Frau ohne Welt. Teil 3: Der Krieg gegen die Zukunft. Bernhard Lassahn
auf, die ständig nachverhandelt werden. Es geht scheinbar um Kleinigkeiten, die jedoch in Wirklichkeit keine sind. Hinzu kommen überdimensionierte Beschuldigungen gegen einen Feind, der in Wirklichkeit gar keiner ist, sondern erst durch eine grandiose Sprache, die keine Zwischentöne und Mittellagen und damit auch keine Kompromiss- und Friedensmöglichkeiten zulässt, zum Feind aufgebaut wird.
Der sexistische Krieg ist ein totaler Krieg. Alle Lebensbereiche werden durchdrungen. Es wird ein Kulturkrieg geführt, ein culture war, der das Gute, Schöne und Wahre zerstören will. Sobald wir das Fernsehen einschalten, werden wir einer gendergerechten Scheinwelt ausgeliefert, die durch das gesamte Programm aus aktuellen Nachrichten, Werbung, Wetterbericht, Unterhaltung, Sport und Spannung hindurchscheint. Der gesamte öffentliche Raum – das gilt für Kirchen, Politik, Schulen und Universitäten – ist sprachlich gleichgeschaltet, durchgegendert, feminisiert und verweiblicht. Die Kriegspropaganda beschwört in einem unablässigen Trommelfeuer aus Siegesmeldungen eine weibliche Zukunft, die offenbar unmittelbar bevorsteht wie der Endsieg. Frauen, so hören wir, haben Männer längst überholt, haben sie abgehängt und überflüssig gemacht. Die Frauen von heute sind nicht mehr aufzuhalten in ihrem Machtstreben, sie können alles.
Sie können es sogar besser. Für den nächsten James-Bond-Film ist Emma Watson vorgeschlagen, nicht in der Rolle eines Bond-girls, sondern – she instead of him – als Agent 007. Das war der, der gesagt hatte: »Mein Name ist Bond, James Bond«.
Aus so einer Blase kommt man nur schwer wieder heraus. Cassie Jaye hat es geschafft. Sie hatte mit Nebenrollen in Hollywood vor der Kamera als nette Blondine angefangen, als »the cute girl-next-door who always died in horror films.« Nachdem sie mehrere Tode in Horrorfilmen sterben musste, hat sie die Seiten gewechselt, hat sich hinter die Kamera gestellt und eigene Dokumentarfilme zu Gender-Themen gedreht. Dann hat sie die rote Pille eingenommen und gleich noch einmal die Seiten gewechselt: Sie ist nun auch keine Feministin mehr.
The Red Pill heißt ihr Film, mit dem sie, wie sie selbstironisch bemerkt, Kontakt mit dem Feind aufgenommen hatte – damit meinte sie Männerrechtler, moderne Väter, die von ihren Schicksalen erzählten, die den Kontakt zu ihren Kindern und den Glauben an die Zukunft verloren hatten. Am Ende des Films sieht sie diese Männer nicht mehr als Feinde an. Die Idee für den Titel stammt aus dem Film Matrix. Darin steht der Held Neo vor der Wahl, entweder die rote oder die blaue Pille zu nehmen. Nimmt er die blaue, bleibt alles, wie es ist, und er kann weiter in seiner Traumwelt leben. Mit der roten Pille würde er in der Wirklichkeit ankommen.
Sie spielt außerdem mit einem Motiv aus Alice im Wunderland, dem Land, in dem alles falsch ist. Ein weißes Kaninchen führt sie da hinein – down the rabbit hole – und erschüttert ihre Weltsicht. Cassie Jaye hat es geschafft, ihre Einstellung zu überprüfen und zu ändern. Die meisten können es nicht.
Was musste geschehen, dass sie es konnte? Zwei Übungen waren es, die mit der Arbeit an einem Dokumentarfilm zusammenhängen: Zuerst musste sie lernen, die Leute ausreden zu lassen. Sie merkte plötzlich, wie schwer ihr das fiel; sie konnte gar nicht richtig zuhören, sie wartete immer nur auf ein Stichwort, um einzuhaken und zu widersprechen. Sie musste lernen, sich zu beherrschen. Die nächste Übung bestand darin, das dokumentierte Material abschreiben. Das mag an Strafarbeiten aus Schulzeiten erinnern, aber sie merkte, dass sie erst durch den Vorgang des Schreibens richtig verstanden hat, was die Männer, die sie interviewt hatte, überhaupt sagen wollten. Als sie diesen Effekt bei einer Pressekonferenz erklärte, empfahl sie das auch den anwesenden Reportern: Notieren Sie das! –»Write this down«, sagte sie. Bei ihr hatte es gewirkt. Sie ist von einer Blondine zu einer Schriftgelehrten geworden.
Sprache kann einen Reinigungsprozess bewirken. Deshalb bin ich Ihnen auch mit einem Buch unter dem Arm entgegengekommen und habe Kästner zitiert. Ich werde noch aus anderen Büchern vorlesen. Die Literatur wacht stets im Hintergrund, wenn ich über Frauen und Männer, über den Krieg und über die Liebe spreche. Eine achtsame Sprache hilft, die Gedankenwelt aufzuräumen. Eine lügenhafte Sprache führt ins Unglück. Viele der Lügen lassen sich relativ leicht erkennen, sie fallen durch schiefe Formulierungen und heillose Übertreibungen auf und lassen sich leicht vermeiden. Ich versuche es. Ich vertraue darauf, dass man mit dem Bemühen um eine wahrhaftige Sprache auf einem guten Weg ist – auf einem, der zu einem Geschlechterfrieden führen kann.
