nah, wie das bisher nicht möglich war und gleichzeitig weit von Berührungen und Küssen entfernt. Ihm wurde Zugang zu einem Teil gewährt, das Ganze jedoch verweigert. Der Betrachter befand sich in einer Kabine wie in einem Sciencefiction-Film, bei dem man in so eine Kabine tritt, um eine Zeitreise zu starten. Er hatte keinerlei Gemeinsamkeit mit den Nackten im Paralleluniversum. Die Räume waren streng getrennt, die Zeit verrann, der Countdown lief. Die beiden hatten den Weg, der zu einer vertrauten Nähe führt, nicht mehr persönlich und auch nicht gemeinsam zurückgelegt. Sie waren angekommen, ehe sie aufgebrochen waren. Aus so einer Begegnung würde keine Liebe folgen. Es war Sex pur. Es stimmte vorne und hinten nicht. Die Voraussetzungen waren falsch, und es gab keine Folgen. Die Intimität hatte kein Vorher und kein Nachher, sie war echt und unecht zugleich.

      Es war eine neuartige Nacktheit. Sie kam unvermittelt. Raymond Chandler, der bekannt dafür ist, besonders kunstvoll ausformulierte Krimis zu schreiben, nutzt als Stilmittel gerne den Effekt der plötzlich hereinbrechenden Gewalt – »bring the man with the gun« –, um einen Schockeffekt zu erzielen. »Schockierend« war ein beliebtes Modewort der späten Sechziger, Orange galt als Schockfarbe. In Pornofilmen gehört der unvermittelte Schnitt – als täte sich jäh ein Abgrund auf – zur gängigen Dramaturgie, das Fehlen jeglicher Nuancen gehört zum Wesensmerkmal solcher Filme, zum Schockeffekt: eine Hausfrau bittet einen Handwerker in die Wohnung – Schnitt –, schon sie nur noch mit Strapsen bekleidet und beide sind mitten im Geschlechtsakt.

      Mir kam das vor wie ein falscher Gebrauch von Starthilfekabeln. Solche Kabel wurden damals noch häufig gebraucht: Sie wurden mit Klammern an die Batterie des einen Autos angeschlossen, dann an die Batterie des anderen Autos, das so mit Energie versorgt wurde. Wenn man die Kabel nicht an dem zweiten Auto anbrachte, sondern gegeneinanderhielt, entstand ein Kurzschluss, der sich an einem Funkenflug entlud. Eine Energieübertragung fand nicht statt. Das zweite Auto kam nicht in Fahrt.

      So wirkte die unvermittelte Nacktheit: Der Betrachter wurde ruckartig mit einer intimen Situation konfrontiert, als wäre es ein Kommunikationsangebot, doch es war nicht dazu gedacht, eine Verbindung – eine Energieübertragung – herzustellen. Es war kein echtes Entgegenkommen, es sah nur so aus. Es war ein falsches Signal wie bei einer Baustelle, wenn ein Verkehrslicht freie Fahrt signalisiert, die Strecke aber weiterhin gesperrt bleibt. Die Begegnung war folgenlos und banal, sie erinnerte nur noch vage daran, dass zu anderen Zeiten und unter anderen Umständen weit reichende Bedeutungen damit verbunden waren, die nun alle fehlten.

      Zu Zeiten des Vormärz wurden in einigen Städten verbotene Bücher der jungdeutschen Bewegung unter der Bevölkerung verteilt. Das bekannteste und umstrittenste war Wally, die Zweiflerin von Karl Gutzkow, ein gotteslästerliches Buch, ein »unsittlicher Anschlag auf die Religion«, wie es von Kritikern genannt wurde. Die tragische Heldin Wally kann den Mann, den sie liebt, nicht heiraten, sie ist für eine Konvenienz Ehe vorgesehen. In ihrer Verzweiflung begeht sie Selbstmord. Der Skandal der Geschichte ist vergleichbar mit dem, den einst die Leiden des jungen Werther von Goethe losgetreten hatten – auch bei Gutzkow geht es um die Grundsatzfrage, ob ein Selbstmord gerechtfertigt sein kann und ob die Liebe immer der Leitstern für alle Handlungen sein muss.

      Es gab eine für damalige Verhältnisse geradezu unvorstellbare Szene: Wally zeigt sich dem Mann, den sie liebt, aber nicht heiraten kann, vollständig


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