Frau ohne Welt. Teil 3: Der Krieg gegen die Zukunft. Bernhard Lassahn
Porno, der in wenigen Jahren über 600 Millionen Dollar eingespielt haben soll und damit einer der profitabelsten Filme aller Zeiten ist. Was dermaßen viel Geld einspielt, gilt etwas im Kapitalismus. Das schmuddelige Genre, das bis dahin ein tristes Dasein in Hinterzimmern fristete, war damit auf der großen gesellschaftlichen Bühne angekommen. In den Schlangen vor den Kinos sah man verheiratete Pärchen und Damen in eleganter Abendgarderobe. Noch gab es leichten Gegenwind, der Hauptdarsteller Harry Reems musste für einige Zeit ins Gefängnis, doch mit dem großen kommerziellen Erfolg war der Porno salonfähig geworden und war nicht länger eine unbedeutende Randerscheinung. Er hatte gesamtgesellschaftliche Bedeutung erlangt. Wer sich zu Deep Throat äußerte, urteilte nicht nur über einen Film, sondern gleich über die sittliche Zukunft Amerikas. Seit dem Film Panzerkreuzer Potemkin, so wird in Darstellungen zur Kinogeschichte behauptet, hatte kein anderer Film so eine Wirkung erzielt. Hatte Panzerkreuzer Potemkin seine Bedeutung für die kommunistische Weltbewegung und der Film Birth of a Nation für das Selbstverständnis der Vereinigten Staaten nach dem Bürgerkrieg, so hatte Deep Throat seine Bedeutung für die nun heraufdämmernde Zeit, die im Zeichen der Überbewertung von Sexualität stehen würde: Sex war plötzlich allgegenwärtig.
Mit Deep Throat war zumindest in den USA der Vorstoß in den Mainstream geschafft. Bald schlossen sich Kultfilme an wie Der letzte Tango von Paris, die auch bis Tübingen vordrangen. Vorher hatte noch das generelle Verbot für Pornografie fallen müssen – und es war gefallen. Zuerst 1968 in Dänemark, was die erwähnte Sexmesse ermöglicht hatte. In Deutschland fiel das Verbot erst 1975. Vorausgegangen war das 4. Gesetz zur Reform des Strafrechts, das eine weitere Liberalisierung mit sich brachte und im Sinne der Reformen von 1969 sich jeder moralisierenden Wertung von sexuellen Tätigkeiten entzog. Das zeigte sich bereits an der Neufassung der Überschriften: »Verbrechen und Vergehen wider die Sittlichkeit«, wie es bis dato hieß, wurde durch »Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung« ersetzt. Der Begriff »unzüchtige Handlung« wurde komplett gestrichen. Es war genau diese Unterscheidung zwischen »Unmoral« und »Sozialschädlichkeit«, die den Wertewandel widerspiegelte: Bestraft werden sollte ein Verhalten nur, wenn es die Interessen anderer oder die der Gemeinschaft verletzte, nicht aber, wenn es unmoralisch war.
Inzwischen hat sich der Wind gedreht. Vierzig Jahre Hochwasser haben die Verhältnisse komplett verändert. Nun wird wieder gewertet. Die Moral hat sich zurückgemeldet, tritt gnadenlos als Hypermoral auf und hat eine Zensur eingeführt, die strenger und umfassender ist als alles, was wir bisher kannten. Die Memoiren der Fanny Hill stehen – zumindest in einigen Universitäten in Kanada – wieder auf dem Index, diesmal weil sie von einigen Studenten als »unerträglich heteronormativ« empfunden werden. Es gibt neue Varianten von sexuellem Fehlverhalten und von »sexistischer Gewalt«. Selbst wenn sie im Mikrobereich liegen, drohen drakonische Strafen. Kleinste Verfehlungen reichen aus, um ein Lebenswerk zu zerstören, auch wenn sie schon lange zurückliegen, bisher nicht als solche angesehen wurden, nicht bewiesen werden können und auch keinen erkennbaren Schaden angerichtet haben – wie der Fall Hunt zeigt:
So wurde gemeldet, der Nobelpreisträger Timothy Hunt, ein Molekularbiologe, habe bei einer Konferenz in Südkorea eine Bemerkung gemacht, die Empörung und betretenes Schweigen ausgelöst hätte: »Lassen Sie mich über meine Probleme mit Mädchen sprechen. Drei Dinge passieren, wenn sie im Labor sind: Du verliebst dich in sie, sie verlieben sich in dich und wenn du sie kritisierst, weinen sie.« Es gab einen gigantischen Sturm der Entrüstung. Hunt musste die Konsequenzen ziehen und von seiner Position als Honorarprofessor zurücktreten – wegen eines »sexistischen Kommentars«, wie die Presse meldete. Auch die britische Forschungsgesellschaft Royal Society distanzierte sich von ihm.
