Verloren im Cyberspace. Joachim Köhler

Verloren im Cyberspace - Joachim Köhler


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Superintelligenzen an der Hand geführt zu werden, fordert seinen Preis. Der Mensch ist, ob es ihm passt oder nicht, ins zweite Glied getreten. Und das Internet diktiert ihm, was es mit seiner untergeordneten Rolle auf sich hat. Schließlich wird er sich damit abfinden, der disruptiven Entwicklung weichen zu müssen. Zumindest in seiner jetzigen Form.

      Als ich Heidtmanns »Internet abschalten« auf dem Büchertisch liegen sah, fiel mir zuerst das Wort »abschalten« ins Auge. Dabei assoziierte ich nicht den unterbrochenen Stromkreis, sondern die Fähigkeit oder Unfähigkeit des Menschen, »einfach einmal abzuschalten«. Sich aus dem Weltbetrieb zurückzuziehen, Computer Computer sein zu lassen. Gelassenheit zu lernen. Ich fragte mich, ob ich selbst, nach jahrzehntelanger Gewohnheit, dazu fähig wäre. Als Antwort schrieb ich dieses Buch. Es wurde mein persönliches Abschalten.

      Dieses Abschalten oder Aussteigen, wie man es im letzten Jahrhundert nannte, ist keine Flucht. Man bringt nur in Sicherheit, was an einem noch menschlich ist. Sollte Freiheit ein Synonym dafür sein, könnte man das Abschalten eine Freiheitsbewegung nennen. Denn die Cyberwelt, die anfangs als ungeheure Dienstleistung für die Menschheit erschien, entpuppt sich als deren ungeheuerliche In-Dienst-Stellung. Während wir überzeugt sind, alles unter Kontrolle zu haben, werden wir rund um die Uhr kontrolliert. Als konditionierte Bedienelemente helfen wir der Cyberwelt sogar dabei. Wir gewinnen der Disruption Geschmack ab. Und schaffen uns selbst ab. Was bleibt, sind wir, die posthumane Menschheit. Und der Cyberspace als unsere schöne neue Smartphone-Welt.

      Magische Aktien

      Die Galionsfiguren dieser vollautomatisch gesteuerten Cyberwelt sind nicht, wie in Amerika üblich, angestellte CEOs in abgedunkelten Stretch-Limousinen. Es sind die Gründer selbst. Immer locker, lässig, jungenhaft: Technikgenies, die kein Wässerchen trüben können. Nur, dass sie die Aktienmehrheiten halten an den teuersten Corporations der Welt. In der Forbes-Liste der reichsten Milliardäre dieser Welt finden sich 2019 unter den ersten zehn vier Silicon Valley-Vertreter: An erster Stelle steht Amazons Jeff Bezos mit 131 Milliarden Dollar Vermögen. Bill Gates, der Microsoft-Gründer, bringt es im gleichen Jahr auf 96,5 Milliarden. Auf Rang 8 steht Facebook-Erfinder Mark Zuckerberg mit 62,3 Milliarden, und Google-Gründer Larry Page kommt abgeschlagen auf armselige 50,8 Milliarden.

      Dann kam Corona, das weltweite Desaster, das jeden mittelbar oder unmittelbar in Mitleidenschaft zieht. Nur die Big Five, ohnehin schon die reichsten Corporations der Welt, haben allen Grund zur Freude. Während weltweit die Infektionszahlen und Sterbefälle, die Arbeitslosenzahlen und Unternehmenspleiten in die Höhe schossen, konnte das Silicon Valley dies als Profit verbuchen. Die Welt wurde ärmer und kränker, das Silicon Valley reicher und mächtiger. Vor allem konnte es historisch nie gekannte Gewinne einstreichen, die sich auf hunderte Milliarden Dollar belaufen. Jeff Bezos Vermögen stieg bis August 2020 auf 188,5 Milliarden, Bill Gates folgte mit 113,6 Milliarden, Mark Zuckerberg besitzt 98,6 Milliarden und Larry Page verfügt nun über ganze 66,7 Milliarden.

      Dieser sagenhafte Gewinnsprung verdeutlicht einmal mehr, dass die wirkliche Welt und die virtuelle nicht parallel existieren. Letztere hat die Realität »verschluckt« und gewinnt im selben Maß, wie diese verliert. Das liegt auch an der Affinität zwischen dem digitalen und dem finanziellen Bereich. Beide basieren nicht auf der materiellen Welt, sondern auf deren Übersetzung in Zahlen. Jedes Ding ist eine Realität, aber es hat nebenbei oder auch hauptsächlich zwei in Zahlen ausdrückbare Werte: den Geldwert, also den Preis der Sache, und den in binären Zahlen verschlüsselten Code, die Information darüber. Was in der Welt zählt, sind die Zahlen. Wer über keinen Rechner verfügt, zählt nicht. Wer die Rechner beherrscht, regiert die Welt.

      Was zu Geldgier führte, hatte einmal vernünftig begonnen. Die jungen Elektroniktüftler des Silicon Valley, kaum ihren Buden und Garagen entstiegen, brauchten für ihre bahnbrechenden Erfindungen das nötige Fundament. Um Geld zu verdienen, braucht man vor allem eins, Geld. Man lieh es sich. Als Erster ging 1980 Apple an die New Yorker Börse, es folgten 1986 Microsoft, danach Amazon, Google und Facebook. Das Tal der Lebenslust war zum Eldorado von netten Aktienunternehmen geworden.

