Verloren im Cyberspace. Joachim Köhler
rast, Heimat steht still. Internet zwingt einen zu reagieren, Heimat heißt, Genügen daran finden, so zu sein, wie man ist. Jemand sagte, Kontrolle sei besser als Vertrauen. Das gilt unter Maschinen. Menschlich aber ist es, zu vertrauen. Doch ohne Bodenständigkeit gibt es kein Vertrauen. Wer dem Netz traut, wird es irgendwann kennen lernen. Aber anders, als ihm lieb ist. Vertrauen hat hier keine Bedeutung. Man täuscht sich und wird getäuscht, und irgendwie gleicht sich das am Ende aus. Eine Schäbigkeit ist eine andere wert. Unter Datensätzen kann keine Liebe entstehen. Menschliche Zuneigung setzt körperliche Gegenwart und lebendige Beziehung voraus. Die Begegnung der Augen ist für Liebe und Vertrauen unverzichtbar. Webcam-Augen schauen auch, aber ihr Blick ist tot.
Das Internet vereint unzählige kommunikationswillige Menschen. In seinem Raum-Zeit-Kontinuum verbindet es Völker, schafft internationale Solidarität. So will es die Eigenwerbung. In Wahrheit bleiben die Völker und ihre Befindlichkeiten den Betreibern herzlich gleichgültig. Das lässt sich an der fehlenden Bereitschaft des Silicon Valley ablesen, Steuern zu zahlen. Nationen sind auf finanzielle Beiträge angewiesen. Steuern sind Solidarität, die sich in Zahlen ausdrückt. Die Cyberwelt kennt Zahlen, aber keine Solidarität. Sie lässt jeden Nutzer verdeckte Internetsteuern zahlen. Die ganze Welt muss diesen Tribut an das Silicon Valley entrichten. Aber selbst weigert sich das Weltbetriebssystem, zum Unterhalt seiner Kunden beizutragen. Will man es dazu per Gesetz zwingen, tritt das Weiße Haus auf den Plan und droht mit Repressalien. Man nutzt die Weltbevölkerung als Kundschaft, aber sträubt sich, sie als physische Existenz ernst zu nehmen.
Das hängt auch damit zusammen, dass die körperliche Realität für das Internet völlig uninteressant ist. Die Cyberindustrie, diese Reichste der Reichen, kultiviert den ordinären Geiz. Der gewaltige Riese verkriecht sich in ein Steuerschlupfloch. Das Silicon Valley kassiert alle ab, spendiert aber selbst nichts. Man steht über dem Gesetz, ja allen Gesetzen, weil man über den Menschen steht. Und diese, vom Datenangebot überwältigt, stellen keine weiteren Fragen. Hauptsache, sie finden auf alle Fragen eine Antwort, gegen jede Langeweile eine Zerstreuung und alle bestellten Waren vor der Haustür.
Das Internet gilt heute, so ein US-Magazin, als »größte Innovation aller Zeiten«. Innovation ist in diesem Fall kein harmloses Motto, sondern der Schlachtruf, mit dem allem Althergebrachten und Gegenwärtigen der Kampf angesagt wird. Erscheint das Neue am Horizont, hat das Alte seine Daseinsberechtigung verloren. Das technische Spitzenprodukt von heute ist der Elektroschrott von morgen.
Dasselbe kann für den Menschen gelten, der sich auf dieses Spiel einlässt. Nachdem er den Kampf um die Zukunft verloren hat, verliert er auch sich selbst. Dann verschwindet er nicht, aber muss sich eine Rundumerneuerung gefallen lassen. Vor allem in Amerika grassiert die Vorstellung, jedermann sei dringend innovationsbedürftig. Mittels Computer- und Gentechnik müsse er seine biologische Beschränktheit, am besten auch seine Sterblichkeit überwinden. Man nennt diese Denkrichtung »Transhumanismus«. Der Mensch muss nicht nur anders, sondern besser werden. Sein Geist braucht ein Software Update, und es wird ihm frei Haus geliefert.
Stolz verkündete Eric Schmidt 2019 über sein Unternehmen Google, es begründe eine »Kultur der Innovation«17. Google bedeutet Fortschritt. Wer nicht googelt, lebt im Gestern. Wie viel am Menschen in der Zukunft noch menschlich sein wird und wie viel Innovation, das lässt sich nicht vorhersagen. Vermutlich aber wird der alte Mensch spurlos im neuen verschwinden, wie das Produkt von gestern im brandaktuellen. Man weint ihm keine Träne nach. Wo Humanismus war, herrscht Innovation. Zuerst verwandeln sich die Dinge, die der Mensch benutzt, dann verwandelt er sich selbst.
