Verloren im Cyberspace. Joachim Köhler
irgendwann finden der Verrat an der Natur und das Spiel mit der Selbstverleugnung ein Ende. Die Maschine bleibt stehen. Das globale Netz stürzt ab, und mit ihm die von ihm abhängige Menschheit. »Ohne die geringste Warnung, ohne ein vorausgehendes Anzeichen von Schwäche«, so Forsters Vorahnung, »brach die gesamte Kommunikation zusammen, auf der ganzen Welt. Und die Welt, wie sie ihnen vertraut war, endete. Mit dem Ende aller Aktivität aber kam ein unerwartetes Entsetzen: Plötzlich herrschte Stille. Die Menschen hatten sie nie kennen gelernt, und dass sie nun kam, genügte fast, sie zu töten. Besser gesagt, Tausende wurden auf der Stelle getötet.«
Dieses schrecklich stumme Ende, das mit der Zerstörung der Natur, der Selbstaufgabe des Menschen und der Machtübergabe an die Maschine begonnen hatte, fasste E. M. Forster in die Worte zusammen: »Der Mensch, das edelste aller sichtbaren Geschöpfe, der einst Gott nach seinem Bild schuf, starb dahin, erdrosselt im Gewebe, das er selbst gewoben hatte.«
Achtzig Jahre später ging auch dieser Teil von Forster Prophetie in Erfüllung. Seine weltumspannende Maschine begann unter dem Namen eines World Wide Web (Weltweites Gewebe) Wirklichkeit zu werden. Und das war erst der Anfang. Durch eine immer schnellere Entwicklung, die dem Betrachter wie eine Explosion der Produktideen vorkommen musste, perfektionierte sich die Computer-und-Internet-Technologie, eroberte erst die Alltagswelt, dann die Privatsphäre des Menschen. Und jeder konnte daran teilhaben.
Die Menschheit war in eine neue geschichtliche Phase eingetreten, die manche das Ende der Geschichte nennen. Denn in der Maschine namens Cyberspace ist alles, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, gegenwärtig. Mittels algorithmischer Formeln ist es exakt berechnet und jederzeit greifbar abgespeichert. Und irgendwo in der verschlüsselten Unendlichkeit findet sich auch der Mensch, wie er einmal gewesen war.
1. Kapitel
Ein kalifornischer Traum
»Heute gibt es zwei große Krankheiten
in der Welt: Kommunismus
und Amerikanismus. Und der
Amerikanismus ist die schlimmere
von beiden, weil der Kommunismus
nur das Haus, das Geschäft oder
den Schädel in Stücke schlägt,
während der Amerikanismus die
Seele vernichtet.«9
D. H. Lawrence, 1926
Die vergessene Revolution
Das Ende der Welt, wie wir sie kannten, kommt aus einem malerischen Landstrich südlich von San Francisco. Er hat die Welt verändert, wie er sich selbst verändert hat. Man nennt ihn Silicon Valley. Aus Silicon, deutsch Silizium, sind die winzigen Mikroprozessoren, genannt Chips, gefertigt, die die moderne Welt am Laufen halten. Das heutige Zentrum der Hightech-Industrie hat mit seinen tausend Firmen die ganze Welt mit einem elektronischen Netz überzogen, aus dem es kein Entrinnen gibt.
Ob Google, Amazon, Apple, Microsoft oder Facebook, sie alle sind hier zuhause. Dabei strahlen sie die kalifornische Entspanntheit aus, die vergessen macht, dass sie die Welt beherrschen. »Dem ganzen Silicon Valley geht es darum«, so verriet ein ehemaliger Facebook-Manager, »etwas Vorhandenes durch etwas Eigenes zu ersetzen«10. Dass mit dem Vorhandenen nichts weniger gemeint war als unsere Welt, brauchte er nicht eigens hinzuzufügen. Ihre neue Ordnung wird durch die Cyberwelt bestimmt. Ihr Betriebssystem heißt Silicon Valley.
Noch vor hundert Jahren breitete sich hier eine paradiesische Landschaft aus. So etwa sah der Kalifornien-Traum der Siedlertrecks aus, die einst durch die Wüste Nevadas und über die Schneeberge der Rocky Mountains ins gelobte Land gezogen waren. Mit seinem Meer aus Blüten und Früchten, über dem sich ein makellos blauer Himmel spannt, nannte man dieses von Pazifik und San Francisco Bay umrahmte Ländchen das »Valley of the Heart’s Delight«. In dem flachen Tal, umrahmt von den Höhenzügen der Santa Cruz Mountains und des Diablo Range, ließ sich tatsächlich »nach Herzenslust« leben. In diesem Garten Eden hat Ende des 19. Jahrhunderts ein Eisenbahn-Tycoon eine Universität errichtet. Zur Erinnerung an seinen jung verstorbenen Sohn nannte er sie Leland Stanford junior University.
