Verloren im Cyberspace. Joachim Köhler
umschlungen, Millionen« einen weniger erfreulichen Sinn erhält: Für die Betreiber ist das unerschöpfliche Netzwerk eine unerschöpfliche Goldgrube.
Die Cyberwelt bietet sich als universale Dienstleistung an, die so gut wie nichts kostet. Sie präsentiert sich als allgegenwärtige Alternative zur wirklichen Welt. Zu ihrem unwiderstehlichen Angebot gehört, dass man, im Gegensatz zur Alltags- und Berufswelt, immer alles unter Kontrolle zu haben glaubt. Man ruft auf, was einen interessiert, und erhält prompt, was man sich wünscht. Man glaubt, am Steuerhebel seines eigenen Lebens zu sitzen. Und ist doch unmerklich selbst gesteuert: Was einem als ureigenstes Interesse erscheint, wird einem von diesem Wunderland der Wünschbarkeiten selbst nahegelegt. Man glaubt, sich mittels Maus, Tastatur oder Touchscreen die Welt untertan zu machen, wird aber selbst mit einem einzigen Mausklick zum Untertanen der Betreiber.
Der moderne Mensch kann nicht mehr ohne die Speicherfunktion des Computers leben. In der Cloud, der ominösen Datenwolke, ist sein eigenes Gewesensein festgehalten, in ihr feiert er die Erinnerungskultur seiner selbst: Was er an Texten und Bildern der Cyberwelt anvertraut hat, wird fortbestehen. Und er mit ihm. Das uralte und immer neue Problem der Vergänglichkeit scheint durch die Datenwolke besiegt zu sein: Sie schenkt allem, was zählt, ewiges Leben. Zahlen, in denen die Wirklichkeit codiert ist, und Photonen, die sie transportieren, sind zeitlos. Mit ihnen lässt sich alles im Augenblick einfrieren.
Alles bleibt, wie es ist. Was auf der Festplatte steht, schenkt dauernde Gegenwart, an der man sich festhalten kann. Man sieht nicht gern in die Zukunft, die ein bedrohliches Gesicht zeigt. Dagegen zeigt das, was der Gegenwart vorausging, ein vertrautes Gesicht. Vor allem, es bedroht einen nicht. Man hat das Vergangene schon hinter sich. Und man kann es auch jederzeit abrufen. Das Selbst ist im Selfie bestens aufgehoben.
Man glaubt die Cyberwelt zu nutzen, und wird von ihr benutzt. Aber schließlich, so heißt es, nutzt sie mehr, als sie schadet. Sie dient einem auf allen nur denkbaren Feldern. Und kostet nichts. Dass es doch etwas kostet, am Ende alles kostet, bemerkt man nur langsam. Die grenzenlose Vielfalt der Websites, die einen, wie das Kind im Spielzeugladen, entzückt, lenkt davon ab, dass die Cyberwelt genau dieses Online-Kind, zu dem wir konditioniert werden, im Visier hat. Ganz langsam, aber stetig, nimmt es Besitz vom Menschen, der vergisst, dass diese schöne neue Welt ein Spielzeugladen ist. Und der darüber sich selbst und seine Menschlichkeit vergisst.
Zum Existieren braucht der Mensch die Natur nur noch als Rohstofflieferanten, die Gesellschaft als prompten Dienstleister, und auch sein Körper ist nur noch fehlbares Bedienelement unfehlbarer Maschinen. Er ist Mensch nur noch im Nebenberuf. Die Grenzen der Nation hat er übersprungen, auch einen festen Ort muss er nicht mehr einnehmen. Sein Ort ist überall und nirgendwo. Er lebt in der Utopie des Alleswissens und Alleskönnens. Fortan ist er der Mensch, der alles kann und nichts ist. Außer den Informationen, die über ihn gesammelt sind.
