Verloren im Cyberspace. Joachim Köhler
die Produkte oder geistigen Inhalte, die auf ihnen erscheinen, zur Verantwortung gezogen werden. Wird ein Massaker live gestreamt, verdienen sie mit. Aber völlig unschuldig. Ihre Diskretion bietet den Vorteil des Nichtbeteiligtseins und der Unauffälligkeit. Man stellt sich klein und ist doch größer als die Größten. Man streicht seinen Anteil an werbungsgenerierten Gewinnen ein, ohne sich weiter um negative Konsequenzen kümmern zu müssen.
Und doch bleiben Unterschiede. Warenproduzierende Unternehmen müssen den Weg in die Wohnung der Menschen mit Werbung pflastern. Cybermultis sind bereits darin. Das Zuhause des Menschen ist eigentlich das Symbol seiner Integrität, seiner Freiheit und seines Selbstbewusstseins. In seinen vier Wänden ist er Herr seines Schicksals. Das Haus, in dem man wohnt, ist das Heim, in dem man den Druck der Außenwelt abschütteln kann. Und genau dort haben es sich die Cybermedien bequem gemacht. Bei den meisten haben sie sogar die Herrschaft übernommen: Der Fernseher läuft, die Computerschirme leuchten und das Smartphone summt Alarm. All dies besagt, dass das wahre Leben nicht zuhause, sondern woanders spielt. Und dass die menschliche Freiheit darin besteht, sie sich auf interessante und unterhaltsame Weise nehmen zu lassen.
Die Cyberwelt hat sich im Zuhause der Menschen festgekrallt. Bildschirm-Medien stellen das Gewünschte dar, dienende Medien warten auf Befehle, Amazon auf Bestellungen. Unwiderstehlich wirkt dabei, dass das Informationsuniversum der Außenwelt zum integralen Bestandteil des Innenbereichs wird. Wobei die Welt der Filme, Bilder, Musik, Bücher, Spiele von den Cybercorporations in ihr Imperium stillschweigend einverleibt wird. Was sich digital darstellen lässt, erscheint im Netz. Dass jemand das Copyright daran besitzt, interessiert das Silicon Valley nur nebenbei. Schlimmstenfalls sucht man mit den Rechteinhabern einen Vergleich. Dank dieser Piratenmentalität erhält der Nutzer Zugriff auf alles, wonach ihm der Sinn steht. Im Gegenzug bietet er den Cyberpiraten Zugriff auf alles, wonach ihnen der Sinn steht.
Die Firmen des Silicon Valley, deren wohlklingende Namen täglich in aller Munde sind, unterscheiden sich in ihrem Wesen nicht von den börsennotierten Auto-, Kühlschrank- oder Waschmittelmultis. Doch verfügen sie über eine Macht, die, wenn auch uneingestanden, selbst jene der Politik weit übertrifft. Washington gibt der Welt den Takt vor, aber das Silicon Valley gibt Washington den Takt vor. Obwohl ihm von keiner Gesellschaft ein Mandat dazu erteilt wurde. Corporations sind durch nichts legitimiert als durch sich selbst. Zwar sind sie nicht gewählt, aber dafür kann man unter ihren Produkten wählen. Und weil diese alles Interesse auf sich ziehen, ist Macht kein Thema. Dankbar nimmt der Bürger entgegen, was er zu essen, anzuziehen oder anzusehen hat. Und auch, wiewohl ahnungslos, wer er ist.
Das zutiefst Fragwürdige an der Geschäftsform der Corporation besteht darin, dass sie das Kapital einer unbegrenzten Zahl von Shareholders (Aktionären) zusammenfassen kann, ohne diese selbst in die Verantwortung zu nehmen. Ihr Gewissen haben sie einem abstrakten wertfreien Konstrukt abgetreten, das über keine moralische Instanz verfügt. Von Einzelmenschen gebildet, stellt die Corporation eine anonyme und gewissenlose Macht dar. Wörtlich bedeutet Corporation »Verkörperung«. Nach dem Gesetzgeber verkörpern die Anteilseigner die Firma. Sie wird dadurch quasi zu einem eigenen Körper, erfüllt von menschlichem Geist. Der so entstandene »Mensch« kann anderen Menschen auf Augenhöhe gegenübertreten. Als Legal Person (Rechtsperson) kommen ihm alle Rechte zu, die ein Staatsbürger besitzt: Recht auf eigenen Namen, Vertragsschließung, Prozessführung, Vermögensbildung, Weiterleben auch nach dem Tod der Eigner. Vor allem kann er das amerikanische Verfassungsrecht des Pursuit of Happiness ausüben, wonach jeder Bürger das Recht hat, »nach Glück zu streben«. Für Corporations besteht das Glück darin, nach Profit zu jagen.
