Verloren im Cyberspace. Joachim Köhler
Haargels oder dem keimtötenden Mundwasser »Listerin« zutraut, haben die Facebook-Akquisiteure nicht verraten.
Jede Sekunde eines jeden Tages bietet die Cyberwelt ein neues Gesicht und ein neues Produkt, das der benutzte Nutzer auf keinen Fall verpassen darf. Die Milliarden vor den Bildschirmen sind sich einig, dass diese schöne neue Welt für sie vollkommen unverzichtbar ist. Und für die Annehmlichkeiten, die einem jederzeit zu Gebote stehen, nimmt man die Sucht gern in Kauf. Das Smartphone ist das Sesam-öffne-dich, das in Ali Babas Schatzhöhle führt. Nicht zufällig nennt sich Chinas größter Online-Händler nach dem Räuberhauptmann Ali Baba.
Die Preisgestaltung gehört zu den bestgehüteten Geheimnissen der Großversender. Denn was im gewöhnlichen Handel meist verbindlich ist, hat man hier abgeschafft. Big Data-Speicher können für jedes Produkt den Preis entsprechend der Marktlage und der Nachfrage individuell errechnen. Das geschieht mehrmals am Tag. Und für jeden Kunden individuell. Wer per Suchanfrage seinen Kaufwunsch offenlegt, hat im Preispoker schon verloren. Denn Big Data wissen, was der Kunde ausgeben kann, und das soll er auch. Wer also einen Preis recherchiert, hat ihn oft schon unfreiwillig erhöht. Dieses Individual Pricing gilt vor allem in den USA als wichtiger Erfolgsfaktor des E-Commerce (Online-Handels). Mittels raffiniertem Algorithmus lässt sich auch das letzte Tröpfchen aus der Zahlungsfähigkeit des Kunden herauspressen. Wodurch die Onlinehändler dank modernster Computertechnik auf das Geschäftsgebaren des Basars herabgesunken sind.
So beherrscht Big Business nicht nur das Medium, sondern auch das Publikum, das sich der permanenten Einschränkung seiner Freiheit unterwerfen muss. Und während dem User immer neue Produkte aufs Auge gedrückt werden, intensiviert man die Abschöpfung des Data Exhaust (Datenüberschuss). Denn das, was der Wissbegierige bewusst eintippt oder hochlädt, bildet gar nicht das Hauptziel der Cybermultis. Neben den freiwillig gelieferten Informationen greifen die Maschinen auch jene Daten ab, von denen sich deren Lieferanten nichts träumen lassen.
Exhaust ist eigentlich das, was bei Autos aus dem Auspuff kommt: Abgase. Dieser Begriff passt auch auf die Datenabsaugung. Vergleicht man die Internetnutzung mit einer Fahrt im Auto, so hinterlässt der Motor eine Abgasfahne. Für den Fahrer nutzlos, ist sie für die Cybermultis Gold wert. Denn aus den überschüssigen Spuren, die der Onlinemensch im Internet hinterlässt, lassen sich Profile und Statistiken erstellen. Aus ihnen kann das Silicon Valley ziemlich gut ablesen, wer dieser Mensch ist, was er will und was er in Zukunft tun und kaufen wird. »Zeige mir deinen Exhaust, und ich sage dir, wer du bist.«
Beim Verbrennungsmotor kann man die Abgase nutzen, indem man sie durch einen Turbolader schickt. Auf gleiche Weise nutzen die Cyberkonzerne die Daten-Abgase für den Turbomotor ihrer Verkäufe. Google weiß auch, wie man sich jene Daten besorgen kann, die einem nicht freiwillig preisgegeben werden. Dazu segelt man gern auch, wie Shoshana Zuboff detailliert nachwies, unter falscher Flagge.28 Als seit 2007 die Street View-Autos durch die Städte der Welt kreuzten, wandten sie die Idee von Facebook, Gesichter zu zeigen, auf die Häuserfronten an. So entstand ein globales Streetbook, das wenig Rücksicht darauf nahm, dass hinter den Fassaden auch Menschen lebten. Man wollte das Gesicht aller Straßenzüge und zeigte es im Panoramablick.
Das war aber nur die öffentliche Seite des gigantischen Unternehmens. Während man der neugierigen Masse, die nicht in der jeweiligen Straße wohnte, einen Wunsch erfüllte, an den niemand zuvor gedacht hatte, erwies Google sich auch selbst einen Dienst. Dessen Möglichkeit war zuvor niemandem aufgefallen. Unbemerkt luchste es den Hausbewohnern, die beim Fassadendefilee gar keine Rolle spielten, heimlich ihre Daten ab. Während die Aufmerksamkeit der Stadtbewohner durch die groteske 360-Grad-Kamera auf dem Autodach abgelenkt wurde, erfasste man sämtliche WLAN, an denen die Fotoautos verbeigondelten, und schöpfte deren Daten ab.