Er trat nicht zurück, er wurde getreten. Er fiel tief, seine Karriere war auf einen Schlag beendet. Als der damalige Londoner Bürgermeister Boris Johnson sich schützend vor ihn stellen wolle und den »unerbittlichen Moloch politische Korrektheit« anprangerte, geriet er selbst in die Schusslinie, es hieß, er mache sich »schuldig im Sinne des Antidiskriminierungsgesetzes«. Hunt hatte tatsächlich gesagt, dass Frauen weinen, wenn man sie kritisiert, er hatte allerdings auch – wie absichtlich nicht gemeldet wurde – ergänzt: »Spaß beiseite, ich bin beeindruckt von der wirtschaftlichen Entwicklung Koreas. Und Wissenschaftlerinnen spielten dabei zweifellos eine wichtige Rolle. Wissenschaft braucht Frauen.« Applaus! Gelächter! Die ersten Meldungen waren von der Journalistin Connie St Louis bewusst verfälscht worden. Sie wollte ihn fertig machen. Der Kampf gegen Sexismus ist grausam und verlogen, Schuldbeweise sind nicht nötig, es werden vorzugsweise Unschuldige gerichtet – beinah wäre der Kampf erfolgreich gewesen: Sir Richard Timothy Hunt stand kurz davor, sich das Leben zu nehmen.
Hände hoch! Keine falsche Bewegung!
Die Stimmung ist gekippt. Sexualverbrechen und Gewalttaten haben zugenommen; manche sind von bisher nicht gekannter Scheußlichkeit. Wenn man zurückdenkt an Sommertage im Freibad, an nächtliche Spaziergänge, stimmungsvolle Weihnachtsmärkte und Open-Air-Veranstaltungen, die seit den Siebzigern das Leben in der Stadt mit mediterranem Flair durchwehten und uns die neue Lebensqualität bescherten, von der Willy Brandt einst gesprochen hatte, erscheint einem das wie ein Blick in ein Fotoalbum aus einer versunkenen Welt.
Nach den Übergriffen in der Silvesternacht in Köln hatte es keinen Aufschrei gegeben. Wer Opfer von nicht-deutschen Tätern beklagt, wird als Fremdenfeind und Rassist beschimpft, als jemand, der solche Fälle instrumentalisieren will. Also schweigen wir. Wir erfahren auch wenig von den »orientalischen Vergewaltigungen« in Norwegen und Schweden – im Jahr 2018 wurden laut Polizeibericht 20 Vergewaltigungen pro Tag gemeldet. Und wir wissen wenig von den erschütternden Schicksalen der Mädchen der grooming-Skandale (damit ist Anbahnung sexueller Kontakte gemeint, um Minderjährige zu missbrauchen) von Rotherham, Rockdale, Oxford, Derby, Halifax, Newcastle und Telford – allein da geht es um etwa tausend Fälle –, die jahrelang vertuscht wurden. Das gab keinen Aufschrei.
Geschrien wird im Internet mit einem flotten Hashtag oder Shitstorm. Nun sind es Frauen, die nicht länger an sich halten können und sich lustvoll an den digitalen Steinigungen beteiligen, bei denen sie feige in der Anonymität untertauchen, oder – wie im Fall Hunt – kokette Selfies ins Netz stellen, auf denen sie mit falschen Tränen posieren. Ihnen geht es um Anlässe ganz anderer Größenordnung. Je bedeutungsloser sie sind, umso aufgedrehter wird das Kreischen.
Mit dem Hashtag #metoo ging ein Aufschrei um die Welt, der bei einigen Prominenten – und solchen, die es gerne wären – alte Erinnerungen hochkochte, die zu neuen Beschuldigungen führten, die wie Streubomben wirkten und unüberschaubar viele Unschuldige ins Unglück rissen: Es kam zu Selbstmorden, Löschungen, Kündigungen und Absagen: Filmszenen aus Alles Geld der Welt, in denen Kevin Spacy, mitgewirkt hatte, wurden neu gedreht, Spotify nahm Songs von R. Kelly aus der Playlist, Konzerte mit Plácido Domingo wurden abgesagt, es gab keinen Literaturnobelpreis. Die Ausfälle im Kulturbereich waren keine bloßen Kollateralschäden, für die Krieger im Kulturkampf waren es Etappensiege im culture war, der auch »cancel culture« genannt wird, Versuch einer Auslöschung der gesamten Kultur. Die Schäden sind nicht mehr zu überblicken. Es hat vor allem Unheil gebracht und kaum einen – oder gar keinen – Gewinn. Die meisten Beschuldigungen wurden inzwischen wieder fallen gelassen, es gab nur wenige tatsächliche Verurteilungen, die es womöglich auch ohne MeToo-Welle gegeben hätte. Dass es auch in der Welt der Prominenten Widerlinge gibt, die für ihr Verhalten gegenüber Frauen Strafe verdient haben, ist keine Neuigkeit und müsste nicht zu Beschuldigungen nach dem Gießkannenprinzip führen.
Die schwedische Außenministerin Margot Wallström erinnerte sich, dass sie wie paralysiert war, als ihr Tischnachbar ihr vor Jahren bei einem Bankett die Hand aufs Knie gelegt hatte. Deshalb wollte sie die Kampagne MeToo auf höchster Ebene unterstützen. Was hätte sie sonst auch tun sollen? Sie hätte es ja nicht gleich der ehemaligen Umweltministerin Barbara Hendricks nachmachen müssen, die eine Zigarette auf dem Handrücken eines Mannes ausgedrückt hatte – vielleicht ist Wallström Nichtraucherin –, doch sie sollte schon in der Lage sein, so eine Situation zu bewältigen, ohne eine Staatsaffäre daraus zu machen. Vermutlich leidet sie unter den Spätfolgen von erlernter Hilflosigkeit durch überbehütete Erziehung. Das Unvermögen