Unbemerkt ist man posthuman geworden. So fremd der Begriff auf uns wirkt, so vertraut ist das, was er meint. Bezeichnet »postmodern« das, was nach der Moderne kommt, so bedeutet das Wort, das unbemerkt unsere Zeit und vielleicht alle kommenden Zeiten prägt, »nach dem Menschlichen«. Aber dieses »Nach« geschieht im Jetzt. Der Mensch ist auf dem Weg, sich endgültig in diese neue, unheimliche Identität zu verwandeln. Der Falter, gerade erst aus der Puppe geschlüpft, flattert bereits mit den Flügeln. Das Posthumane hat sich sprichwörtlich als etwas »entpuppt«, das nicht vorauszusehen war. Es hielt sich, wie man heute sagt, unter dem Radarschirm. Es blieb im Schatten, wo es prächtig gedieh. Berauscht von den unablässig wechselnden Horizonten des Cyberspace, ist man sich selbst abhanden gekommen.
Die beiden Schlüsselwörter der Cyberwelt sind aufschlussreich genug: Digital, dieser unablässig benutzte Begriff, bedeutet wörtlich »in Zahlen ausgedrückt«, meint aber »in Zahlen verschlüsselt«. Was verschlüsselt ist, kann nur der öffnen, der den Code dazu hat. Das andere Zauberwort ist Cyber. Heute lässt sich fast alles mit diesem Begriff verbinden, Cyberweek, Cybersecurity, Cybersex. Das Wort kommt aus dem Griechischen und bedeutet schlicht »gesteuert«. Wer sich in den Cyberspace begibt, unterwirft sich einer Lenkung, auf die er selbst keinen Einfluss hat: Man kann wählen, aber was man wählen kann, entscheidet die höhere Instanz, der Cyberspace.
Um zu erkennen, dass in dieser schönen neuen Welt für den Menschen etwas gründlich schiefläuft, muss man kein Computer- und Internetfachmann sein. Auch ich bin das nicht. Als Philosoph, Journalist und Schriftsteller habe ich dreißig Jahre lang von diesem Informationsuniversum profitiert, mich aber auch mit seinen Tücken herumschlagen müssen. So lernte ich es ziemlich gut kennen. Sollten mir trotzdem in manchen Punkten Fehler unterlaufen sein, bitte ich den Leser um Nachsicht. Dabei möchte ich mich dem Eingeständnis des Futurologen Nick Bostrom anschließen, der einmal über sein neues Buch sagte, es enthalte »wahrscheinlich schwere Fehler und Irreführungen. Aber die in der Literatur vorgebrachten Alternativen stehen meiner Meinung nach noch schlechter da.«5
Das Unheimliche an diesem superintelligenten Ungeheuer Cyberwelt ist mir erst langsam aufgegangen. Besser gesagt, es ist mir aufgegangen, dass diese scheinbar so rationale Technologie mit ihrem launischen Eigenleben ein Ungeheuer ist. In dramatischer, vom Nutzer kaum verfolgbarer Beschleunigung ist es uns von Innovation zu Innovation über den Kopf gewachsen. Das allwissende Frage-und-Antwort-Spiel, der blitzschnelle Such-und-Finde-Mechanismus sowie die verführerische Heute-bestellt-morgen-geliefert-Automatik haben alle in ihren Bann gezogen. Schritt für Schritt, von Update zu Update lassen wir uns ins künstliche Paradies der digitalen Wunscherfüllung locken. Und gehen uns selbst dabei verloren. Über dem Eingangsportal der Cyberwelt stehen nicht, wie über Dantes Höllentor, die Worte »Lasst alle Hoffnung fahren, die ihr hier eintretet«, sondern: »Lasst euch selbst fahren, den Rest besorgen wir«.
Joachim Köhler
Hamburg, im November 2020
Inhalt
1. Kapitel: Ein kalifornischer Traum
2. Kapitel: Im Reich der Milliardäre
»Zerreißen, zerbrechen, zerschlagen«
3. Kapitel: Glück in Endlosschleife