      Welche Macht sie ausüben, geht aus den Statistiken hervor. Vergleicht man etwa die Suchmaschinen, die von Milliarden Menschen dieses Planeten benutzt werden, und zwar unablässig, so laufen 90 Prozent aller Anfragen über Google. Dasselbe gilt für Facebook, das zusammen mit seinen kleineren Brüdern Instagram und Whatsapp 95 Prozent aller Nutzer unter dreißig Jahren beherrscht. Dass die Stanford-Kollegen Google und Facebook zusammen 90 Prozent der weltweiten Online-Anzeigen an sich ziehen, führt zu einer unangefochtenen Machtstellung, über die in den Firmen selbst nur ungern gesprochen wird. Rechnet man den Marktwert der Big Five zusammen, so übertrifft er den der französischen Volkswirtschaft. Von einigen hunderttausend Mitarbeitern wird mehr erwirtschaftet als von einem Volk von knapp 70 Millionen.

      Für Amerikas Arbeitsmarkt hat dieser Wertschöpfungsvorteil des Silicon Valley erhebliche Konsequenzen: So stemmen die Big Five zusammen mit Netflix ein Drittel der Wirtschaftsleistung der USA. Doch beschäftigen sie nur ein Prozent der Erwerbstätigen. Auch dies ein Grund, warum Hi-Tech seine globale Dominanz immer weiter ausbaut. Zudem ist die Macht dieser Monopolisten krisenfest. Für die Menschheit sind sie längst zum Lebensmittel geworden. Als die Aktienmärkte während der Corona-Pandemie in die Tiefe rauschten, kletterten die Big Five in ungeahnte Höhen. Seitdem werden ihre Wertpapiere von den Börsianern ehrfürchtig als »Magic Stocks« (Magische Aktien) bezeichnet.

      In der »New York Times« beklagte Facebook-Mitbegründer Chris Hughes, diese Machtakkumulation habe sich zu einer Bedrohung der Demokratie und überhaupt der menschlichen Freiheit ausgewachsen. »Marks Einfluss«, so Hughes 2019 über seinen einstigen Freund Zuckerberg, »ist atemberaubend. Er geht weit über den jedes Politikers hinaus.« Das hängt auch damit zusammen, dass Zuckerberg selbst »über die Konfiguration von Facebooks Algorithmen entscheidet, die wiederum darüber entscheiden, was Nutzer in ihrem Newsfeed zu sehen bekommen. Diese Algorithmen«, so Hughes weiter, »können unsere Kultur verändern, Wahlen beeinflussen, nationalistische Führer an die Macht bringen.«

      Facebook hat auch dank seiner Tochterfirmen diesen Einfluss auf die ganze Welt ausgedehnt. Im Mai 2020 bediente Zuckerbergs Imperium 2,6 Milliarden Nutzer, ungefähr ein Drittel der Weltbevölkerung. Laut Hughes hat Zuckerberg diese singuläre Macht von Anfang an angestrebt. »Zur Beschreibung seiner Ambitionen«, so der Ex-Facebook-Chef, »benutzte Zuckerberg das Wort Domination (Herrschaft).« Zweifellos ist er damit überaus erfolgreich gewesen. Die Social Media-Welt wird von Facebook ebenso dominiert wie die der Suchmaschinen von Google. Pro Sekunde bearbeitet diese Supersuchmaschine 40 Millionen Fragen, deren jede von Algorithmen individuell beantwortet wird. Um seine verschiedenen Sparten unter einen Hut zu bringen, hat Google sich 2015 den Namen »Alphabet« zugelegt. Hatte das griechische Alphabet die Basis der abendländischen Kultur gebildet, war das Firmenkonglomerat nun zum Beherrscher der Weltkultur aufgestiegen. Für die Gegenwart und auch für die Zukunft. Das Silicon Valley, so der Wissenschaftsjournalist Thomas Ramge, träumt bereits von einer »technischen Vorherbestimmung der Menschheit«.23

      Jedenfalls ist die Welt durch die Mega-Corporation Google so durchsuchbar und damit durchsichtig geworden wie nie zuvor. Überspitzt könnte man sogar sagen, dass Google die Durchsuchbarkeit und Transparenz der Welt erst erfunden hat. Natürlich gab es schon immer Lexika, aber was in ihnen gedruckt war, gehörte bereits bei der Lektüre der Vergangenheit an. Hier dagegen ist es die Gegenwart, die sich durch Googles Antwortmaschine sozusagen selbst zu Wort meldet. Jede Meldung erscheint in Form eines Berichts, aus dem der User seine Schlüsse ziehen kann. In einem Unternehmen wird die Beziehung zwischen Vorgesetztem und Untergeordnetem mit den Worten ausgedrückt, dass dieser dem Chef »berichtet«. Bei Google ist jeder User ein Chef, denn ihm muss die ganze Welt »berichten«. Und das erreicht man ohne den geringsten Kraftaufwand. Dass er gleichzeitig der Plattform unfreiwillig über sich selbst berichten muss, wird verschwiegen.

      Jeder Suchdienst reklamiert für sich Allwissenheit. Das heißt, was man wissen kann in diesem Universum, ist bei ihm gespeichert und abrufbar. Vielleicht deshalb trug einer der ersten Suchdienste, Yahoo!, den Namen des alttestamentlichen Gottes Jahwe, der ebenso ausgesprochen werden kann. Netanjahu etwa bedeutet »Gott hat gegeben«.


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