Also: Willkommen! Treten Sie ein! Wenn Sie mögen, können Sie noch kurz, eh es losgeht, vor das Fenster treten – da oben ist mein Schlafzimmer – und ganz laut »Sex!« schreien.
Schlaflose Nächte und Schreie in der Nacht
»Sex?! Oh, nein! Sex! Nein, Sex! Ich fasse es nicht!«
»Äh … Sex?«, »Was soll das denn? Sex?«
»Sex! Sex! Sex!«
Eine Bekannte von mir hatte Pech. Sie konnte im Sommer nicht mehr bei offenem Fenster schlafen. Sie wohnte in der Langen Gasse in der Altstadt von Tübingen. Wir schreiben das Jahr 1977, wir schauen ein wenig zurück, um – wie sich Ernst Bloch das vorgestellt hat – die »Zukunft in der Vergangenheit« zu entdecken. Ich beginne mit einem kleinen Rückblick. Ich bitte, die Jahreszahl nicht allzu genau zu nehmen und mir eine gewisse Unschärfe bei der Zeitangabe zuzubilligen, immerhin mache ich eine präzise Ortsangabe.
Ich werde sogar noch großzügiger mit den Zeitangaben verfahren und das Jahr 1977 zu einem regelrechten Schicksalsjahr im Kampf der Geschlechter aufwerten und als das Jahr zeichnen, in dem der Sexismus, von dem damals noch niemand wusste, was man sich darunter vorstellen sollte, Einzug in unser Zusammenleben gehalten, sich wie eine Seuche ausgebreitet und alle Bereiche des Alltagslebens durchdrungen hat. Doch zurück zum genau lokalisierten Ort, der früher einmal still war. Warum konnte meine Bekannte nicht mehr bei offenem Fenster schlafen? Warum ließ ihr der Sex keine Ruhe?
Ihr Zimmer lag im ersten Stock. Im Erdgeschoss hatte neuerdings ein Sexshop eröffnet, ein »Fachgeschäft für Ehehygiene«, wie es im Untertitel hieß – ein Fremdkörper in dem beschaulichen Universitätsstädtchen, eng und buckelig, wie Goethe es beschrieben hatte. Ein zauberhafter Ort. Wenn da ein als Nachtwächter verkleideter Schauspieler mit Hellebarde und Laterne durch die Gassen gezogen wäre, wie das neuerdings als Touristenattraktion inszeniert wird, hätte man den Eindruck gewinnen können, die Zeit wäre tatsächlich stehen geblieben und man hätte mit Franz von Dingelstedts Liedern eines kosmopolitischen Nachtwächters verkünden können: »Die Stunde, die hat nichts geschlagen«.
Nun hatte die Stunde etwas geschlagen. Eine neue Zeit war angebrochen: Es gab einen Sexshop. Er wirkte, als wäre über Nacht ein verirrtes Raumschiff aus einer anderen Zeitzone notgelandet.
In lauen Sommernächten war es besonders schlimm. Nächtliche Spaziergänger, die bis vor kurzem vergleichsweise ruhig durch die Gassen geschlendert oder getorkelt waren, ließen angesichts des neuen Ladens alle Hemmungen fallen; es brach aus ihnen heraus wie eine Urgewalt. Selbst wenn sie ohne Gesprächspartner durch die Nacht schwankten, mussten sie den Namen des Shops laut vorlesen und ihr Leid klagen, wie Hunde es tun, wenn sie den Mond anbellen: »Sex Shop! Sex Shop!« Sie konnten einfach nicht vorübergehen, ohne einen Kommentar abzugeben, als müssten sie den Shop – oder den Sex insgesamt – verfluchen. So wie Babys bei der Geburt schreien, so brüllten die Nachtschwärmer beim Herandämmern der neuen Epoche. Manche lachten künstlich, manche gequält, bei manchen klang es wie ein Hilferuf. Der Laden wirkte auf sie seltsam bedrohlich, er gab sich als Niederlassung einer feindlichen Macht zu erkennen, die schon eine erste Bodenstation errichtet hatte.
Zur selben Zeit – nicht auf den Tag oder Monat genau – hatte in der Nähe vom Zimmertheater ein Laden aufgemacht, für den eine vergleichbare Besonderheit galt. Davon erzählte mir jemand, der im ersten Stock über dem neu eingerichteten Buchladen wohnte und in lauen Sommernächten ebenfalls keinen Schlaf fand. Auch an seiner Adresse unterbrachen Nachtschwärmer ihren Rundgang und konnten es nicht lassen, kräftige Kommentare abzugeben. Auch hier waren es Männerstimmen, die grölten und schimpften und ein Grummeln erzeugten wie bei einem heranziehenden Gewitter. Es ging um Bücher. Genau gesagt um den Laden, in dem sie angeboten und um die besonderen Bedingungen, unter