Innovation ist nicht einmal das letzte Wort in der Branche. Heute wird der Begriff im Englischen durch Disruption ersetzt. »Disruption«, so sagte der Computerpionier Jaron Lanier, Preisträger des Friedenspreises des deutschen Buchhandels 2014, »ist vielleicht das häufigste Wort in der digitalen Kultur- und Geschäftswelt.«18 Alles, was den Trend setzt, ist disruptiv. Bloße Neuerungen genügen der Wirtschaftswelt nicht mehr: Man will »disruptive Technologien«, die »disruptive Produkte« herstellen, um die Marktnische »disruptiv« zu übernehmen. Meist wird der Begriff verharmlosend gebraucht. So erklärte Amazon-Chef Jeff Bezos, der vermutlich disruptivste Unternehmer aller Zeiten, der Begriff umfasse »alles, was die Kunden lieber mögen als das, was sie vorher gekannt haben.«19
Verharmlosend wirkt auch die deutsche Übersetzung, wenn das Wort, wie bei Wikipedia, mit »unterbrechend« oder »bahnbrechend« wiedergegeben wird. Dagegen lese ich in meinem Latein-Wörterbuch, dass es den eindeutigen Sinn von »zerreißen, zerbrechen, zerschlagen« hat. Die revolutionäre Entwicklung, die das Silicon Valley der Welt verordnet hat, besitzt in Wahrheit eine zerstörerische Dimension. Wie der Online-Händler Amazon, dieser Triumph der Bequemlichkeit, die Infrastruktur des Einzelhandels und der Kaufhäuser erst gestört und dann zerstört hat. Das Silicon Valley erobert nicht nur die Welt, sondern verwandelt sie. In diesem »unter Bluthochdruck leidenden Herzen der Cyberwelt«, so schrieb der Finanzjournalist Justin Fox, »hat der Glaube an die Disruption mittlerweile einen religiösen Beigeschmack. Alles, was zerreißt, ist gut; alles, was dem im Weg steht, verdient den Untergang.«20
Die Cyberwelt ist dabei, uns das Menschsein abzunehmen und dies im doppelten Sinn: Sie erleichtert uns das Leben, dessen sie uns zugleich beraubt. Auch deshalb wird sie, die alles besser weiß und kann, uns irgendwann auch in unserem Menschsein übertreffen. Dann wird sie Dinge auf die Beine stellen, die uns nicht im Traum eingefallen wären. Sie wird uns überflüssig machen. Irgendwann, vielleicht schon bald, könnte der Point of no Return erreicht sein, wo es nicht mehr an unserer Entscheidung hängt, ob wir der Cyberwelt den Vortritt lassen. Ob wir stark genug sind, uns der großen Disruption unserer selbst in den Weg zu stellen.
Man muss die Kraft aufbringen, zu dieser fordernden Maschine »Nein« zu sagen. Auch wenn das nicht ohne Entzugserscheinungen abgeht. Vielen Internetmüden erscheint schon heute die Vorstellung verlockend, aus der Virtualität auszusteigen. Das große »Als ob« hinter sich zu lassen. Und wieder ohne digitale Hilfestellung auszukommen. Wieder wirklich zu werden. Wieder Mensch zu werden und sich mit dem Analogen zu begnügen, das einem die ans Digitale verlorene Identität wiedergibt.
Vor einem Jahr fiel mir in einer Buchhandlung ein Buchumschlag ins Auge, der als Titel die Aufforderung »Internet abschalten«21 trug. Jan Heidtmann, Journalist der Süddeutschen Zeitung, liefert in seinem Buch gute Argumente, die für diesen radikalen Schritt sprechen. Denn längst hat die Menschheit ihre Eigenverantwortung an die Cyberwelt abgetreten. Das möglicherweise Irreparable besteht darin, dass nicht nur einzelne Aufgaben von der Computertechnik übernommen werden, sondern dass unser ganzes Leben mit allem privaten und öffentlichen Inventar, Strom- und Wasserversorgung, Flug- und Bahnverkehr, Staaten, Städten und Kommunen, nicht zu vergessen die Krankenhäuser und die Atomraketen, die in ihren Bunkern warten, von Cyberrechnern gesteuert werden. Weltökonomie, Weltlogistik, Weltkommunikation, selbst die globale Sicherheit basieren darauf, dass die Netzwerke funktionieren. Wehe, wenn einmal nicht mehr.
»Das Internet frisst uns auf«, lautet Heidtmanns Untertitel. Es weiß mehr über uns als wir selber, so dass von dem, was wir als das »Eigene« bezeichnen könnten, nichts übrig bleibt. Computer setzen uns über eine Zukunft ins Bild, die uns selbst noch verborgen ist. Und auch darüber, welche Art von Mensch nötig sein wird, um ihren Anforderungen gerecht zu werden. Vor allem müssen wir jederzeit computerkompatibel sein. Von jenem Menschentypus, den Luther den »wahrhaft menschlichen Menschen«22 genannt hat, wird kaum etwas übrig bleiben. Und kein Mensch wird sich mehr der Anstrengung unterziehen, zu einem wahrhaft menschlichen Menschen zu werden.
Nicht länger ist die Welt, in die wir hineingeboren wurden, die unsere. Eine andere hat sich in den Vordergrund geschoben, leistungsfähiger und attraktiver als die frühere. Sie fordert exklusive Aufmerksamkeit. Man muss sich die Dinge der Welt nicht mehr mühsam zusammensuchen, sie werden einem in leckeren Häppchen auf den Bildschirmen gereicht. An dieser unser ganzes Leben bestimmenden Dauerdienstleistung hängen wir wie der Corona-Patient am Beatmungsgerät.
Dank unserer festen Anbindung an die digitale Denkmaschine wissen wir in jedem Augenblick, was uns durch den Kopf gehen soll. Wir sind nur noch algorithmisch definierte Modelle, die in unserem Namen berechnet werden. Ob für