Die Stanford Universität, zu der eine prächtige Palmenallee führt, bietet äußerlich ein eindrucksvolles Sammelsurium an Architekturstilen. Von den Adobe-Mauern der indianischen Ureinwohner über europäische Gotik und Renaissance bis zum spanischen Missionsstil und der Bauhaus-Moderne ist alles vertreten. Der Eintretende bemerkt sofort, dass er hier nicht nur an einem privilegierten Ort weilt, sondern sozusagen überall gleichzeitig. Nach dem Prinzip des Eklektizismus ist alles erlaubt, solange es schön ist.
Stanford ist schön. Der Gründer lieferte das Geld, und die Welt lieferte ihre Baustile und ihr Wissen, ihre Kultur und ihr Genie. Dieses blühende Idyll, wie man kein vergleichbares in Europa findet, beherbergt eine der erfolgreichsten Hochschulen Amerikas. Über ihren Kolonnaden, Türmchen, Torwegen und rabattengesäumten Rasenflächen rascheln die Palmblätter im Meerwind, der vom Pazifik oder der San Francisco Bay herüber weht.
Diese üppig mit Geld ausgestattete und mit Nobelpreisträgern gespickte Privathochschule wurde seit den 1960er Jahren zum Magneten für Elektronikwissenschaftler. Damals bahnte sich die entscheidende Wende in der Computertechnologie an. Von den monströsen IBM-Rechnern, deren erste Festplatte 1955 über eine Tonne wog, entwickelte sie sich zu den »Micro-Computern« für den Hausgebrauch. Voraussetzung für die dramatische Verkleinerung war der erste serienmäßige Mikroprozessor, den die Firma Intel 1971 herausbrachte. In Palo Alto hatte sich das elektronische Forschungszentrum Xerox Parc angesiedelt, das zum Pionier der Cyberwelt wurde. Um 1975 war der erste Desktop (Schreibtisch-Rechner) vorgestellt worden. Das kastenartige Gerät verfügte statt einer Tastatur über Kippschalter und kostete 500 Dollar. Dafür musste man es auch selbst zusammenbauen.
Den entscheidenden Schub zur digitalen Welteroberung brachten zwei Hightech-Enthusiasten, Bill Gates und Paul Allan. In dem bescheidenen Bausatz für Tüftler entdeckten sie das gewaltige Zukunftspotenzial. Für das Urmodell schrieben sie das erste Programm. Damit lieferten sie zur Hardware der Rechenmaschine die Software, die den Computer in ein massentaugliches Allround-Instrument mit Bildschirm verwandelte. Und was man schrieb, konnte man auf einer Floppy-Disc speichern. Da die Nachfrage nach Software-Innovationen riesig war, gründeten die Männer, die der Rechenmaschine Flügel verliehen hatten, in Albuquerque/New Mexico eine Firma. Weil man für Micro-Computer die Software entwickelte, nannte man sie »Microsoft«.
Der zukünftige Hauptkonkurrent entstand im Jahr darauf. In einer Garage nicht weit von der Stanford Universität baute der in San Francisco geborene Steve Jobs mit seinem Kollegen Steve Wozniak einen Heimcomputer mit eigenem Programm. Ihre Firma nannten sie »Apple«. Das Logo zeigte im Gegensatz zu dem der gleichnamigen Beatles-Firma einen angebissenen Apfel. Der Firmenname prangte in Regenbogenfarben. Nachdem der legendäre Computerriese IBM 1981 seinen ersten PC (Personal Computer) auf den Markt gebracht hatte, wurde Jobs’ kalifornisches Rechenzentrum weltweit populär. Fünfzehn Jahre später folgte die Innovation der Innovationen: der Durchbruch zur Cyberwelt.
Das Silicon Valley hieß damals noch San Francisco Bay Area. Das Städtchen Palo Alto, an dessen Rand die Stanford University erbaut wurde, war eine mit Palmenalleen und einem Blumenmeer geschmückte Kleinstadt. Statt der heute üblichen Fast-Food-Ketten gab es noch Restaurants und zu Imbissbuden umfunktionierte Speisewagen, die man Diner nennt. Es fanden sich altmodische Metzgerläden, Fischhändler, Bagelbäcker (»Rabbinical Bagels«). In einem Laden konnte man klassische Platten und Bücher tauschen. Und ein kleines Kino namens »Varsity« zeigte spät nachts europäische Kunstfilme von Fellini bis Fassbinder.
Meine Frau und ich lebten 1975/76 in Palo Alto: Carol studierte Jura an der