Die Firmen legen Wert darauf, dass diese Jagd auch hierarchisch verankert wird. Die Stelle der Führungsfigur nimmt meist ein Pseudopersonenkult ein, der sich Corporate Identity nennt. »Die moderne Ehefrau weiß«, so schrieb ein sarkastischer Aldous Huxley 1958, »dass die erste Loyalität ihres Mannes seiner Corporation gilt.«31 Durch diese bedingungslose Treue bildet die gesamte Belegschaft die Verkörperung der Pseudoperson. Im Glauben an die Firma sollen sich alle gleich fühlen, ohne es in Wahrheit zu sein. Diese falsche Identität schenkt jedem das Gemeinschaftsgefühl, wonach er etwas Anderes und Größeres ist als er selbst. Weshalb er dies Andere, seine unsichtbare Uniform, höher schätzt als sich selbst. Das Großunternehmen mit seinen unübersehbaren Strukturen und seiner Mitarbeitermasse nennt sich gern Family. Wir, so lautet das Credo, sind wie eine Familie, deren Mitglieder sich ihrem Wohl mit Leib und Seele zur Verfügung stellen. Wer sich selbstlos eine Corporate Identity »anzieht«, ist tatsächlich sein Selbst los.
Auch Facebook betrachtet sich als Großfamilie. Nicht der Geburtstag jedes Mitarbeiters wird gefeiert, sondern der Tag, an dem er ins Unternehmen eingetreten ist. Man nennt ihn Faceversary (Facebook-Jahrestag). Als habe der Gefeierte in der Firma seine wahren Eltern gefunden und sei als neuer Mensch wiedergetauft worden. Der Kult der Corporate Identity geht in einigen US-Firmen so weit, dass die Angestellten uniformiert wie Scientology-Mitglieder auftreten und das Hosianna ihrer Produkte singen. Es ist ein weltumspannendes Hosianna: Wäre Facebook eine Nation, könnte sie sich die größte der Welt nennen. Wäre sie eine Sekte, müssten alle Konfessionen vor ihr zittern.
Nach uns die Sintflut
Berichte aus dem Innenleben des Social Media-Giganten sind spärlich. Ein Produktmanager, der mehrere Jahre für Facebook arbeitete, hielt es für »seltsam, dass das Unternehmen davon lebt, seine Nutzer auszuhorchen, seine eigene Privatsphäre aber mit Zähnen und Klauen verteidigt.«32 Der Mann, der trotz der Androhung von Millionenstrafen auspackte, arbeitete im Bereich Monetarisierung, in dem persönliche Daten der Nutzer gegen Höchstgebot in Geld verwandelt werden. Seinen Erinnerungen lässt sich entnehmen, dass zwischen Firma und Kultbewegung kaum mehr ein Unterschied besteht. Dass sich in jedem Kult ein Anspruch auf Weltherrschaft und Menschheitserlösung findet, muss nicht eigens betont werden.
Das Weltwunder Facebook basiert auf dem simplen Plattform-Trick: Es bietet seinen Usern die Gelegenheit, Inhalte zu posten, also der Plattform zur Verfügung zu stellen. Dann verkauft Facebook diese indirekt der Werbeindustrie als Köder, mit dem die Inhaltslieferanten eingefangen werden. So wird dem Facebook-Teilnehmer für die kostenlose Preisgabe seiner Liebesbotschaften, Hochzeits- und Babyfotos nachträglich die Rechnung in Form unerwünschter Werbung präsentiert. Während dem Opfer der Charade der Zusammenhang verborgen bleibt, verdient Facebook an dem versteckten Tauschgeschäft Milliarden. Da man nicht produzieren, sondern nur die Sache am Laufen halten muss, ist es auch leicht verdientes Geld. Während 2019 eine Firma wie Disney zur Erhaltung ihres Marktwerts von 180 Milliarden Dollar bis zu 185.000 Mitarbeiter beschäftigen musste, generiert Facebook zur gleichen Zeit einen Spitzenwert von 500 Milliarden mit nur 17.000 Mitarbeitern. Dank Corona-Pandemie stieg der Wert bis August 2020 sogar auf 744 Milliarden Dollar.
Auch der unvergleichliche Amazon-Erfolg von 1.783 Billionen an Marktwert, der die gesamte Waren- und Konsumwelt auf den Kopf stellt, verdankt sich dem Geschäftsmodell Plattform: Auf ihr werden die beiden Bereiche Einzelhandel und Logistik, die sonst getrennt sind, auf geniale Weise miteinander kombiniert: Amazon ist der Marktplatz, auf dem alle allen alles verkaufen können, und zugleich das Logistikzentrum, das allen alles Gekaufte vor die Tür bringt. Dank der bescheidenen Vermittlungsgebühr wurde der ebenso bescheidene Gründer Jeff Bezos fast nebenbei zum reichsten Mann der Welt, seine Firma zur wertvollsten weltweit.
Auch die neueren Welteroberer wie Uber oder Airbnb nutzen das Plattform-System. In ihrem Fall besteht der Trick darin, dass sie nicht die Vermittlung zwischen Kunden und Kunden wie Facebook oder zwischen Waren und Kunden wie Amazon anbieten, sondern zwischen Kleinunternehmern und Kunden. Sie versuchen nicht selbst, ihre Kunden zu bedienen, sondern engagieren Privatpersonen, die bereit sind, Kunden für die Plattform abzuschöpfen. Millionen von Uber- oder Airbnb-Mitarbeitern nehmen diesen Corporations die Arbeit ab. Und das mit dem täuschenden Gefühl, in die eigene Tasche zu wirtschaften.
Arbeits- und Materialaufwand von Millionen Kleinunternehmern bildet die Bonanza für diese Online-Corporations. Die größte Taxifirma weltweit besitzt kein einziges Taxi. Der größte Zimmervermittler verfügt über kein einziges Zimmer. Der aggressivste Online-Händler Ali Baba muss kein einziges Lager unterhalten.