Frau ohne Welt. Teil 3: Der Krieg gegen die Zukunft. Bernhard Lassahn

Frau ohne Welt. Teil 3: Der Krieg gegen die Zukunft - Bernhard Lassahn


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den neuen Buchladen »Nur für Frauen« betrieben, doch seit er Nacht für Nacht mit anhören musste, wie Männerstimmen den Laden verfluchten – man habe grundsätzlich nichts gegen die Frauenbewegung, solange sie nur schön rhythmisch wäre –, hatte er sein Herz für die Nachbarinnen entdeckt und grüßte sie freundlich. Den Laden sollte er trotzdem nicht betreten.

      Zwei neue Geschäfte, zwei Zeitzeichen, zwei Klagemauern, zwei Verlockungen, zwei Gefahrenstellen, die ahnen ließen, wie eine sexistische Zukunft aussehen würde. Meine Bekannte hatte den Eindruck, dass Männer nicht mit dem »Weltknoten Sexualität« umgehen konnten – das waren nicht ihre Worte; sie meinte wohl, dass Männer ihre Triebe nicht unter Kontrolle hätten – und der Mann, der über dem Frauenbuchladen seine Ruhe haben wollte, konnte hinzufügen, dass sie ebenso wenig wüssten, wie sie mit der neu aufblühenden Frauenbewegung umgehen sollten. Mit der nächtlichen Ruhe war es jedenfalls vorbei. Es hatten sich zwei Abgründe aufgetan. Zwei Risse waren auf dem Tanzboden entstanden, auf dem sich die Geschlechter begegnen konnten. Beide Orte wirkten, als hätten feindliche Truppen erste Brückenköpfe errichtet. Man konnte es ahnen: Gemeinschaften, die bisher zusammengehalten hatten, würden zerfallen; die Liebe, wie man sie bisher kannte, würde einem absehbaren Ende entgegengehen.

      Es waren Orte, die man meiden sollte. Ein junges Ehepaar, das sich in der Stiftskirche trauen ließ, würde bestimmt keinen Abstecher in das nahegelegene »Fachgeschäft« machen, um da »Hygieneartikel« für ihre Ehe einzukaufen. Ein Student würde dem Sexshop weder zusammen mit seiner Liebsten einen Besuch abstatten, noch mit Mitbewohnern aus der Wohngemeinschaft, die allgemein WG »Weh geh!« genannt wurde, damit das Weh und Ach des Alleinseins vergehe. Er würde den Laden auch nicht bei einem Spaziergang als neue Attraktion der Altstadt seinen Eltern vorführen, wenn die zu Besuch kämen. Der Sexshop störte die vertikalen und horizontalen Geschlechter-Verhältnisse gleichermaßen.

      Der Frauenbuchladen auch. Mit meiner Freundin könnte ich den Laden nicht betreten, ich müsste draußen warten und würde ausgerechnet mit ihr darüber streiten, ob es so einen Laden überhaupt geben sollte. Ich würde mit meinem Vater kopfschüttelnd vor dem Schaufenster stehen und wir würden uns fragen, warum wir nicht hineingehen und Die Scham ist vorbei von Anja Meulenbelt oder Memoiren einer Tochter aus gutem Hause von Simone de Beauvoir kaufen könnten. Man bekam die Bücher auch anderswo, insofern war der Frauenbuchladen keine Bereicherung. Die Besonderheit lag allein darin, dass ein Mann unerwünscht war. Immerhin haben wir noch gestritten und die Köpfe geschüttelt. Tübingen ist Universitätsstadt. Da wurde viel geschwätzt und diskutiert.

      Nun hat sich das Klima geändert. Wir sind bis auf die Knochen eingeschüchtert. Wir frösteln und halten uns bedeckt, als wäre Schnee gefallen und hätte sich meterdick über unsere Gespräche gelegt. Die Themen Feminismus und Pornographie berühren wir lieber nicht. Gender auch nicht. Ein wohlmeinendes Kompliment kann heute als sexistischer Angriff interpretiert werden; ein Ausdruck, der gestern noch unverfänglich war, kann heute schon als hate speech gelten. Im Rückblick kommt mir das Tübingen der Siebziger wie ein Naturschutzgebiet vor, in dem noch ein unbefangener Gedankenaustausch möglich war.

      Heute werden – damals undenkbar – Professoren wie Gerhard Amendt, Ulrich Kutschera oder Martin van Creveld von aufgebrachten Studenten mit Trillerpfeife, die sich als Schiedsrichter aufspielen, oder von schlecht informierten Gleichstellungsbeauftragten an wissenschaftlichen Vorträgen gehindert, wenn sie im Verdacht stehen, den Feminismus zu kritisieren. Zunehmend trifft es auch Politiker, die als »liberal« gelten. Heute darf man nicht mal mehr sagen: Also, das wird man doch wohl noch sagen dürfen. Harald Schmidt bekennt, dass seine Shows heute nach einer Woche abgesetzt würden. Bei einer Veranstaltung mit dem SPD-Mitglied Thilo Sarrazin in Bremen musste die Polizei mit einem Mannschaftswagen anrücken, bei einer Lesung mit Birgit Kelle mit sechs. Nur jeder sechste Deutsche fühlt sich noch frei, im Internet beziehungsweise in der Öffentlichkeit seine Meinung zu äußern. Das Forschungsinstitut Allensbach hatte nachgefragt, ob man vorsichtig sein müsste. Muss man. Wir haben keine Klimakatastrophe, wir haben eine Meinungsklima-Katastrophe.