Jeder weiß, dass der Sinn der drahtlosen WLAN-Netze darin besteht, dass persönliche Daten nicht allgemein zugänglich gemacht werden. Generell bleiben sie auf die Reichweite des Routers begrenzt. Deshalb kamen die Google-Fahrzeuge auftragsgemäß ganz nahe an diesen geschlossenen Netzen vorbei, um die erwünschte Privatheit aushebeln zu können. En passant nahmen sie alles auf, was für Google interessant war. Und für Google ist alles interessant. Das trifft auf das gesamte Internet zu. »Wir versuchen«, so ein für Street View verantwortlicher Google-Manager 2012, die Kluft zwischen der Online-Welt »und dem, was wir in der realen Welt sehen, zunehmend zu überbrücken«.
Durch diese Spionagetätigkeit wurde es möglich, der Industrie Einblicke in die wahre Gefühls- und Interessenlage der Menschen anzubieten. So vermied die Werbung den teuren Gießkanneneffekt und deckte den Kunden nur noch mit Produktwerbung ein, die ihn auch wirklich interessieren musste. Der Datenüberschuss führte zum Gewinnüberschuss. Bald waren es Milliarden, die dank Anzeigengeschäft den Big Five ins Haus flatterten. Der Shareholder Value (Anlagewert) für die Aktienbesitzer stieg ins Astronomische. So verschaffte man sich unter der Maske des urbanen Fotoprojekts unzählige Telefonnummern, Kreditkarten-Daten, Passwörter, SMS-Botschaften, Tweets und E-Mails, außerdem Video- und Audio-Dateien, private Chats, Streaming-Filme, und nur Google weiß, was sonst noch. Die Unkenntlichmachung der eigenen Fassade, die Street View immerhin anbot, bezog sich nicht auf die interessanten Dinge, die aus dem Inneren herausgeschnüffelt wurden. Die amerikanische Sprache mit ihrer Freude an Neuprägungen hat für diese verdeckte Ermittlung einen prägnanten Namen erfunden: das War Driving. Zusammengesetzt aus den Worten für Krieg und Fahren, bedeutet es, dass sich die Datensammler heimlich auf dem Kriegspfad befinden.
Die Sparte »Google Maps«, die sich den gesamten Erdball optisch angeeignet hat, möchte ihren Usern aber auch die Wege aufzeigen, die sie gehen sollen, natürlich nur zu ihrem Besten. Denn Google kann aus seinem Datenschatz herauslesen, wohin man wirklich will, ob zum Baumarkt, Friseur, Arzt oder einfach weit weg. Der User folgt der Route, vorgetragen von einer sanften Frauenstimme, der man unbedingt vertrauen kann. Am Zielort eingetroffen, begrüßen einen auf dem Smartphone die einschlägigen Geschäfte über ihre einladenden Apps. Dank ihnen erfährt der Kunde, was er wissen muss. Wünscht er weitere Daten, etwa den üblichen Preisvergleich mit Amazon, liefert Google sie ihm dienstfertig und kostenpflichtig nach. So verkauft Zuckerberg Tag für Tag seine gläubige Gemeinde an den Meistbietenden.
Das Erscheinungsbild auch der anderen Herren des Silicon Valley lässt davon nichts ahnen. Sie geben sich harmlos, als Menschen guten Willens. Nicht nur der Facebook-Boss Zuckerberg in seinem Sweatshirt mimt ewige Jugend. Die mächtigsten Meinungsbildner der Welt, die das Innenleben der Nationen besser kennen als diese sich selbst, tun so, als herrschten sie nicht und als würden sie keinen Multis vorstehen. Und wenn sie vor der Weltöffentlichkeit ihre neuesten Produkte, die Tablets und Smartphones, internetfähigen Gadgets und bahnbrechenden Apps persönlich präsentieren, dann mit dem lässigen Stolz eines Pennälers, der sein neuestes Modellflugzeug vorführt. Und die Welt schaut gebannt zu.
Dabei handelt es sich bei diesen entspannten Weltbeglückern, laut Harvard-Ökonomin Shoshana Zuboff, um die Erfinder des globalen »Überwachungskapitalismus«. Während sie etwas verkaufen, sammeln sie die Kundenadressen, die sie wiederum selbst verkaufen. Börsenerfolg bemisst sich nach der simplen Akkumulation von Geld. Und keiner akkumuliert erfolgreicher. Denn den Käufer verkaufen, das ist das perfekte Geschäftsmodell.
3. Kapitel
Glück in Endlosschleife
»Big Tech möchte die Plattform
für alles werden, das Betriebssystem
für unser Leben.«29
Rana Foroohar, 2019
Philanthropische Milliarden
Seit die Cyberwelt vom Silicon Valley aus die reale Welt erobert hat, erheben sich im Tal, wo früher Obstplantagen und Kürbisfelder blühten, hochmoderne verglaste Bürokomplexe. Die Welt bestaunt das gigantische »Googleplex« mit seinen 23.000 Mitarbeitern, das ringförmige »Apple«-Gebäude, genannt