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Joachim Köhler
Verloren im Cyberspace
Auf dem Weg zur posthumanen Gesellschaft
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek
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© 2021 by Joachim Köhler
Vertrieb durch Evangelische Verlagsanstalt GmbH · Leipzig
Printed in Germany
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Das Buch wurde auf alterungsbeständigem Papier gedruckt.
Cover: NORDSONNE IDENTITY GmbH, Berlin
Coverbild: © Maximalfocus/unsplash.com
Satz: Evangelisches Medienhaus GmbH, Leipzig
Druck und Binden: CPI books GmbH
ISBN 978-3-374-06758-9 // eISBN (PDF) 978-3-374-06759-6
eISBN (E-Pub und Mobi) 978-3-374-06760-2
Für Carol, wen sonst …
»Die Computer haben uns in eine
virtuelle Welt eingetaucht, die uns
immer mehr absorbiert und entmenschlicht.
Was wir sehenden
Auges uns selbst zufügen, gleicht
einer neurologischen Katastrophe
gigantischen Ausmaßes.«1
Oliver Sacks, 2015
»Die Menschen haben Angst, dass
die Computer zu smart werden
und unsere Welt übernehmen
könnten. Das eigentliche Problem
aber liegt darin, dass sie dumm
sind und unsere Welt bereits übernommen
haben.« 2
Pedro Domingos, 2015
»Das 21. Jahrhundert wird die Ära
der Weltkontrolleure sein.
Der Frage, ob man nicht auch die
Kontrolleure kontrollieren muss,
wird eine klare Absage erteilt:
Sie brauchen keine Kontrolle.«3
Aldous Huxley, 1958
Vorwort
»Die letzte Phase irdischen Aussterbens
wird sich nicht in
der Natur abspielen, sondern im
menschlichen Wesen selbst.«4
Shoshana Zuboff, 2018
Wer sich Wissen, Nachrichten, Entertainment und was sonst noch aus dem Internet besorgt, gleicht einem Angler, der seine Angelschnur vom sicheren Ufer aus in einen Fluss wirft. Da das Gewässer äußerst fischreich ist, beißt immer etwas an, wenn auch nicht immer das Richtige. Am ungefährlichsten ist es in Ufernähe, dort fließt das Wasser träge, und der Angler kann bis auf den Grund sehen. Man könnte es die Wikipedia-Zone nennen. Wer sich ihrem Flow überlässt, bewegt sich schwerelos durch alle Bibliotheken und Enzyklopädien der Welt, ohne seinen Schreibtisch verlassen zu müssen. Ein biblisches Versprechen scheint damit eingelöst: Wer sucht, der wird finden, wer anklopft, dem wird aufgetan.
Während man sich dank Google im Bilderstrom von immer neuen Ansichten und Ausblicken entzücken lässt, gleitet man, von Link zu Link getragen, tiefer und tiefer in den Strom hinein. Unmerklich nimmt die Fließgeschwindigkeit zu. Und dort, wo man gerade noch mittels Suchmaschine gesurft hat, klickt man sich zur Abwechslung durch YouTube-Clips, gerät anschließend in einen Twitter-Strudel, und während man mechanisch scrollt und scrollt, findet man sich selbst – dieses fast schon vergessene Selbst – bei Facebook wieder, dessen Newsfeed einen augenblicklich gefangen nimmt, denn er gehört einem allein. Und während man noch die »Gefällt mir«-Noten zählt, was meist wenig Wohlgefallen auslöst, wird man von einer Strömung, genannt Streaming, mitgerissen, die einen mit Musik umhüllt oder in den abgedunkelten Raum eines Kinos führt. Von dort treibt es einen ganz unwiderstehlich weiter in die Wirrnis der Game World hinein, wo man sich unversehens in eine Traumwelt innerhalb der Traumwelt versetzt sieht. Hier muss man immer wieder töten, um nicht selbst getötet zu werden, und immer wieder spielen, um nicht alles zu verlieren. Spätestens dann weiß man vor lauter Mitgerissensein nicht mehr, worauf all das, der Strom, das Treiben der Wellen, am Ende die Katarakte des virtuellen Wahnsinns, noch hinauslaufen. Und wohin. Sicher ist nur, dass man die Kontrolle verloren hat. Man spielt nicht mehr, man wird gespielt. Man ist der Fisch, der an der Angel zappelt.
Die Cyberwelt ist zu unserem Lebensmittelpunkt geworden, der allein darüber entscheidet, ob für uns etwas wirklich existiert oder nicht. Alle benutzen diese Welt, wenige beherrschen sie, kaum einer versteht sie. Entstanden durch die Verschmelzung von Computer- und Internettechnologie, spielt sich die Cyberwelt im Vordergrund ab, bietet allem eine Bühne und zeigt allen ihr Face. Man trägt sie bei sich und oft auch vor sich her wie eine Monstranz, die einem alles zeigt und die man allen zeigt.
Der nicht enden wollende Strom an Informationen erschafft so den Menschen, der immer woanders ist und Wichtigeres zu tun hat. Was hinter den Kulissen dieses Theaters der großen Weltentfremdung steckt, bleibt verborgen. Einerseits bringt die Cyberwelt die alles durchdringende Transparenz, führt ihre Nutzer in ein gläsernes Universum von unvorstellbaren Ausmaßen. Andrerseits hält sie sich selbst, als Wunscherfüllungsmaschine, im Hintergrund. Sie führt und verführt in eine Unendlichkeit von Räumen. Und bleibt selbst ein geschlossener Raum ohne Fenster.
Dies dunkle Reich, das den modernen Menschen Licht bringt, verfügt über gefühlte Allmacht. Sie beruht auf dem Zusammenspiel von zwei Netzwerken, die die Welt umspannen: zum einen das Internet der Informationen, die ein unendliches Zahlenwerk bilden, parallel dazu das menschliche Netzwerk, in das Milliarden von Nutzern verwoben und verstrickt sind. Das Internet ist unsere tägliche Verstrickung. Das Netz, das uns mit sanftem Nachdruck, aber auch unerbittlich zum Kollektiv zusammenfasst.
Gewöhnlich drückt man dies positiver aus: Das Internet bringt die Menschen einander näher, heißt es, eröffnet ihnen einen globalen Marktplatz für Kommunikation und Warenaustausch. Doch diese Menschheitsgemeinschaft, so wünschenswert sie sein mag, hat einen Haken. Beim kommunikativen »Seid umschlungen, Millionen« bleibt nämlich verborgen, dass jeder Mensch, der das Informationsuniversum nutzt, sich zugleich als Teil davon zur weiteren Nutzung anbietet. In einer Form, die sich seiner Kontrolle und seinem Wissen entzieht.