      »Worüber man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen«, heißt es bei Ludwig Wittgenstein im Tractatus logico-philosophicus. Der finnische Tango-König M.A. Numminen hat den Satz vertont und trägt ihn mit großer Orchesterbegleitung vor, als wollte er ein Zitat, das Voltaire nachgesagt wird, mit einem Ausrufezeichen versehen: »Was zu dumm ist, um es auszusprechen, das singt man.« Oder man schreit. Damals hatte es noch Aufschrei gegeben, nicht im Internet, sondern in den buckligen Gassen von Tübingen, da konnte man einen letzten Aufschrei in der Nacht hören:

      »Oh, nein! Sex!«

       Die Schrecken der Flut und die Schrecken der Ebbe

      Im Jahr 1977 erlebte die Sexwelle einen spektakulären Höhepunkt. Man hatte schon vorher leichte Wellenschläge spüren können: Es gab Sex-Kinos und kleinere Rotlichtviertel in Bahnhofsnähe, zumeist in Städten, in denen Soldaten stationiert waren, doch nun hatte sich ein heftiger Sturm zusammengebraut. Die Sexwelle, die über Deutschland hereinbrach, war nicht nur eine harmlos Modewelle, es war eine Monsterwelle, die bleibende Schäden hinterließ.

      Es hatte einen gewissen Anlauf gebraucht: Schweden und Dänemark waren mit der Freigabe von Pornographie und einem liberalen Umgang mit Homosexualität vorausgegangen. Das hatte in den skandinavischen Ländern zu einer Mode von Schweden-Witzen geführt. 1969 hatte in Kopenhagen die erste Sexmesse stattgefunden, bei der die Besucher von splitternackten Hostessen begrüßt wurden; erste Sexshops wurden in Kopenhagen und direkt an der Grenze zu Deutschland eröffnet. Nicht weit von der Landesgrenze hatte sich auf deutscher Seite der Beate-Uhse-Versand niedergelassen; die Sexwelle kam mit einer steifen Brise aus dem kühlen Norden.

      Post aus Flensburg konnte nun zweierlei Bedeutung haben: Verkehrssünder erhielten Mahnungen vom Kraftfahrt-Bundesamt, Sünder des Geschlechtsverkehrs kleine Päckchen vom diskreten Beate Uhse Versand – wenn wir die Kunden des Versandhauses als Sünder der besonderen Art ansehen wollen: als Geschlechtsverkehrssünder, was sicher einige ihrer Ehepartner so empfunden haben. Vielleicht sogar die Kunden selber. Neugier, Unbehagen, Schuldgefühle und Lust gingen direkt ineinander über. Für manche lag allein schon der Besuch in einem Sexshop im Grenzbereich zum Seitensprung und wurde als moralische Verfehlung, zumindest als Versagen angesehen.

      Die Sexwelle erreichte auch die literarische Welt. Bei einem Rundgang auf der Buchmesse konnte man in dem Jahr – aus heutiger Sicht unvorstellbar – riesige Nacktfotos sehen, als hätte man sich auf eine Sexmesse verirrt. Etwa zehn Jahre zuvor – also im Jahr 1969 – war die entscheidende Wende in der Rechtsprechung vorausgegangen: Der Bundesgerichtshof sah nach eigenem Bekunden seine Aufgabe nicht länger darin, einen moralischen Standard durchzusetzen, vielmehr wollte er sich darauf beschränken, die Gemeinschaft vor Störungen zu schützen. Eine ganze Reihe von Delikten wurden seitdem abgeschafft: zum Beispiel der Ehebruch – der galt bis dahin als Delikt –, die Unzucht mit Tieren, die einfache Homosexualität, die Erschleichung des Beischlafs und die Kuppelei. In der Diskussion um den Roman Die Memoiren der Fanny Hill wurde exemplarisch eine Unterscheidung zwischen weicher und harter Pornografie vorgenommen. Das Buch war bereits 1906 erschienen und stand seither auf dem Index. Nachdem 1964 eine »Luxusausgabe« ediert und wiederum indiziert wurde, klagte der Verleger: Anno 1969 hielt das Gericht fest, dass weiche Pornografie weder für Erwachsene noch für Jugendliche schädliche Folgen hat.

      Schon ab 1970 konnte daraufhin eine Serie von Schulmädchen-Reporten anlaufen – stümperhafte Episodenfilme im Stil einer Scheinauthentizität, die sich auf wahre Erlebnisse bezogen und dennoch verlogen waren. Rückblickend sieht der Filmproduzent Wolf C. Hartwig darin die »Geschäftsidee seines Lebens«. Die ohne Aufwand mit unbekannten Schauspielern gedrehten Pseudo-Dokumentationen hatten weltweit insgesamt über 100 Millionen Zuschauer erreicht. Es folgte eine ganze Reihe solcher Filme, Hausfrauen-Report, Lehrmädchen-Report, Tanzstunden-Report, Krankenschwestern-Report – Provinzpossen im Vergleich zu dem, was gleichzeitig in Amerika passierte.

      Es gab nicht nur eine, es gab mehrere Sexwellen: Eine aus dem Norden, eine weitere kam über den großen Teich geschwappt. Im Januar 1972 war zuerst in New York, wenig später in anderen Städten,


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