Verloren im Cyberspace. Joachim Köhler

Verloren im Cyberspace - Joachim Köhler


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Name mehrmals gewechselt hat, spielt die Firma nicht mehr in der ersten Liga.

      Im Gegensatz zum kreativen Gott, der die Welt aus Nichts erschuf, sind die Suchmaschinen nicht schöpferisch. Sie sind Vergegenwärtigungsautomaten dessen, was ist, aber eben auch dessen, was nicht ist. Sie berechnen gleichermaßen, was gegeben und was nur vorgegeben ist. Der Unterschied von Wahrheit und Lüge ist ihnen unbekannt. Suchmaschinen können alles Menschliche berechnen, aber wie die ganze Cyberwelt sind sie unmenschlich. Ihre Rechner beherrschen die Welt, aber können nicht »Fünfe gerade sein lassen«.

      »Es gibt wenige Menschen«, schrieb der Spiegel 2019, »die unser Leben so geprägt haben wie Ex-Google-Chef Larry Page.«24 Nur wenige wissen das, und er selbst macht kein Aufhebens davon. Der jungenhaft wirkende Visionär ruht sich nicht auf seinen Erfolgen aus. Er hat bereits weitere weltverändernde Maßnahmen in der Planung. Zuerst möchte er »das Universum digitalisieren«, danach den »Tod besiegen«. Gentechniker seines Unternehmens »Calico« erforschen, wie sie dem Menschen Krankheit und Sterblichkeit abgewöhnen können. In Kaliforniens produktiver Hybris fällt derlei Größenwahn nicht weiter auf.

      Die Entwicklung des Silicon Valley zum Weltwirtschaftsimperium war vorhersehbar. Gewiss wollten die Gründer den gewöhnlichen Sterblichen das Zusammenleben erleichtern, doch zugleich waren sie von Anfang an nüchterne Pragmatiker. Im Altgriechischen bedeutet »Pragma« schlicht »die Sache«. Wer pragmatisch vorgeht, tut dies immer sachbezogen und sachdienlich. Als Denkrichtung entstand der Pragmatismus Ende des 19. Jahrhunderts in Amerika. Seine Botschaft lautet, dass nur gut ist, was einem Zweck dient. Nicht der Weg zählt, sondern allein das Ziel. Womit sich der Pragmatismus als Ideologie des expandierenden Geschäftslebens anbot.

      Die moderne Welt eroberte er in einer Variante, die man pragmatisch-hedonistisch nennen könnte. Das Wort »hedonistisch«, das ebenfalls aus dem Altgriechischen stammt, bedeutet schlicht »lustorientiert«. Der pragmatisch-hedonistischen Lebensform, die unsere Zeit beherrscht, leistet die Computerwelt hervorragende Dienste. Beide sind füreinander wie geschaffen. Tatsächlich glich die Online-Welt anfangs einem Schlaraffenland, in dem sich jeder, der sich durch den Grießbreiberg der Technik gefressen hatte, nach Herzenslust bedienen konnte. Das unausgesprochene Motto lautete: Hedonismus für alle.

      Banner voran!

      Nach den ersten Jahrzehnten philanthropischer Freigebigkeit, dem sogenannten »Gratis-Internet«, schlichen sich immer mehr kostenpflichtige Programme ein. Der User akzeptierte es klaglos, weil die Gier nach dem Vergnügen größer war als die Angst um die eigene Freiheit. Als Vorgeschmack auf den drohenden Kontrollverlust nahm die Online-Werbung Jahr für Jahr zu. Heute ärgert das alle, doch kaum einem ist bewusst, dass es sich de facto um Freiheitsberaubung handelt. Bekanntlich besteht der Vorteil des Internet gerade darin, frei wählen und nach Belieben durch das unendliche Info-Universum surfen zu können. Je mehr Zwangsinhalte einem aufgedrängt werden, desto weniger Freiraum wird einem gelassen. Konnte man anfangs alle Sites wie durch offene Türen betreten, stößt man nun auf mehrere Wächter, von denen einer nach dem anderen Aufmerksamkeitstribute fordert: Datenschutz- und Einverständniserklärungen, Subskriptions- und Kaufoptionen, immer häufiger auch Push-Nachrichten, die einen erinnern, dass man sich in andauernde Abhängigkeit begeben hat.

      In den 1990er Jahren begann die Eroberung der Cyberwelt durch die Werbeagenturen mit simplen Anzeigen, die sich nicht von denen in den Printmedien unterschieden. Dann entwickelte man neue Methoden der Fremdbeeinflussung. Dazu gehören die unerwünschten Besuche der Pop-ups, die einem aus den Websites »ins Auge springen«. Hier zählt das Überraschungsmoment, das sich nicht durch die Botschaft, sondern durch die Plötzlichkeit einprägt. Noch bevor der User es bewusst ignorieren oder wegklicken kann, ist der Überrumpelungseffekt eingetreten. Man könnte dies als permanenten Blitzkrieg bezeichnen. Aber um der grenzenlosen Freiheit willen erträgt man ihn geduldig.

      Dieses Eindringen der Kaufprovokation in die Privatsphäre wird vom User als notwendiges Übel eingepreist. Schließlich bleibt ihm die Freiheit, sie zu ignorieren. Diesen Eindruck zumindest weckt die Werbung. In Wahrheit umgeht sie diese Freiheit, indem sie sich auf andere Weise in den Nutzer einschmuggelt. Das Resultat ist dieselbe Art von Prägung, die der Verhaltensforscher Konrad Lorenz bei den Graugänsen feststellte. An die Gänsemutter, die ihre Aufmerksamkeit zuerst weckt, bleiben die Graugansküken ewig gebunden. Dabei muss das Vor-Bild gar keine Gans sein. Auch Lorenz selbst wurde so zur Gänsemutter. Wie dem Forscher die Gänschen folgen Millionen ihren Führern, Filmstars, Popidolen oder Kultmarken, weil sie ihnen nach allen Regeln der Online-Kunst eingeprägt wurden.

      Bei diesem Prägevorgang geht es nur scheinbar um Kommunikation. Durch einen kalkulierten Prozess wird der Mensch unmerklich in die passive Rolle gedrängt. Er muss schlucken, was ihm eingeschenkt wird. Er muss gucken, welches Produkt ihm unter die Nase gehalten wird. Auf jeder Website findet man die Werbung vor wie einen Überraschungsgast im Wohnzimmer. Meist handelt es sich um eine Kaufempfehlung, für die man den User empfänglich glaubt. Dank algorithmischer Ausbeutung gesammelter Persönlichkeitsdaten kennt man die Interessen, zumal die unbewussten, oft besser als der Kunde selbst. Wer auf die Verlockung hereinfällt und klickt, gerät in eine Abfolge immer neuer Links. An deren Ziel steht früher oder später der Kaufabschluss.

      Jeder wählt sich die Website aus, die er will. Das ist die Freiheit im Netz. Und er kann dies, so oft er möchte, Tag und Nacht. Nur, was man in Wahrheit bekommt, zeigt sich erst, wenn die Seite auf dem Schirm erscheint. Sie bietet nämlich eine Wundertüte an, die teils das bringt, was man erwartete, teils, was einem die Werbung oktroyiert. Die Website kann sich aber auch schlicht als automatischer Durchgangspfad zu anderen Inhalten entpuppen. Der Surfer lenkt per Touchscreen, gewiss. Aber dass er umgelenkt wird, entzieht sich seiner Kontrolle.

      Der Computer ist eine Art selbstfahrender Einkaufswagen. Er weiß genau, wo man selbst hinwill, führt einen aber so, wie er das für richtig hält. Seit der Jahrtausendwende sind sämtliche Websites mit Banners und Pop-ups, diesen Wegweisern zum Pseudoglück, gesättigt. Auch die Social Media kamen auf den Geschmack. Facebook begann seine Fangemeinde ab 2006 mit Anzeigen zu bombardieren. Da diese unter dem Dach von Meinungsfreiheit und Community Building liefen, erwiesen sie sich als besonders wirksam. Die dreiste Anzeigenflut konnte Facebooks guten Ruf nicht ruinieren, ganz im Gegenteil: Die Werbung profitierte von ihm. Wer Facebook-Follower war, erhielt auch das Recht, die Facebook-Werbung zu konsumieren. Diese wurde statt nach dem üblichen Gießkannenprinzip individuell verbreitet. Damit ließen sich Streuverluste vermeiden. »Facebook hat sich«, so der Branchendienst Hubspot 2019, »als Pionier der gezielten Werbeanzeigen erwiesen.« Gründer Zuckerberg will darin sogar eine gemeinnützige Errungenschaft erkennen. »Unsere Priorität«, so betonte er, »liegt nicht auf der Menge der Anzeigen, sondern darauf, wie wir die richtige Zielgruppe mit den richtigen Inhalten ansprechen.« Es ist das Credo jedes Werbefachmanns.

      Um die Zielgruppe zu erreichen, muss man auch nicht länger zwischen redaktionellen und kommerziellen Beiträgen unterscheiden. Dann bietet sich an, was seit den 2010er Jahren von vielen Internetmedien praktiziert wird: Ein Redakteur schreibt den gewünschten Text im Auftrag von Werbeagenturen. Bewusst lässt man im Dunkeln, ob er der eigenen Überzeugung folgt oder den Wünschen der Industrie. Auch die »privaten« Empfehlungen in Form der begehrten Sterne, Herzchen oder gehobenen Daumen lassen sich kaufen. Der Werbung ist diese Schützenhilfe willkommen, da sie am liebsten vertuscht, dass sie Werbung ist.

      Das Internet bietet sich als ebenso unermüdliche wie selbstlose Lebenshilfe an. Es lässt keinen Wunsch offen und keine Frage unbeantwortet. Dabei bildet die Auskunft nur den Vorwand für die damit verbundene Datenerhebung und -analyse, auf denen die Werbung basiert. Deren Schaltung wird nicht, wie beim Fernsehen, vorab gebucht, sondern, aufgrund des bisherigen Surfverhaltens des Anklickenden, in einer Echtzeitauktion verkauft. Der gesamte Biet- und Kaufvorgang läuft über sogenannte Ad Exchanges (Anzeigenbörsen). Bei großen Plattformen wie Google werden solche Transaktionen täglich milliardenfach getätigt. Pro Einblendung läuft der Bestellvorgang in der unvorstellbaren Geschwindigkeit von 100 Millisekunden ab. Der Surfende wird kaum ahnen, dass im Sekundenbruchteil zwischen seiner Eingabe und der Antwort eine gewaltige Maschinerie gearbeitet hat, und zwar speziell


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